Kingwell | Ich wünschte, ich wäre hier: Langeweile im Zeitalter des Internets | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Kingwell Ich wünschte, ich wäre hier: Langeweile im Zeitalter des Internets

Eine Philosophie
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8438-0658-9
Verlag: Berlin University Press ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Philosophie

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-8438-0658-9
Verlag: Berlin University Press ein Imprint von Verlagshaus Römerweg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Langeweile ist eine der geläufigsten menschlichen Erfahrungen, trotzdem scheint sie sich beharrlich einem vollständigen Verständnis zu entziehen. Wir alle wissen, wie es sich anfühlt, gelangweilt zu sein, doch was genau den Zustand des Gelangweiltseins auslöst, was ihn ausmacht und was aus ihm folgt, ist weit weniger klar. Ist Langeweile eine Funktion der Muße, sodass es, wie manche meinen, vor dem Zeitalter Schopenhauers so etwas wie Langeweile gar nicht gab? Oder ist die aus dem Mittelalter bekannte Sünde der Acedia - eine Art Apathie, ein Überdruss an jeder Art des Tätigseins - vielleicht ein passender Vorläufer? Stürzt uns die Langeweile in ein Wechselbad widersprüchlichen Verlangens oder konträrer Zustände oder beides? Kurz: Wenn ich mich angesichts eines gefüllten Kühlschranks darüber beklage, dass es nichts zu essen gibt, oder wenn ich in hundert Fernsehkanälen vergeblich nach etwas Gescheitem suche, wer oder was ist dann genau daran schuld?

Mark Kingwell, geb. 1963, ist Professor für Philosophie an der University of Toronto. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Sozialtheorie, Politischer Philosophie, Ästhetik und Popkultur. Er ist Mitglied der Royal Society of Canada und wurde mehrfach für seine wissenschaftliche Arbeit und Lehre ausgezeichnet. Seine zahlreichen Essays und Artikel erscheinen u. a. im Harper's Magazin und seine Monografien wurden in zehn Sprachen übersetzt, darunter Better Living (1998), The World We Want (2000). Auf Deutsch erschien zuletzt Nach der Arbeit (Nicolai P&I, 2018). # [dos Santos] Andreas Simon dos Santos hat in Münster und Berlin Anglistik, Italianistik und Politologie studiert. Er arbeitet als Übersetzer, Redakteur, Texter, Korrektor und Ghostwriter. Andreas Simon dos Santos hat in Münster und Berlin Anglistik, Italianistik und Politologie studiert. Er arbeitet als Übersetzer, Redakteur, Texter, Korrektor und Ghostwriter.

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Weitere Infos & Material


Inhalt
Vorbemerkung:
LANGEWEILE IN ZEITEN DER PLAGE

Vorwort

Teil 1
Der Zustand

Teil 2
Der Kontext

Teil 3
Die Krise

Teil 4
Wie kann es weitergehen?

