E-Book, Deutsch, 246 Seiten
Kauer Feministisch lesen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8233-0509-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Einführung mit Lektüretools und Textbeispielen
E-Book, Deutsch, 246 Seiten
Reihe: narr STUDIENBÜCHER LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT
ISBN: 978-3-8233-0509-5
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Literatur, nicht nur die klassische, sondern sehr augenscheinlich auch die der Gegenwart, zeichnet ein buntes Bild von Geschlecht, das mit den herkömmlichen, patriarchalisch geprägten ,Lektürebrillen' nicht richtig erfasst werden kann. Obwohl die Gender Studies im akademischen Diskurs inzwischen eine wichtige Rolle spielen, hinkt eine praktisch orientierte Genderanalyse dem theoretischen Diskurs hinterher. Dieses Studienbuch zeigt anschaulich, wie hilfreich Gender Studies für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit einzelnen Texten sein können, und nimmt Fragen in den Blick, die die Literatur in Bezug auf geschlechtlich basierte Anerkennungsprozesse stellt. Im Zentrum stehen praktische Lektüretools, die an konkreten gegenwartskulturellen Textbeispielen vorgestellt werden. Sie machen Bedeutungsebenen der Texte sichtbar, die sonst verborgen bleiben, und helfen, scheinbare Aporien und Widersprüche in der Figurierung zu erklären. Das Buch ist die erste Monografie im germanistischen Bereich, die diese Art von Lektüretools entwickelt.
PD Dr. Katja Kauer ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf Gender- und Queer Studies. Sie vertritt im akademischen Jahr 2024/25 zum Teil die Professuren für die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts am Deutschen Seminar und die Professur für Gender Studies am Englischen Seminar der Universität Tübingen. Einen Schwerpunkt ihrer Arbeit bilden philosophische Fragestellungen in ihren populärkulturellen Zusammenhängen. 2019 ist von ihr das Studienbuch Queer lesen erschienen, 2022 Verzweiflung im 18. Jahrhundert. Derzeit arbeitet sie an der Re-Visitation des Kanons und zum Liebesdiskurs zwischen Früher Neuzeit und Gegenwart.
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Vorwort
Scarborough, 1. August 2023. Es ist ein verregneter Sommertag in Mittelengland, einem ehemaligen ‚viktorianischen Kurort‘, wie es heißt. Hier lässt sich Anne Brontës Grab finden, der Ort liegt somit auf der Karte einer gynozentrischen Literaturgeschichtsschreibung, allerdings waren es nicht die Texte der Brontës, die mich zu dem folgenden Buch inspiriert haben. Nach anstrengenden und zeitraubenden Korrekturarbeiten am Buch, was bekanntlich zu den eher unerfreulichen Aufgaben nach Abschluss eines Manuskripts gehört, gönne ich mir noch den Besuch des Barbie-?Films (Regie: Greta Gerwig, USA 2023), der, zumindest in Deutschland, vor zwei Wochen angelaufen ist und den ich bisher noch nicht die Zeit gefunden hatte zu sehen. Einige meiner Freundinnen waren schon drin, ich will ihnen nicht länger nachstehen. Obwohl der Film in Scarborough unter der Woche mehrfach am Tag gezeigt wird, die Stadt nicht besonders groß ist, ist auch diese 17-Uhr-?Vorstellung sehr gut besucht. Menschen unterschiedlichen Geschlechts und Alters drängen sich in den Kinosaal. Ich möchte den Besuch des Films nicht empfehlen oder gar für die Lektüre des Buches voraussetzen. Es handelt sich um eine komödiantische Dekonstruktion des Barbie-?Mythos. Wem der Feminismus dieses Machwerks fragwürdig erscheint, wird gute Gründe dafür finden. Barbie hat sich zwar von den vor der zweiten Welle der Frauenbewegung als zentral geltenden Eigenschaften wie Fürsorge und Mütterlichkeit emanzipiert, ihr Erfolg beruht aber auf dem Besitz eines schön ausgestalteten Körpers. Sie ist das, was wir eine postfeministische Gestalt nennen könnten, denn sie zeigt sich einerseits als feministischen Idealen verpflichtet, doch anderseits stellt erst einmal nur ihr Äußeres