E-Book, Deutsch, 270 Seiten
Imhoff Die Psychologie der Verschwörungstheorien
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8444-3179-7
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von dunklen Mächten sonderbar belogen...
E-Book, Deutsch, 270 Seiten
ISBN: 978-3-8444-3179-7
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was ist eine Verschwörungstheorie? Wer glaubt daran und warum? Welche Folgen ergeben sich daraus für Gesellschaft, Politik, Gesundheit und Social Media? Der Band betrachtet das Phänomen des Verschwörungsglaubens aus verschiedenen psychologischen Blickwinkeln und stellt diese in einen interdisziplinären Diskurs. Leserinnen und Leser erhalten so einen Überblick über die aktuelle Forschung zu Verschwörungsnarrativen, inklusive der so wichtigen Widersprüche, Uneinigkeiten und Debatten.
Der erste Teil des Bandes beleuchtet die kognitiven Grundlagen von Verschwörungstheorien und den Einfluss von kognitiven Verzerrungen. Es wird der Frage nachgegangen, wie ein verschwörungstheoretisches Weltbild im Lebensverlauf entstehen kann. Zudem wird die Rolle von Verschwörungsglauben im politischen Diskurs, den sozialen Medien und in Bezug auf das persönliche Gesundheitsverhalten diskutiert. Auch wird auf Möglichkeiten und Grenzen von Interventionen gegen Verschwörungsglauben eingegangen. Im zweiten Teil des Bandes werden diese psychologischen Perspektiven in eine produktive Reibung mit anderen Fächern gebracht. Beiträge aus Philosophie, Geschichtswissenschaft, Linguistik und Kommunikationswissenschaft beleuchten die psychologischen Überlegungen kritisch oder reflektieren die Begrenztheit der psychologischen Methoden. Den Abschluss bildet ein Beitrag zur weltanschaulichen Beratung von Verschwörungsgläubigen und ihren Angehörigen. Der Band vermeidet vorschnelle Vereinfachungen und verfolgt das Ziel, das Phänomen des Verschwörungsglaubens in all seinen Nuancen zu begreifen und weder in die Falle zu tappen, Verschwörungsglauben und seine Konsequenzen a priori zu verdammen, noch diesen zu verharmlosen.
Zielgruppe
Psycholog_innen, Mitarbeiter_innen von Sicherheitsbehörden, zivilgesellschaftliche Initiativen aus der politischen Bildung und Sozialarbeit, interessierte Laien.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Sprachwissenschaft Sprachwissenschaften
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Sozialpsychologie
- Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie: Allgemeines, Methoden
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Kognitionspsychologie
- Sozialwissenschaften Medien- und Kommunikationswissenschaften Kommunikationswissenschaften
Weitere Infos & Material
|11|1 Von der Verschwörung zur Theorie, dem Glauben, der Mentalität und wieder zurück – Verschwörungstheorien als psychologisches Forschungsfeld
Roland Imhoff
Verschwörungstheorien oder der Glaube daran galten lange nicht wirklich als zentrales Thema wissenschaftlicher Forschungsfragen. Sie führten in den meisten westlichen Nachkriegsgesellschaften weitestgehend ein kulturelles Nischenleben – von raunenden Flugblättern bis hin zu Hollywood-Blockbustern wie Oliver Stones „JFK“. Zwar gab es immer Menschen, die von den Illuminaten, den Rothschilds, ja, der jüdischen Weltverschwörung halluzinierten, aber als ernsthaftes Forschungssujet galt dies nicht. Dies hat sich innerhalb der letzten 10 Jahre rapide gewandelt. Die Psychologie der Verschwörungstheorie ist eines der hot topics der Psychologie