E-Book, Deutsch, 561 Seiten
Reihe: Kisch bei Null Papier
Kisch Marktplatz der Sensationen
Überarbeitete Fassung
ISBN: 978-3-96281-709-1
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 561 Seiten
Reihe: Kisch bei Null Papier
ISBN: 978-3-96281-709-1
Verlag: Null Papier Verlag
Format: EPUB
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Egon Erwin Kisch (eigentlich Egon Kisch; 1885-1948) war ein deutschsprachiger Schriftsteller, Journalist und Reporter. Er gilt als einer der bedeutendsten Reporter in der Geschichte des Journalismus. Nach dem Titel eines seiner Reportagebände ist er auch als 'der Rasende Reporter' bekannt.
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Von den Balladen des blinden Methodius
Mag es auch klingen wie eine Geschichte aus der Zeit der Romantiker, so muss doch damit begonnen werden, dass der blinde Methodius in unserem Hof eine Art von Balladen singt. Der Flur, der in diesen Hof mündet, ist breit und gewölbt und dennoch voller Dunkelheiten, Eisentüren rechts und links verschließen vier nie betretene Verliese. Am Kellereingang baumelt ein Eisenring mit dem Rest einer geheimnisvollen Kette, und im Keller selbst wissen wir einen Rittersaal mit Nebenräumen, aus denen einstmals zwei Gänge zum Rathaus führten und zur Teinkirche. Wenn wir erwachsen sind, werden wir diese längst verschütteten Gänge wieder freilegen, sie bewaffnet durchschleichen und etwas Großes vollführen, das ist sicher.
Unser Hof ist in der Höhe des ersten Stockwerks von einem Spalier edler Säulen aus dem sechzehnten Jahrhundert umgeben. Über die Balustrade gelehnt, lauschen Frauen und Jungfrauen dem Sang des blinden Methodius, und zwischen den Säulen hängen Lambrequins.
Aber diese Teppiche sind keineswegs zum Schmuck der Fassade ausgelegt, sondern zwecks Entstaubung eben aus den Wohnungen gebracht worden, und die lauschenden Frauen sollten rechtens die Teppiche klopfen, die Bettpolster und Bettdecken lüften oder Wäsche zum Trocknen aufhängen, statt zu lauschen.
Allerdings singt der blinde Methodius wunderschön, sein Tremolo flattert das Flurgewölbe entlang, dringt sicherlich, der Eisentüren spottend, in die nie betretenen Verliese, in den unterirdischen Rittersaal hinab und in die verschütteten Gänge der böhmischen Vergangenheit und unserer Zukunft. Gleichzeitig erreicht sein Singen die höheren Regionen, denn wie aus den Arkaden des ersten Stockwerks lehnen sich auch aus den Fenstern des zweiten und dritten die Hausfrauen und Dienstmädchen.
Wenn ich von mir auf andere schließen darf, so ist es nicht allein die schöne Stimme des blinden Methodius, die ihm Auditorium verschafft, und ebensowenig die Melodie seiner Lieder. Nein, der Text siegt über den Ton, die Literatur über die Musik.
Wie schon im ersten Satz gesagt wurde, ist es eine Art von Balladen, was der blinde Methodius singt. Worte, die zu Beginn eines Buches stehen, sind gewöhnlich dazu da, den künftigen Leser festzuhalten, und man soll solche Worte nicht allzu wörtlich nehmen. In unserem Fall aber stimmt die Aussage, dass der blinde Methodius eine Art von Balladen singt, eben nur dann, wenn man sie wörtlich nimmt, das heißt, die Ballade gleichsetzt einer Begebenheit in Gedichtform. In diesem Sinne ist der blinde Methodius so ausschließlich Balladensänger, dass er es verschmäht, etwas anderes zu singen, etwa eine Arie, ein Liebeslied, ein Couplet oder gar einen von den Schmachtfetzen des Tages, obwohl er deren Melodien verwendet. Niemals richtet er an Daisy die Frage: »Wann wird die Hochzeit sein?«, niemals fordert er vom Glühwürmchen, Glühwürmchen, dass es flimm’re, niemals beteuert er, er »hätt’ geküsst die Spur von deinem Tritt, hätt’ gerne alles für dich hingegeben«. Sein Repertoire besteht durchweg aus Begebenheiten, die mehr oder minder Geschichte waren, Geschichte sind oder Geschichte sein werden, also aus Balladen.