die Hauptquelle ihrer Identität dar, was anti-?feministisch anmutet. Dieser sogenannte Postfeminismus, wie er uns seit mehr als 20 Jahren medial begegnet, besteht darin, dass sich Frauen zwar bestimmte Errungenschaften der Frauenbewegung (zum Beispiel ökonomische Autonomie) zu eigen machen konnten, jedoch nur, um ihre gewonnene Autonomie dann an die weibliche Rollenkonformität im Patriarchat (die Rolle des sexuellen Objekts) zu verraten, was als Freiheit, Wahl usw. annonciert wird. Die scheinbare Freiheit einer Barbie, alles zu sein und zu tragen, was sie will, ist genau betrachtet eine völlige Unfreiheit und ein selbstgewähltes Einfrieren auf die Rolle des Beschauungsobjekts im male gaze, obwohl faktisch natürlich vor allem Mädchen sie beschauen und bestaunen, und kaum erwachsene Männer mit ihr spielen. Das Barbie-?Universum wird jedoch filmisch so artifiziell und wirklichkeitsfremd ausgestaltet, dass wohl niemand der neoliberalen Utopie von Barbies als Präsidentinnen, Geschäftsfrauen, Wissenschaftlerinnen usw., die alle supersexy aussehen und supererfolgreich sind, einen ernstgemeinten feministischen Gehalt zuschreibt, zumal der Film offen ausspricht, dass jenseits der Spielzeugwelt nicht allen Frauen alles so einfach möglich ist. Der Feminismus ist nicht in Barbies Plastikwelt zu suchen, aber in der Dramaturgie des Filmes findet er sich m. E. dann doch. Denn tatsächlich sehe ich eine Koinzidenz zwischen dem Abschluss von Feministisch lesen und diesem Kinobesuch. Denn auch, wenn es sich nur um einen populären Hollywoodfilm handelt, der Film mitnichten kapitalismuskritisch ist und die Diversität der Figuren zu wünschen übriglässt, sah ich doch einen typischen Frauenfilm – in einem nicht abschätzigen Sinn des Wortes. Ja, ich möchte sagen, Barbie ist ein gynozentrischer Film. Darin geht es nicht um Heterosexualität, um männliche Helden, sondern die Handlung kreist darum, was es heißt, als weiblich gelesen zu werden. Der Film behandelt weibliche Selbstwahrnehmung, Selbstentwürfe, die weibliche Selbstobjektifizierung, den male gaze; im Zentrum stehen homosoziale Beziehungen zwischen Frauen, und die Frage, wie Frauen sich finden und wie sie einander spiegeln. Weder die männlichen Helden noch die heterosexuelle Beziehung bilden einen Fokus. Die weibliche Hauptfigur wird nicht durch das männliche Gegenüber (Ken) definiert, nein im Gegenteil, sie überstrahlt ihren männlichen Partner in jeder Hinsicht. Ken gibt es nur, weil es Barbie gibt, nicht anders herum. Ein Leading Man (ein klassischer Hauptdarsteller) im Hollywoodkino der Gegenwart zu sein, wie es der Darsteller von Ken, Ryan Gosling, zweifellos ist, bedeutet auch, Rollen annehmen zu können, die gängige Männlichkeitskonstrukte ins Lächerliche verkehren und in denen er sich von Schauspielerinnen wie Margot Robbie überstrahlen lässt. Ein Leading Man der Gegenwart muss in der Lage sein, Männerrollen zu spielen, die jeder phallischen Qualität entbehren. Willkommen im Kino des 21. Jahrhunderts! Es geht in diesem Film um eine, so gefährlich diese Attribuierung auch ist, weibliche Weltanschauung, also um etwas, das bisher nicht das Hauptinteresse der medialen Produkte in einer patriarchalen Gesellschaft ausmachte – und nebenbei bemerkt auch nicht das Hauptinteresse germanistischer Literaturrezeption. Mit Barbie wird Weiblichkeit gefeiert, hinterfragt und umgedeutet. Männer und Männlichkeitsbilder sind erfrischenderweise, ich sagte es schon, nur Randerscheinungen. Ein heterosexuelles Happy-?End wird zugunsten der weiblichen Selbstfindung völlig ausgespart, aber auch nicht vermisst. Barbie wird sie selbst, nicht Teil eines romantischen heterosexuellen Paares, wohl aber lebendiger Teil einer Frauenfreundschaftsbeziehung. Der Film erweist sich als so publikumswirksam, dass er Besucher*innenrekorde brach. Ich bin nicht so naiv, eine Rezeption meines Bandes zu erwarten, die die Rekorde am wissenschaftlichen