geworden, große Forschungsförderungen wurden für das bessere Verständnis des Themas ausgeschüttet und eine thematische Sonderausgabe renommierter Fachzeitschriften jagt die nächste. Dies hat mit vielen Dingen zu tun. Einerseits sind Verschwörungstheorien im Web 2.0 sichtbarer geworden. Ob ihre Anzahl und Verbreitung quantitativ zugenommen haben oder ob sie sogar mehr Anhänger:innen finden, ist dabei gar nicht so leicht feststellbar (vgl. Kapitel 10). Jedoch, trotz allem Geraune von Echokammern, stoßen viele Menschen erst durch das Internet auf Phänomene, die in prä-digitalen Zeiten in eigenen, nicht so leicht zugänglichen gesellschaftlichen Nischen stattfanden. Gesellschaftliche Relevanz wird Verschwörungstheorien zugeschrieben, weil vermutet wird, dass sie ursächlich für eine Reihe problematischer Verhaltensweisen sind. Menschen, die glauben, hinter der COVID-19-Pandemie stecke in Wirklichkeit eine Verschwörung, hielten sich weniger an Abstandsgebote und Maskenpflichten und ließen sich seltener impfen (Bierwiaczonek et al., 2022). Weltweit waren Proteste – zum Teil auch gewalttätige – gegen infektionseindämmende Maßnahmen von verschwörungstheoretischer Rhetorik begleitet. Ein von Behauptungen über einen angeblichen Stimmenklau aufgestachelter Mob von Anhänger:innen des ehemaligen Präsidenten Donald Trump versuchte im Januar 2021 die Bestätigung seines Präsidentschaftsnachfolgers zu stören, indem sie das US Kapitol stürmten. Zahlreiche terroristische Attentäter hinterließen Pamphlete, in |12|denen ein nahezu geschlossenes verschwörungstheoretisches Weltbild erkennbar wurde – von den Anschlägen in Oslo und auf der Insel Utøya durch Anders Breivik im Juli 2011 bis zum rechtsextremen Terrorakt in Hanau am 19. Februar 2020. Das Image von Verschwörungstheorien hat sich also gewandelt von einer belächelten, häufig bizarren Behauptung okkulter Vorgänge hin zu einer Bedrohung demokratisch-westlicher Werte und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Dies ist unter anderem deshalb bemerkenswert, weil Verschwörungstheorien und auch das ihnen innewohnende Potenzial, menschen- und demokratiefeindliche Stimmungen anzufachen, keineswegs eine neue Erscheinung sind. Die von der nationalsozialistischen Propaganda aufgegriffene und vervielfachte Mär einer jüdischen Weltverschwörung, die letztendlich die industrielle Vernichtung von Millionen Jüd:innen als Notwehr zu rechtfertigen sucht, ist hier nur ein besonders drastisches und verheerendes Beispiel. Verschwörungstheorien benennen Schuldige und lenken so die Aufmerksamkeit und auch die Schuld weg von systemischen Problemen oder Zufällen hin zu Individuen, ihren Entscheidungen und geheimen Plänen. Damit bringen sie immer die Möglichkeit ins Spiel, Schlechtes aufzuhalten, indem den verursachenden Strippenzieher:innen das Handwerk gelegt wird – ganz ohne strukturellen Wandel. Diese Denkfigur identifizierte auch Karl Popper (1956) im von ihm beklagten Vulgärmarxismus, eine Spielart linker Bewegungen also, die statt einer ernsthaften Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung eine „Verschwörungstheorie der Gesellschaft“ pflegten, in der negative Dinge passieren, weil sie von mächtigen Eliten geplant wurden. So werden gesellschaftlich komplexe Phänomene und Probleme – von Globalisierung über Migration und Arbeitslosigkeit bis hin zu Pandemien – nicht mithilfe von Eigendynamiken oder zufälligen Prozessen erklärt, sondern als Resultat eines allumfassenden Plans.
