Lauer / Müller Der kleine Wagnerianer
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-406-64576-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zehn Lektionen für Anfänger und Fortgeschrittene
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-406-64576-1
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Regine Müller studierte Musik und Germanistik. Als Autorin und Musikjournalistin arbeitet sie für Presse und Rundfunk sowie für zahlreiche Konzerthäuser. Sie lebt in Düsseldorf. Gemeinsam mit Enrik Lauer hat sie ein sehr erfolgreiches Buch über Mozart und die Frauen veröffentlicht, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Enrik Lauer ist promovierter Germanist und arbeitet als freier Publizist in Berlin.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Cover;1
2;Titel;2
3;Zum Buch;3
4;Über die Autorin;3
5;Impressum;4
6;Inhalt;5
7;1. «Weißt du, was du sahst?»;9
7.1;Das Wagner’sche «Musikdrama» als permanente Herausforderung;9
8;2. Mehr als ein Revolutionär;17
8.1;Tristan und Isolde: Was Wagner für die Musikgeschichte bedeutet;17
8.1.1;Kein Wunderkind: Wagner als Spätstarter;24
8.1.2;Eine «Handlung» (fast) ohne Handlung;27
8.1.3;Ein Werk «kleineren Umfangs»: Wie der Tristan aus dem Ruder lief;29
8.1.4;«Hier wütet der Tod»: Warum der Tristan keine Liebesgeschichte ist;34
9;3. «Unverschämt genial!»;39
9.1;Wagner und das Geld;39
9.1.1;Unordnung und frühes Leid;42
9.1.2;Franz Liszt: Freund, Förderer, Kollege und Schwiegervater;48
9.1.3;Frauen und andere Gönner;55
9.1.4;«Die nötige künstlerisch wollüstige Stimmung»: Wagners Sucht nach exzentrischem Luxus;57
10;4. «Dem Wahn mich nichts entreißt»;63
10.1;Lohengrin: Eva und der Erlöser in den Wirren des Bürgerkriegs;63
10.1.1;Was gibt’s zu sehen?;65
10.1.2;Wie ist das alles zu verstehen?;75
10.1.3;Kleiner Exkurs über Schwäne;86
11;5. «… nichts als Wahrtraumdeuterei»;89
11.1;Richard Wagner und die Psychoanalyse;89
11.1.1;Psychoanalyse avant la lettre?;93
11.1.2;«Ein Schwert verhieß mir der Vater»: Spurenelemente der Psychoanalyse;96
11.1.3;Wissender Schlaf: Wagners Nachtgeweihte und Traumtänzer;99
11.1.4;Von der Entgrenzung bis zur Mobilmachung: Wie Wagners Musik bis ins Vegetative vordringt;102
12;6. «… wohl gar ein biblisches Lied?»;107
12.1;Die Meistersinger von Nürnberg und die «Kunstreligion»;107
12.1.1;Was gibt’s zu sehen?;108
12.1.2;Wie ist das alles zu verstehen?;120
13;7. «Altmodisch bis provinziell, des war’s!»;133
13.1;Von den Begleiterscheinungen des Wagner-Opernbesuchs;133
13.1.1;Wider die Angst vor dem Betreten des Musentempels: Die Ent-Ritualisierung eines Rituals;136
13.1.2;Die Immunität des Gesamtkunstwerks;138
13.1.3;Vom großbürgerlichen Vergnügungsritual zum quasireligiösen Kult;140
13.1.4;Postmoderne Unübersichtlichkeit: Kleiderordnung(en) in Opern- oder Festspielhaus;141
13.1.5;«… eine Gelegenheit, sich gegenseitig zu sehen»;150
13.1.6;Da lacht der Wagnerianer;154
14;8. «Trüber Verträge trügender Bund»;157
14.1;Der Ring des Nibelungen als Gründungsmythos der bürgerlichen Welt;157
14.1.1;Was gibt’s zu sehen?;158
14.1.2;Das Rheingold;159
14.1.3;Die Walküre;166
14.1.4;Siegfried;175
14.1.5;Götterdämmerung;183
15;9. «Die Erlösung Ahasvers: Der Untergang!»;201
15.1;Richard Wagner und der Antisemitismus;201
15.1.1;Antisemitismus in der Romantik;203
15.1.2;Der Sündenfall: «Über das Judentum in der Musik»;205
15.1.3;Linker Antisemitismus;208
15.1.4;Antisemitismus im Bayreuther Alltag;209
15.1.5;Testamentsvollstreckerin Cosima;210
15.1.6;Posthume Sündenfälle: Chamberlain, der Bayreuther Kreis, Winifred, Hitler;211
15.1.7;Inszenierter Bruch mit der Vergangenheit: Bayreuths Neuanfang 1951;213
16;10. Erlösung vom Erlöser;217
16.1;Parsifal als Lied vom Ende aller «Rettungswerke»;217
16.1.1;Vorspiel: Die angekündigte Erlösung;219
16.1.2;Intermezzo: Lässt sich die Handlung des Parsifal erzählen?;222
16.1.3;Erster Aufzug: Die verschobene Erlösung;224
16.1.4;Zweiter Aufzug: Die erotisierte Erlösung;235
16.1.5;Dritter Aufzug: Die abgesagte Erlösung;242
17;Anhang;251
17.1;Bibliographie;253
17.2;Diskographie;257
1.