Dank

Kommentierte Bibliografie

Index

Endnoten


Vorwort
»Vielleicht ist ein Schuss Langeweile ein notwendiger Bestandteil des Lebens.« Bertrand Russell, Die Eroberung des Glücks (1930) 1999 landete der britische Künstler Martin Parr einen überraschenden Bestseller, der seinen Weg auf zahllose Wohnzimmertische fand. Boring Postcards lieferte genau das, was der Titel versprach: einen dicken Band mit 160 Bildern aus Parrs privater Sammlung der ödesten Ansichten und Sehensunwürdigkeiten des britischen Lebens. Reizlose Bahnhöfe, Fabrikgebäude mit Backsteinfassaden, leere Interieurs, Motelzimmer, Hotelfoyers, langweilige Postämter und triste Autobahnabschnitte, sie alle gaben sich bei dieser unheimlichen Feier der Fadheit und Banalität ein Stelldichein. Viele Menschen fanden das Buch lustig, manche auch traurig. Niemand schien es im Geringsten langweilig zu finden – ganz im Gegenteil. Und doch zeigen die Bilder zwischen den Buchdeckeln natürlich wirklich trübsinnige Orte und nichtssagende Bauwerke, wie nützlich sie auch immer sein mochten zur Erfüllung alltäglicher Zwecke. Mir erging es mit dem Buch wie vielen anderen: Ich fand es zugleich aufschlussreich und vertraut. Wie andere Objets trouvés, das heißt ästhetisch umgewidmete Alltagsgegenstände, bot es das, was Arthur Danto die »Verklärung des Gewöhnlichen« nannte. Wir erkennen hier die Banalität eines so großen Teils unserer baulichen Umgebung und zugleich die Schmerzlichkeit unseres Bedürfnisses nach Verbindung und Austausch. Warum wohl sollte jemand, fragt man sich unwillkürlich, einen Parkplatz oder einen Mautposten zum Gegenstand einer Ansichtskarte machen? An manchen der Orte sind Menschen zu sehen, aber viele sind bar jeden Lebens, wie von einer Neutronenbombe entmenschte Szenerien leerer Alltäglichkeit. Sie illustrieren die Eintönigkeit des täglichen Lebens selbst dort noch, wo sie mit der modischen Vorstellung von »Alltagsfotografie« kokettieren – triviale Bilder, die, in einen anderen Kontext gesetzt, schlaglichtartig eine gewöhnliche, aber tiefe Sehnsucht zum Ausdruck bringen.1 Parr fügte keinen Kommentar oder eine Theorie hinzu, sondern ließ die Bilder schlicht für sich selbst sprechen. Als Parr 2000 und 2001 einen Band mit amerikanischen und deutschen Postkarten folgen ließ (Boring Postcards USA und Langweilige Postkarten 2), erklomm das Projekt neue Höhen. Nun gesellten sich noch klotzigere Autobahnen, Mauthäuschen, Flughäfen, Grenzübergänge, Wohntürme, leere Swimmingpools und Vorstadtparzellen zum Aufgebot eintöniger Umgebungen. Blättert man durch diese Bücher, besonders Boring Postcards USA, wirken sie wie eine Bebilderung der Autofahrten durch die amerikanische Provinz, auf die sich Humbert Humbert in Nabokovs Roman Lolita begibt, ein unwirtlicher Katalog neonerleuchteter Schnellrestaurants, Lebensmittelfilialen, Imbissständen, Tankstellen und Motels, der zu einer Polemik gegen das Nachkriegs-Amerika mit seiner geistlosen, entnervenden Prosperität anschwillt. Parr indes enthält sich stets solcher Wertungen. Wieder vermittelt diese Sammlung eine feierliche Stimmung, in die sich doch Traurigkeit mischt. Verlebe tolle Tage, wünschte, Du wärst hier! Nein, wirklich: Ich wünschte, Du wärst hier, denn hier ohne Dich bin ich weniger ich selbst. Postkarten begleiten uns seit Langem, doch selten schlug die Welle ihrer Beliebtheit so hoch wie vor hundert Jahren, als es der letzte Schrei war, Freunden und den Daheimgebliebenen lithografierte Postkarten von den Orten zu schicken, die man bereist hatte. Eines meiner Lieblingsstücke solcher Ephemera ist eine Postkarte des Woolworth-Hauses in New York (1912), die mir vor einigen Jahren in einer Scheune in New Hampshire in die Hände fiel. Eine mit Federhalter gezeichnete Wellenlinie markiert die Spitze des hoch aufragenden Gebäudes. »Bin letzten Winter da oben gewesen«, werden die Lieben daheim auf der Farm informiert. Selbst die Farben früher Bildpostkarten werden zu einer vertrauten Palette blasser Töne von Comicheft-Qualität, so sehr, dass spätere Ansichtskarten aus den 1970er-Jahren mit ihrer Hochglanzoptik unangebracht und irgendwie falsch wirken. Während die Leute Millionen von Groschenpostkarten verschickten, bot sich Amateuren mit preisgünstigen tragbaren Fotoausrüstungen die Möglichkeit, »Echt-Photos« zu schießen und die Ergebnisse in Kleinauflage mit einer Liebhabergemeinde zu teilen: Instagram für das Industriezeitalter. Millionen von Postkarten, viele davon so strahlend langweilig wie alles aus Parrs Sammlung, wurden zwischen 1905 und 1912, dem Höhepunkt der Postkartenmode, hergestellt. Eine Postkarte ist jedoch nicht nur ein Bild, und das ist einer der Gründe, warum ich Postkarten als visuelle Begleitung des folgenden Textes verwende. Sie erzählen eine Geschichte des Ichs auf der Suche nach sich selbst. Postkarten sind Elemente innerhalb großer Systeme – von großen und kleinen Wohnorten und Städten, von Postdiensten und Druckereien, vom Tourismusgeschäft und Urlaub und von Familie, Freunden und