E-Book, Deutsch, 80 Seiten
Kielholz Demografie und Zukunftsfähigkeit
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-907291-20-7
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Politische und ökonomische Herausforderungen einer alternden Gesellschaft
E-Book, Deutsch, 80 Seiten
ISBN: 978-3-907291-20-7
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Walter Kielholz (* 1951) wurde 1998 in den Verwaltungsrat von Swiss Re gewählt und ist seit 2009 deren Präsident. Von 1997 bis 2002 führte er den globalen Rückversicherer als Chief Executive Officer. Zudem nahm er Einsitz im Verwaltungsrat der Credit Suisse Group AG und war dort Präsident von 2003 bis 2009. Kielholz ist Vizepräsident des Institute of International Finance und Mitglied des European Financial Services Round Table sowie Stiftungsrat von Avenir Suisse und Präsident der Zürcher Kunstgesellschaft.
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2.
Demografische Trends
«Die Schweizer Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten unabhängig von der Zuwanderung deutlich altern.»2 Eigentlich müssten Politiker diese Erkenntnis aus einer Studie des Bundesamts für Statistik (BFS) zur «Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2015–2045» als Weckruf und Aufforderung zu handeln verstehen. Die Realität sieht anders aus. Weder in der Schweiz noch in irgendeinem anderen Industriestaat sind bislang langfristige und wirklich transformierende Initiativen auf den Weg gebracht worden, um unsere Gesellschaft auf diese Zukunft vorzubereiten. Der Hauptgrund für die zögerliche Haltung der politisch Verantwortlichen gegenüber diesem Thema ist sicher der lange, mehrere Generationen umfassende Zeithorizont. Menschen denken generell kurzfristig, Politiker oft nur bis zur nächsten Wahl. Ein weiterer Grund für die Passivität der Gesellschaft gegenüber dieser für sie so entscheidenden Zukunftsfrage ist, dass die künftige demografische Entwicklung abhängt von Hypothesen, die stark divergierend diskutiert und eingeschätzt werden – das Spektrum reicht von Optimismus und Pessimismus bis hin zur Verdrängung. Die damit verbundene Unsicherheit gibt Spielraum für taktisch motivierte Ausreden und Untätigkeit. Dadurch tragen wir das Problem immer weiter vor uns her, was die Situation nur verschlimmert. In dieser Hinsicht ist die Diskussion über die demografische Entwicklung jener über den Klimawandel nicht unähnlich. Ausgerechnet die drängendsten und dringlichsten Fragen der Zukunft werden weiter in die Zukunft verschoben, wo doch entschiedenes Handeln in der Gegenwart angezeigt wäre.
Bei alledem ist festzuhalten, dass eine zunehmende individuelle Lebenserwartung und die Erhaltung einer guten Fitness bis ins hohe Alter grundsätzlich etwas sehr Erfreuliches sind. Sie bilden eine medizinische Leistung und einen humanen wie auch sozialen Fortschritt, auf den die moderne Gesellschaft zu Recht stolz sein kann. Und dies ist nicht nur der Entwicklung der biologischen und medizinischen Wissenschaften und den Technologien seit dem 18. und 19. Jahrhundert zu verdanken. Man kann wohl sagen, dass die Verbesserung und Verlängerung der Lebensqualität, dass die Sorge um das Leben und die Pflege der körperlichen sowie mentalen oder seelischen Gesundheit seit je Konstanten der Menschheitsgeschichte sind. Ich kann mich hier nicht mit der Frage beschäftigen, welche Probleme aus ethischer und weltanschaulicher Sicht durch die noch nicht absehbare weitere Erhöhung der individuellen Lebenserwartung entstehen könnten. Mein Fokus liegt klar auf der demografischen Alterung und ihren Auswirkungen auf die Subsysteme der Gesellschaft. Was aber die individuelle und die demografische Dimension verbindet, ist die Einsicht, dass wir nicht immer älter werden und so den bisherigen Begriff von «Generation» sprengen können, ohne die Bewältigung der damit verbundenen gesellschaftlichen Veränderungen anzupacken. Oder wie man das auch formulieren könnte: Dem medizinischen Fortschritt mit Bezug auf das Altern muss ein politischer und gesellschaftlicher Fortschritt folgen. Entsprechende Anpassungen können vermeiden, dass die demografischen Herausforderungen Konflikte zwischen den Generationen und Verteilungskämpfe mit potenziell katastrophalen Folgen generieren. Noch gibt es Lösungen und Möglichkeiten, die Entwicklungen in positive Bahnen zu lenken. Intellektuell ist dies einfach und schnell gesagt; politisch ist es zu einem Problem geworden. Und das lässt sich weltweit beobachten.
Internationale Perspektive
Wenden wir uns nun den Fakten zu. Auf der globalen Ebene ist die «Population Division» der Vereinten Nationen (UNO) für ein globales Referenzszenario zur Bevölkerungsentwicklung zuständig. Auch hier erwarten die Statistiker, dass die Bevölkerungsgruppe der 65-Jährigen und Älteren weiter am stärksten anwachsen wird.3 In allen Regionen der Welt altert die Bevölkerung, mit gravierenden Folgen – vor allem auch in Asien, wo aus einer kurzfristigeren Perspektive noch immer ein Wachstum mit positiven Effekten für die Weltwirtschaft erwartet wird.