«Weißt du, was du sahst?»
Es gehört zu den Ironien rund um sein Werk, dass der Begriff des «Musikdramas», der gemeinhin eng mit diesem verbunden wird, gar nicht von Wagner stammt, sondern von seinem Zeitgenossen Theodor Mundt (1808–1861) – und dass Wagner selbst diesen Begriff später vehement ablehnte. Mundt hatte im Juni 1831 – da war Wagner gerade 18 und, nun ja, Student in Dresden – in den Leipziger einen klugen Aufsatz veröffentlicht: «Ueber Oper, Drama und Melodrama in ihrem Verhältniß zu einander und zum Theater». Mit Rossini und seiner Kunst des virtuosen Gesangs, so Mundt, habe die Oper angefangen, das Drama «auf dem Theater zu verdrängen» und zu einer «Modekunst» zu werden. Infolgedessen würden viele Dramatiker zum vermeintlichen Erfolgsrezept musikalischer Begleitung greifen. Ergebnis dieses «Hülferuf(s) der vom Zeitgeschmack verlassenen dramatischen Dichtkunst» sei das Melodram, in dem die Musik leider immer «untergeordneter und bedeutungsloser angewendet» worden sei, so dass man unter einem Melodram gegenwärtig meist nur noch «ein raffinirtes Mordspectakelstück mit möglichstem Criminalschauder» verstehe. Obwohl die Oper «ihrer Natur nach als ein musikalisches Drama zu betrachten» sei, bedürfe es daher eines neuen Begriffes, mittels dessen sie sich von jener «Gattung von musikalischem Drama, in welchem die Musik nur als Intermezzo mitspielte» unterscheiden lasse. Mundt bezieht sich hier wohl auf die Gattung der Schauspielmusik, zur der etwa Beethovens Musik zu Goethes zählt. Diese unterscheide sich jedoch wesentlich «von der Oper als dem in der Einheit von Dichtkunst und Tonkunst gegründeten Musikdrama».
Die Oper in diesem umfassenden Sinne wieder auf die Höhe ihrer Möglichkeiten zu bringen, sei «ein ästhetisches Projekt», das «eine zukünftige Umgestaltung der Theaterkunst» erforderlich mache. Das wäre wohl Musik in Wagners Ohren gewesen, wenn er Mundts Text gekannt hätte – was vermutlich nicht der Fall war. Wagners Bühnenwerke als «Musikdramen» zu klassifizieren setzte sich nämlich erst mehr als dreißig Jahre später durch. Weshalb seine knappe Polemik aus dem Jahre 1872 denn auch recht spitzfindig daherkommt, indem Wagner – grammatikalisch korrekt – mutmaßt, mit diesem Kompositum sei, wenn überhaupt etwas, so doch nur ein «Drama zum Zweck der Musik», ergo «das altgewohnte Opernlibretto» gemeint. Weshalb das ‹Musikdrama› am Ende nicht mehr sei als ein «bequemes Nest», das jedem «zum Ausbrüten seiner musikalischen Eier bereit liege».