Nun könnte jemand einwenden, dass die Ballade neben der Inhaltsforderung auch bestimmten Formgesetzen gerecht werden müsse und die Gesänge des blinden Menthodius demnach nur Bänkel seien.
Ein solcher Versuch, den blinden Methodius und seine Texte auf ein tieferes Niveau zu verweisen, begegnet unserem Veto. Warum macht man ihm und seinesgleichen die Primitivität, die Naivität, den Mangel an Form zum Vorwurf, wenn all das dem Volkslied, soweit es nur Gefühle ausdrückt, als Vorzug angerechnet wird? Warum gelten jene Balladen von Gottfried August Bürger und Edgar Allan Poe am höchsten, die weder ein geschehenes Geschehen noch ein mögliches Geschehen behandeln, sondern Gespensterspuk? Warum predigt der Balladendichter Friedrich Schiller die Irrealität? Die Antwort lautet: Selbst in der Literatur ist eine konkrete Aussage gefährlich, denn jede Wahrheit enthält potentielle Kritik und Auflehnung.
Wir aber setzen dem Wort: »Was sich nie und nimmer hat begeben, das allein veraltet nie« entgegen: »Was sich stets und immer wird begeben, das allein veraltet nie.«
Selbstverständlich wird diese Abschweifung hier nicht um des blinden Methodius willen unternommen, der die Worte »Ballade« und »Bänkel« wohl nie gehört hat und dem es egal sein mag, ob man sein Repertoire der Literatur zurechnet.
Dennoch hat er seine Sängereitelkeit. Da er sein Publikum nicht sehen kann, muss er sich auf andere Weise vergewissern, dass ein solches versammelt ist. »Die Strophe ist schön, nicht wahr?« fragt er nach jeder Strophe, und die Damen vom hohen Balkon bestätigen ihm durch Zuruf, dass die Strophe schön ist, sogar sehr schön.
Mich muss der blinde Methodius nicht fragen, ob ich anwesend bin. Ich stehe den ganzen Tag über neben seinem Schleifrad. Wiederholt ruft meine Mutter mir die Mahnung herunter, nicht so nah heranzugehen, sie befürchtet, Funken könnten mir ins Auge fliegen.
Sein Name flößt mir Bewunderung ein, obwohl in Prag genug Knaben nach einem der Slawenapostel Cyrill oder Methodius heißen. Auch sein Alter imponiert mir, er ist – vor allem am Anfang unserer Bekanntschaft – sehr, sehr alt, wenn auch nicht so alt wie die Erwachsenen, deren Alter überhaupt nicht messbar ist. Der Haarwuschel auf seinem Kopf ist von dem gleichen Gelb wie die Uniformkragen der Sechser-Dragoner, die in meines Vaters Geschäft einkaufen. Der blinde Methodius ist Lehrling beim Messerschmied Kokoschka in unserem Haus, aber er wohnt im Blindeninstitut und trägt die dicke, dunkelgraue Anstaltskleidung mit den riesigen Hirschhornknöpfen. Wenn er abends nach Hause geht, tappt er mit einem armstarken, zwei Meter langen Bambusstab vor sich her, an dem eine Glocke hängt. Die Droschken halten an, während er die Fahrbahn überschreitet, und die Fußgänger sehen ihm nach wie einem Schwimmer in gefährlichem Wasser, jedoch der blinde Methodius merkt nichts von der Beachtung, die er erregt.
Frühmorgens fegt er den Laden des Herrn Kokoschka, putzt das Schaufenster und stellt sich dann an sein »Velociped«, um die vielen breiten Scheren der Tuchhändler aus dem Ledergässchen zu schärfen, manchmal auch Rasiermesser, Taschenmesser und...