Laut der UN-Weltbevölkerungsstatistik steht uns längerfristig aus demografischer Sicht das Schlimmste noch bevor (Abbildung 2). Bis 2035 wird sich die Anzahl der Alten (hier und im Folgenden definiert als Personen von 65 Jahren und älter) fast verdoppeln, auf dann über 1,15 Milliarden Menschen; 2015 waren es noch 608 Millionen. Im Jahr 2035 wird also ein Achtel der Menschheit 65 Jahre und älter sein. Wie Abbildung 2 zeigt, wächst dieser älteste Teil der Bevölkerung in allen Regionen der Welt am stärksten. In Afrika, Asien und Nordamerika wird sich die Zahl der Menschen über 65 fast verdoppeln, in Europa ist das Wachstum dieser Altersgruppe im Vergleich zu anderen Regionen weniger gross. Letzteres liegt vor allem daran, dass die europäische Bevölkerung in diesem Prozess der Alterung bereits weiter fortgeschritten ist.
Wenn man sich nun fragt, wer diesen Menschen ihre Renten finanzieren soll, muss man die arbeitende Bevölkerung zwischen 20 und 64 Jahren analysieren. Dieser Teil stagniert oder schrumpft in den meisten Industrieländern während des betrachteten Zeitraums. Dabei sieht man, dass wir schon ganz schön grau sind, und wie aus Abbildung 2 ersichtlich wird, wächst der Anteil der «Grauen» in der Schweiz schneller als im Rest Europas. Die Schweiz erfährt in den nächsten zwei Jahrzehnten eine relativ schnellere Alterung und muss sich dementsprechend besonders anstrengen, um mit dieser gesellschaftlichen Veränderung umgehen zu können.
Altersquotienten im Vergleich
Wenn wir auch den sogenannten Altersquotienten in Betracht ziehen – das heisst: die Anzahl Personen 65-jährig und älter im Verhältnis zu 100 Erwerbstätigen –, wird deutlich, was kommende Generationen leisten müssen. Laut den UNO-Statistikern wird in der Schweiz der Quotient von 27 Alten pro 100 Personen im erwerbsfähigen Alter im Jahr 2015 ansteigen auf 50 Alte pro 100 Erwerbstätige im Jahr 2050. Das entspricht fast einer Verdoppelung. Im Vergleich dazu steigt in Japan das Verhältnis sogar von 35 auf 74 Alte pro 100 Erwerbstätige im gleichen Zeitraum; in unserem Nachbarland Deutschland von 32 auf 59. Von den Industrieländern geht es nur den Vereinigten Staaten von Amerika dank einer höheren Geburtenrate und ständiger Einwanderung verhältnismässig besser. Dies gilt übrigens auch für Frankreich, wo eine deutlich höhere Geburtenrate zu einer stabileren demografischen Struktur führt.4
Diese Statistiken und Messgrössen sind nur sehr grobe Parameter, da nicht alle Personen im erwerbsfähigen Alter auch arbeiten können, möchten oder müssen. Je näher ein Jahrgang dem Rentenalter kommt, desto geringer ist die Anzahl der Erwerbstätigen. In der Schweiz liegt die Partizipationsrate der gesellschaftlichen Gruppe der 55- bis 64-Jährigen am Arbeitsmarkt laut OECD bei ungefähr 75 Prozent. Sie liegt damit unter dem Durchschnitt von 85 Prozent über alle Altersgruppen berechnet, jedoch deutlich über dem OECD-Durchschnitt von 60 Prozent für die 55- bis 64-Jährigen.5 Nach dem Erreichen des ordentlichen Pensionierungsalters hören die meisten Schweizer bald auf zu arbeiten, vor allem wegen der «gut ausgebauten Altersvorsorge».6 Des Geldes wegen muss also nicht gearbeitet werden. Immerhin: 12 Prozent aller 65-Jährigen und Älteren in der Schweiz gehen weiterhin einer Erwerbstätigkeit nach, meistens in Teilzeit. Laut einer OECD-Statistik liegt die Partizipationsrate der Schweizer Rentner zwar über der Rate der deutschen und britischen Rentner, jedoch unter dem OECD-Durchschnitt und weit unter der Partizipationsrate Japans, des Spitzenreiters in den Industriestaaten. Die Zahlen in Japan sind vielleicht auch ein Hinweis darauf, was die alternden Gesellschaften in Europa erwartet.
Interessant ist auch die Frage, wie sich die Gruppe der Alten auf die ländlichen und städtischen Regionen eines Landes verteilt. Laut OECD haben ländliche Regionen in Industriestaaten ein höheres Verhältnis von alten zu jungen Leuten, jedoch ist dieses über die 32 von der OECD gemessenen Länder hinweg recht ausgeglichen. Die Schweiz und Italien, Deutschland oder die USA folgen dem gleichen Trend. Japan hat auf dem Land einen deutlich höheren Altersquotienten als in städtischen Regionen. Dort ist fast die Hälfte der Bevölkerung 65 Jahre oder älter, was einen starken Druck auf die Gesundheits- und Sozialsysteme in diesen Regionen ausübt.7
Es ist für die Menschheit ein Novum, dass die nachfolgenden Generationen kleiner sind als vorherige. Die Auswirkungen auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die die demografische Alterung hervorrufen, sind potenziell gravierend. Dennoch: Gesellschaft, Politik und Wirtschaft müssen sich dem Problem in den kommenden Jahrzehnten stellen und innovative und effektive Lösungen finden, um den Wohlstand in den Industrieländern zu bewahren. Hierbei hätten Lösungen eigentlich schon längst in Gang gesetzt werden müssen – auch gegen das Interesse und die Präferenzen von einzelnen Altersgruppen –, um den langfristigen Erfolg zu gewährleisten.
Schweizer Perspektive
Kommen wir nun vom internationalen Vergleich wieder zurück zur Schweiz. Um zu verstehen, wo die Schweiz heute steht und wohin sie sich in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird, sollten wir zunächst die Veränderungen zwischen 1950 und 2015 untersuchen.
Das Bild ist bekannt: Die Entwicklung der sogenannten...