Dabei hätte ein Blick in Mundts Text (der um den Begriff selbst übrigens kein großes Wesen macht) Wagner eine gewisse Nähe ihrer beider Überlegungen erkennen lassen können. Denn Mundt definiert das Drama durch seine «scharf und consequent durchgeführte Dialektik der Handlung». Dagegen bringe es die «lyrische Natur der Musik» mit sich, dass das Musikdrama «diese Handlung zu einem ganz andern Zwecke» auffasse, «nämlich um die der Handlung inwohnende Lyrik daraus hervorzubilden». Weshalb es in der Oper denn auch mehr um «das Phantasiren des Affects, die Musik der Leidenschaft, die Lyrik des Charakters, den in Töne aufgelösten Sinn der Handlung, als den Affect, die Leidenschaft, den Charakter und die Handlung selbst» gehe. Nichts anderes meinte Wagner im Kern, als er 1851 in der umfassendsten seiner ‹Reformschriften› – – schrieb:
so ist es so muß es sein
Das ist etwas umständlich formuliert, aber im Grunde leicht zu verstehen. Nach Tolstois unübertroffen knappem Diktum ist Musik «Stenographie der Gefühle». Am Verstand vorbei – modern gesprochen: über unser vegetatives Nervensystem – löst Musik unmittelbare affektive Reaktionen aus. Auch für Wagner ist es vor allem die Musik, die das im Drama Dargestellte – Handlung, Konflikte, Motive der Protagonisten – dem Zuschauer zur sinnlichen Gewissheit bringt. Hinzutreten dann sämtliche anderen auf die Sinne wirkenden Bühnenkünste: etwa Ausdruck, Bewegung, Kostüm oder Szenerie. Und nur der Affekt, der in die Richtung seines intendierten Gehaltes gelenkt wird, kann dann im Nachgang auch wieder zur rationalen Reflexion des «Dramas» und seiner Gehalte drängen.
Die zentrale Differenz zur (barocken) musikalischen Rhetorik und der dahinter stehenden Affektenlehre liegt denn auch nicht in der grundsätzlichen Suprematie des musikalisch ausgedrückten Gefühls, sondern in zwei anderen Punkten: Erstens darin, dass Wagners Musik sich einer rhetorischen (und das heißt: rationalen) Aufschlüsselung im Sinne halbwegs verbindlicher Relationen zwischen musikalischen Figuren und bestimmten Affekten verweigert. Und zweitens darin, dass Wagner die Ansprache des Gefühls hauptsächlich dem Orchester – wohlgemerkt: einem Orchester, dem er eine völlig neue Fülle an Klangfarben und -schattierungen entlockt – überantwortet, weniger seinem tendenziell deklamatorischen Gesang.
Aber auch für Wagner kann allein das Gefühl «zur Theilnahme fesseln», wie er in darlegt. Im «vollendetsten Kunstwerke» teile dessen Schöpfer seine Absicht «durch Verwendung aller künstlerischen Ausdrucksfähigkeiten des Menschen (…) an die unmittelbarsten Empfängnißorgane des Gefühles, die Sinne», mit. Musik, Handlung und Szene müssten dabei eine «sympathetische Wirkung» hervorbringen. Anders gesagt: Vor das Verstehen setzen Musik und szenische Darstellung eine rational nicht steuerbare Identifikation mit dem Dargestellten. Der Zuschauer wird aus seinen Vorurteilen, aus seinem Alltagsstandpunkt, aus seinem bloßen Meinen über Liebe, Macht, Verrat, Gier – oder was immer sonst im Drama verhandelt wird – herausgerissen und in die ihm zunächst fremde Perspektive des Bühnengeschehens hineingezogen. Wagners ästhetisches Programm: Verfremdung durch Empathie, Erzeugung von Empathie durch kalkulierte Überwältigung. In des Meisters sperriger Syntax:
Doch Wagner zielt letztlich nicht auf die willenlose Hingabe seines Publikums, sondern auf dessen geistige Mobilisierung. Wir sollen uns in der Begegnung mit einem Werk mit unserer Lebenswirklichkeit auseinandersetzen. Und zu dieser zunächst individuellen Lebenswirklichkeit gehören untrennbar deren gesellschaftliche, politische oder ökonomische Rahmenbedingungen. Wenige Komponisten waren so dezidiert politische Künstler wie Richard Wagner. Das schließt das unauslöschliche Schandmal seines Antisemitismus ebenso ein wie irrlichternde Wandlungen seines Weltbildes oder einen immer wieder aufkeimenden Hang zum Opportunismus gegenüber mächtigen Geldgebern. Doch im Grunde seines Herzens blieb Wagner zeitlebens der utopische Anarchist der 1848er Jahre. In seinem Denken, vor allem aber in seiner Kunst sägte er konsequent kritisch an den tragenden Säulen der bürgerlichen Welt: Staat und Macht, Eigentum, Religion, Ehe und Familie. Vor allem der Politikwissenschaftler Udo Bermbach hat das in mehreren seiner Bücher schlüssig dargelegt.
Doch ob man Wagner nun «links» oder «rechts» wendet – der größte Irrtum wäre stets, aus seinen Schriften, gar aus seinen Werken ein «Programm» herauslesen zu wollen. Wagner war kein systematischer Denker, eher ein «synkretistischer Grübler» (Jochen Hörisch), der unterschiedlichste, bisweilen sogar diametral gegensätzliche Quellen...