Buchmarkt bricht. Wohl aber weiß ich, dass Feministisch lesen demselben Zeitgeist wie der Barbie-?Film entstammt. Es besteht der Wunsch danach, sich konkret und kreativ mit bestehenden Weiblichkeitsbildern auseinanderzusetzen, ihre patriarchalische Deformation zu hinterfragen und bestimmte Aspekte von Weiblichkeitsdarstellungen neu und positiv zu lesen. Der Barbie-?Film erweist sich als eine neue Lesart einer künstlich geschaffenen Frauenfigur, die wie ein Fetischobjekt aussieht, aber von der durch die Autor*innen des Films mehr erzählt wird und in die mehr hingedeutet werden kann als die Tatsache, dass die Proportionen von Barbiepuppen die Vorstellung von attraktiver Weiblichkeit völlig verzerren können und schier absurd sind. Wohlwollend lässt sich vielleicht sagen, dass die Dramaturgie, den herkömmlichen feministischen Diskursen gemäß, die der zweiten Welle der Frauenbewegung zu verdanken sind, auf ein Consciousness Raising/eine Bewusstseinsbildung zielt, die zum Abbau von Konflikten zwischen Frauen (im Film zum Beispiel ein klassischer Mutter-?Tochter-?Konflikt) führt. Durch Consciousness Raising werden weibliche Probleme nicht als isoliert und persönlich betrachtet, sondern systematisch, nämlich als Formen von patriarchalischer Unterdrückung behandelt. Feministisches Bewusstsein zu schärfen bedeutete während der zweiten Welle der Frauenbewegung, sich mit den Fragen anderen Frauen zu identifizieren und sich, trotz aller Verschiedenheit unter Frauen, miteinander gegen das Patriarchat zu solidarisieren. Diese Solidarität ist nun nicht mehr ein Zeichen von marginalisierten Gruppen (Feminist*innen, Lesben etc.), sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die Stärke und Schönheit von weiblich-?weiblicher Solidarität ist auch heute noch (oder gerade heute wieder, wenn wir uns die Gegenwartsliteratur anschauen) ein beliebtes Motiv in der „Frauenliteratur“. Diese hat sich von der romantischen Liebesgeschichte zwischen Mann und Frau zusehends emanzipiert, andere Beziehungen und Lebensprojekte werden dort gleichberechtigt verhandelt, andere Frauen werden von der Hauptfigur nicht immer nur als Konkurrentinnen, sondern als wichtige Partnerinnen, Freundinnen, Vorbilder begriffen. Der Wunsch nach feministischen Lesarten und Weltanschauungen, nach einem Hinterfragen postfeministischer Schöntuerei, zeigt mir Barbie, ist eben auch Hollywood nicht mehr fremd, und tatsächlich ließen sich an dem Filmwerk einige Tools, die ich in diesem Band vorstellen werde, erproben. Das, was ich als ‚internalisierte Misogynie‘ und als ‚triple entanglement‘ in den folgenden Kapiteln konzeptualisiere, lässt sich auch dort finden, besonders auffällig wird jedoch das raumgreifende Thema der Homosozialität, weiblich-?weibliches Bonding, verhandelt; etwas wie homosoziale Romantik trägt diesen Film – und begeistert dessen Publikum. Es wäre mir eine große Freude, wenn Feministisch lesen dazu dienen könnte, dass wir Weiblichkeit begeisterter rezipieren, uns kritisch, aber nicht abschätzig der Darstellung von Frauenfiguren in der Gegenwart stellen können und die Widersprüche, die weibliche Figuren offenbaren, besser verstehen. Das Buch soll helfen, uns unserer unconscious bias, unserer unbewussten Vorurteile, die wir über Weiblichkeit erlernt haben, bewusst zu werden, damit wir die Chance ergreifen können, patriarchalische Ressentiments dort aufzudecken und zu kritisieren, wo wir sie nicht vermutet haben. Ich danke allen, die mich bei der Fertigstellung des Buches unterstützt haben, vor allem den Teilnehmer*innen meiner Lehrveranstaltungen (u. a. in Tübingen, Fribourg), in denen ich seit mehreren Semestern einige Tools an den hier erwähnten literarischen Beispielen, aber auch an anderen Texten, erprobt, gelehrt und weiterentwickelt habe. Die Resonanz auf meine Konzepte hat mich bewogen, sie niederzuschreiben, um sie weiteren Studierenden zugänglich zu machen. Ich...