Genau dies ist die Minimaldefinition einer Verschwörungstheorie, die sich auch die Taskforce Verschwörungstheorien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs; Imhoff et al., 2022b) gegeben hat: „Eine Verschwörungstheorie erklärt ein Ereignis oder einen Umstand durch geheime Absprachen einer Gruppe von Personen zu deren Vorteil und dem Schaden der Allgemeinheit.“
Einiges an dieser Definition ist erläuterungswürdig. Zuerst einmal wird von Verschwörungstheorien gesprochen, nicht von -mythen, -erzählungen oder anderen vorgeschlagenen alternativen Begriffen. Kritiker:innen des Begriffes Verschwörungstheorie führen oft an, er würde damit meist unzutreffende und häufig menschenverachtende Behauptungen adeln, indem er sie in den Stand von Theorien erhebe und damit das Antlitz von Wissenschaftlichkeit und Akkuratheit verleihe. Dem ist auf zwei Arten zu begegnen. Einerseits konzeptuell: Es ist keineswegs so, dass alles, was in der Wissenschaft als Theorie firmiert, notwendigerweise wahr, widerspruchsfrei und formalisiert oder auch nur empirisch testbar und entsprechend falsifizierbar ist. Jimmy Carter soll angeblich gesagt haben: „Eine Theorie ist eine Vermutung mit Hochschulbildung“. Andererseits empirisch: Verschwö|13|rungsgläubige fühlen sich keineswegs geadelt oder bestätigt, wenn man ihre Behauptungen als Verschwörungstheorie bezeichnet – im Gegenteil, sie sehen darin einen Kampfbegriff der CIA zur gezielten Diskreditierung der Behauptungen (Nera et al., 2020) oder sind entrüstet, dass es sich angeblich „nur“ um eine Theorie handeln soll, wo es doch die Wahrheit ist. Umgekehrt ist auch die gegenteilige Befürchtung, die Bezeichnung als Verschwörungstheorie würde eine Vermutung diskreditieren und zu weniger Zustimmung führen, empirisch nicht haltbar. Die Bezeichnung hat keinen nachweisbaren Effekt (Wood, 2016).
Eine Verschwörungstheorie ist also die Behauptung an sich. Dieser kann man zustimmen oder nicht. Darin spiegelt sich der jeweils individuelle Verschwörungsglauben. Dieser beschreibt eine psychologische Variable, nämlich das Ausmaß, in dem ein Mensch einer Verschwörungstheorie zustimmt. Tatsächlich zeigen sehr viele Befunde, dass Menschen sich relativ robust und stabil darin unterscheiden, ob sie Verschwörungstheorien zustimmen. Menschen, die Verschwörungstheorie A zustimmen, stimmen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch Verschwörungstheorie B zu, auch wenn die beiden keinen Bezug zueinander haben. Frühe Forschung vermutete hier eine gegenseitige Stützung am Werk, ein sogenanntes monologisches Glaubenssystem (so der Begriff in Goertzel, 1994). Jede Verschwörungstheorie stütze jede weitere, weil sie zum Beispiel ähnliche Machenschaften, ähnliche Akteur:innen oder ähnliche dahinterstehende Mächte unterstellt. Diese Annahme gegenseitiger Stützung kommt jedoch an ihre Grenzen, wenn erklärt werden soll, wieso die gleichen Menschen tendenziell zwei unterschiedlichen Verschwörungstheorien zustimmen, die sich logisch eigentlich ausschließen. Solche widersprüchlichen Verschwörungstheorien beinhalten zum Beispiel, dass Lady Di vom britischen Geheimdienst ermordet wurde und ihren Tod nur vorgetäuscht hat (Wood et al., 2012) oder dass COVID-19 gar nicht existiert und eine gefährliche Biowaffe ist (Imhoff & Lamberty, 2020). Dies hat einige Autor:innen zu der Annahme geführt, dass es eine allgemeine Weltsicht gibt, Verschwörungen am Werk zu vermuten oder nicht, die dann jeweils nur angewendet wird auf konkrete Ereignisse oder Phänomene (Imhoff et al., 2022a). Einer der Begriffe, der sich für diese Weltsicht durchgesetzt hat, ist der der Verschwörungsmentalität (Imhoff & Bruder, 2014; Moscovici, 1987). Die Taskforce der DGPs schreibt: „Eine allgemeine Neigung von Personen, sich die Welt über Verschwörungstheorien zu erklären, bezeichnet man als Verschwörungsmentalität.“
Diese begrifflichen Definitionen von Verschwörung (eine vorgebliche geheime Absprache), Verschwörungstheorie (eine Annahme über eine solche Absprache), Verschwörungsglauben (die Zustimmung zu einer oder mehreren Verschwörungstheorien) und Verschwörungsmentalität (die generelle Neigung, Verschwörungstheorien zuzustimmen)...