Mitarbeitern. Das Bild ist eigentlich nur der Anlass oder der Träger, um ein persönliches Signal zu geben, ein winziger Knoten innerhalb des weiten Netzes kollektiven und kommunikativen Handelns. Ebenso ist die Botschaft auf der Rückseite nachrangig gegenüber der Tatsache, dass die Postkarte überhaupt geschickt wird. Wer schon einmal einen sonntäglichen Flohmarkt durchstöbert hat, dem ist vielleicht aufgefallen, dass viele alte Postkarten überhaupt keine schriftliche Botschaft trugen, sondern nur eine Adresse. Die gesuchte Verbindung war die eigentliche Fracht. Dies ist ein Buch über unsere Suche nach solchen Verbindungen und die Gefahren und Chancen, die in diesem Netz des Begehrens enthalten sind. Die langweilige Postkarte bietet mehrere bedeutsame Einsichten. Die erste ist, dass die langweilige Postkarte gar nicht langweilig ist. Es gibt hier eine Dynamik, in der wir zuerst das triste oder nichtssagende Bild registrieren und es irgendwie unglaublich finden, um uns dann zu einer Würdigung des Bildes zu bewegen, die das Gegenteil von langweilig ist und, wie wir ebenso sagen könnten, das Gegenteil der Nostalgie, die häufig von alten Briefen geweckt wird. Dann ist da ein sich anschließender Moment der ironischen Dopplung, der die beiden vorangehenden Ideen in herrlicher Spannung hält. Lustig? Ja. Traurig? Auch das. Faszinierend? Unbedingt. Die langweilige Postkarte gibt uns in visueller Form so etwas wie einen Hinweis darauf, wie Langeweile allgemein funktionieren könnte – oder, um genauer zu sein, wie wir Langeweile auf eine Art und Weise fassen könnten, die philosophisch von Interesse ist. Ein solches Verständnis zu kultivieren ist der Hauptzweck dieses Buches. Es gibt hier eine zweite Einsicht darüber, was ich das Interface nenne. Weil wir in einer Welt leben, die von Technologie beherrscht wird, und auch weil sich mein Augenmerk hier auf viele technologische Details richtet, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Schnittstellen ein ausschließliches Merkmal des Computerzeitalters seien. Mehr noch, es gibt eine Tendenz, die Idee des Interface auf eine spezifische Plattform oder ein bestimmtes Programm zu verkürzen. Wie ich im Folgenden argumentieren werde, sind selbst digitale Benutzerschnittstellen mehr als das: Sie umfassen den Nutzer, die Nutzungserfahrung, sogar die taktilen Elemente der mit bestimmten Programmen verbrachten Zeit (Wischen, Klicken, Daumentippen etc.). Noch weiter gefasst gehören zum Interface soziale, politische und ökonomische Faktoren, die im spätkapitalistischen Leben alle im Spiel sind, von den materiellen Bedingungen und der laufenden Verelendung, die das Gerät in unserer Hand oder auf unserem Schreibtisch ermöglicht hat, bis zu den psychologischen und geistigen Bedingungen, die sich auf die Zeit, die wir mit ihnen verbringen, auswirken. In einem noch weiteren Sinne ist das Interface eine geeignete Beschreibung vieler nichttechnischer Elemente der menschlichen Existenz. Ich meine damit einfache Dinge wie Türschwellen, Hauseingänge, Fenster und Durchgangsräume, die wesentlich für die je verschiedene Ausformung des Angebotscharakters (affordance) von Arbeitsstätten und Heimen sind. Ich meine darüber hinaus komplexere Merkmale der Interaktion, der Grenzbereiche und Durchgangswege wie eben Mautstationen, Abflughallen, Parkplätze und Motelzimmer, die in Parrs Katalog der Langeweile eine besondere Rolle spielen. Dies sind Zwischenräume, in denen wir nicht ganz wir selbst sind, im Schwebezustand auf dem Weg zu etwas, das die Postkarte andeutet, aber nie darstellt. Langeweile hat damit zu tun, aufgehalten zu werden, Frustration zu empfinden darüber, festzustecken, und den heftigen Wunsch zu verspüren, nie wieder in eine solche Sackgasse zu geraten. Die langweilige Postkarte gibt die Szenerie der Langeweile als Wohlergehen selbst wieder, das – zumindest auf den ersten Blick – öde ist. Weiter unten werde ich näher auf Heideggers vielbeachtete Erörterung der Langeweile eingehen, die ihn befiel, als er...


Mark Kingwell, geb. 1963, ist Professor für Philosophie an der University of Toronto. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in Sozialtheorie, Politischer Philosophie, Ästhetik und Popkultur. Er ist Mitglied der Royal Society of Canada und wurde mehrfach für seine wissenschaftliche Arbeit und Lehre ausgezeichnet. Seine zahlreichen Essays und Artikel erscheinen u. a. im Harper's Magazin und seine Monografien wurden in zehn Sprachen übersetzt, darunter Better Living (1998), The World We Want (2000). Auf Deutsch erschien zuletzt Nach der Arbeit (Nicolai P&I, 2018). # [dos Santos] Andreas Simon dos Santos hat in Münster und Berlin Anglistik, Italianistik und Politologie studiert. Er arbeitet als Übersetzer, Redakteur, Texter, Korrektor und Ghostwriter.

Andreas Simon dos Santos hat in Münster und Berlin Anglistik, Italianistik und Politologie studiert. Er arbeitet als Übersetzer, Redakteur, Texter, Korrektor und Ghostwriter.



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