Libera | Geschichte und Geschichten aus der Welt des Puppentheaters | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 416 Seiten

Libera Geschichte und Geschichten aus der Welt des Puppentheaters

E-Book, Deutsch, 416 Seiten

ISBN: 978-3-95935-559-9
Verlag: Diplomica Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: Kein



Auf den ersten Blick sehen die Puppentheater aus verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich, oder besser gesagt unvergleichlich aus. Und doch haben alle Theater etwas gemeinsam – ihren Ursprung. Sie alle haben ihre Wurzeln in Geschichte, Traditionen und Religionen der Völker. Ein Puppentheater stellt das Zusammenspiel von Sprachkunst, Musik, Malerei, Handwerk und Technik dar. Mit ihren Theaterstücken vermochten die Puppenspieler der Geschichte nicht nur das Volk zu unterhalten, sondern auch Kritik an den oberen Schichten der Gesellschaft zu üben. Auf Grund der Kritik und Verspottung der Machthaber oder Invasoren wurden die Puppenspieler sehr oft verfolgt und ihre Aufführungen verboten. Diese und weitere Aspekte berücksichtigend, gibt das vorliegende Buch einen fundierten Überblick über die Inhalte, Stile und Darstellungsformen im Puppentheater weltweit.
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Textprobe:

Kapitel 5. Die Puppenstimme im traditionellen Puppentheater:

Eine Puppe kann nicht selbst mit menschlicher Stimme sprechen. Die ästhetischen Gesetze des Theaters, das Gesetz der Übereinstimmung des Lauts mit der Darstellung und den plastischen Bewegungen verlangt danach, dass die Puppenstimme ganz anders klingt als die Stimme des menschlichen Schauspielers. Die Mehrheit der traditionellen Puppentheater in der Welt verwendet in der Regel Puppen, die kleiner als ein Mensch sind. Und je kleiner eine Puppe ist, desto höher die Frequenz der Tonschwingungen ihrer Stimme. Die größeren Objekte dagegen sprechen mit einer Bassstimme. Im traditionellen Puppentheater wurden spezielle Methoden der Wiedergabe und Verbalisierung der Puppenstimme verwendet. Unter der „Sprache“ einer Puppe versteht man nicht nur verbale, sondern auch jedes beliebige rhythmisch- musikalische oder sonstiges Intonationssignal. In den Puppentheatern der Welt werden für die Schaffung der spezifischen Puppenstimme drei Methoden verwendet: die Veränderung der eigenen Schauspielstimme, das Textsprechen einer Puppe von einem Narrator (Erzähler), und die Verwendung eines Instruments für das Entstellen der menschlichen Stimme-eines Sprachmodifikators. (z. B. „Pischtik“-russ., oder „Swazzle“-engl.) Jeder, der einmal die Stimme von Petruschka, Pulcinella, Punch oder Polichinelle gehört hat, wird sie nie vergessen. Diese besondere Stimme wird mit Hilfe eines besonderen Instruments- „Pischtik“-erzeugt. Es gibt zwei Typen dieser Stimmmodulatoren. Zu dem ersten Typ gehört das Zungenaerophon. Dabei wird der Laut des Sprachmodifikatoren durch den Sprachapparats des Menschen moduliert. Zu dem zweiten Typ gehören die „Mirlitonen“. Im Puppentheater war das Zungenaerophon des ersten Typs weit verbreitet. Dabei wird das Zäpfchen als eine elastische dünne Membrane in einem Spalt zwischen zwei gebogenen Lamellen aufgespannt. Das Zungenaerophon wird zwischen den Zähnen zusammengepresst, oder es wird im Hals neben der Zungenwurzel platziert, sodass die Fläche der Membrane sich parallel zur Richtung der ausgeblasenen Luft befindet. Dieses Instrument erlaubt dem Schauspieler ziemlich deutlich, eine gewisse Menge wahrnehmbarer Sprachtöne ziemlich deutlich zu erzeugen, ohne Stimmbänder dabei zu involvieren. Ein trainierter Schauspieler ist im Stande, den Sprachmodifikator von der Zunge zu entfernen und ihn wieder dort zu plazieren. So lösen sich die modifizierten Laute sehr schnell mit den „normalen“ menschlichen Stimmlauten ab. Dieser Prozess ist nur bei der speziellen Stimmaufstellung möglich. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass ein Schauspieler, der mit den Puppen von unten arbeitet, seine Hände über den Kopf hebt, den er zurückwirft. In einer solchen Position droht dieses Instrument in den Magen oder in den Atemweg des Puppenspielers zu geraten. Trotzdem ist dieses Instrument in europäischen, nahöstlichen und zentralasiatischen Theatern weit verbreitet. Ein anderes Instrument für die Lautmodifizierung ist „Mirliton“. Nach dem Prinzip des „Mirlitons“ sind auch die Blasinstrumente „Kazoo“ oder „Zobo“ aufgebaut. Dieser Sprachmodulator wird häufig in afrikanischen, süd-ostasiatischen und im tamilischen Schattentheater verwendet. Die Materialien für die Herstellung des Lautmodulators sind unterschiedlich. Russische Puppenschauspieler, zum Beispiel, schlugen eine Münze platt. Bei der Herstellung wird auch die Anatomie des Kehlkopfes des Schauspielers berücksichtigt. Die Silbermünze wird hauptsächlich von europäischen Puppenschauspielern verwendet. Prinzipiell kann jedes nicht rostende Metall dafür benutzt werden. Ein berühmter Londoner Punch-Spieler, Konrad Frederiks, schreibt: „Ich verwende Aluminium. Früher habe ich auch Silber und Gold benutzt, danach habe ich verstanden, dass diese Metalle für mich zu schwer sind, da ich sehr schnell zwischen Lautmodulator und meiner eigenen Stimme wechsle. Wenn ich mit der Stimme von Punch spreche, schiebe ich den Swazzle auf den hinteren Teil der Zunge. Wenn ich mit meiner eigenen Stimme spreche, dann schiebe ich das Instrument auf den vorderen Teil der Zunge und dann-für die Stimme des Punch, wird das „Swazzle“ wieder zurückgeschoben. Die Straßenaufführungen dauern stundenlang und es wäre sehr ermüdend, währenddessen ein Instrument aus einem schweren Metall zu verwenden.“ Von manchen traditionellen Puppentheatern werden Knochen, Holz oder Bambus für die Herstellung des Lautmodulators verwendet. Die Membrane des Sprachmodifikators ist sein wichtigstes Element. Sie soll aus dünnem, elastischem Material angefertigt werden, das während vieler Stunden im Mund eines Schauspielers seine Spannkraft nicht verliert. Europäische Puppenschauspieler benutzen dafür Leinen. Bruno Leone, ein berühmter neapolitanischer Pulcinella-Darsteller, erzählte dem Autor, dass er das geeignete Material nur in Spanien gefunden habe. Conrad Frederix sagte: „Das Band selbst (Membrane) ist jetzt sehr schwer zu finden, da diese heute aus synthetischem Material angefertigt werden. Und wir müssen feinen, dünnen Baumwollstoff benutzen, da der Stoff beim Durchweichen im Mund fester wird. Die Punch-Puppenschauspieler weichen sie in Bier ein, um die Membrane zu gerben; ein russischer Puppenspieler erzählte, dass er zu diesem Zweck die Membrane mit Zigarettenrauch anhauchte. Die Rolle des Stimmmodulators wird hier zuerst am Beispiel der Petruschka Familie (Petruschka, Punch, Pulcinella usw.) gezeigt. Die Bestimmung der Pischtik (Swazzle) liegt nicht nur in der Verbalisierung der Puppensprache. Es ist ziemlich schwierig, die absolute Verbalisierung zu erreichen, da man mit Hilfe eines Pischtik nicht alle Sprachlaute deutlich wiedergeben kann. Die Verständlichkeit der Aussprache ist von der Individualität eines Schauspielers, der Anatomie seines Sprachapparates, der Position des Pischtiks im Mund, der Sprache, der Konstruktion und dem Material des Pischtiks sowie von der Spannung der Membrane abhängig. In der Sprache der Puppe gibt es eine Reihe von Lautklischees, worauf hinzuweisen ist. Diese Lautklischees illustrieren das Puppenbenehmen, und werden sogar ohne Wortdialoge von den Zuschauern sofort fehlerlos verstanden. Das Lachen, Weinen, Seufzen, ein Ausruf sind die Sprachinstrumente einer Puppe, die durch ihre künstliche Sprache noch verstärkt werden. In Bezug darauf nimmt das Lachen von Punch eine besondere Stelle ein. Das Lachen ist das Zeichen dieser Figur. Dieses Lachen kann man mit nichts vergleichen, es ist mit nichts zu verwechseln, und ist die unabdingbare Eigenschaft der Puppe zugleich mit ihrer übergroßen Nase. Das Lachen begleitet praktisch alle Puppenbewegungen, formiert ihren Charakter und erläutert ihr Benehmen; und schließlich legt es seine Beziehungen zu den anderen Figuren der Aufführung und den Zuschauern fest. Die Abwesenheit des Lachens-sogar für eine kurze Zeit-ruft bei den Zuschauern ein Staunen hervor, als ob während der Aufführung der Ton ausgeschaltet wäre. Die gesamte Lautreihe der Aufführung ist die Abwechslung des Lachens von Petruschka-Punch mit anderen Lauten. Dabei ist es nicht die Hauptaufgabe des Pischtiks in einer Aufführung. Pischtik und Schlegel (Schlagstock) von Petruschka-Punch sollten wegen der Natur der von ihnen produzierten Geräusche, als Musikinstrumente-einem Blas-und einem Schlaginstrument betrachtet werden, da sie eine jahrtausendlange Tradition im Puppentheater darstellen. Das Duett des Pischtiks und des Schlegels stellt die Musik der Aufführung dar. Diese Musik illustriert und formiert die Reihe der Puppenbewegungen und ist ausreichend, so dass die Verbalisierung von Dialogen häufig überflüssig wird. Somit findet der Prozess der Sprachreduktion statt. Diese Feststellung wird durch die Aufführungen des Puppentheaters in einer fremdsprachigen Umgebung bestätigt. Ohne ein Wort zu verstehen, lacht das Publikum an den gleichen Stellen der Aufführung. Das heißt die Sprache in einer Puppenaufführung ist wirklich fast überflüssig ist. Die Entstehung der Sprachmodifikatoren als Theaterinstrument, führt man auf den Anfang des 17. Jhs. zurück. Die Puppenaufführungen in Sevilla im Jahre 1608 wurden von dem Geräusch der Cerbatana („Erbsenwaffe“ oder „pneumatische Pistole“) begleitet. Und die Puppenspieler in Kastilien verwendeten im Jahr 1611 „Pito“ (Trillerpfeife); seine Phrasen wurden von dem hinter der Bühne stehendem Deuter wiederholt. Es wurde auch berichtet, dass die Puppenspieler in Italien eine „Pivetta“ (Diminutiv von Pivo-Trillerpfeife) für Textrezitationen verwendeten. Dabei sprach nur ein einziger Puppenspieler für alle Figuren mit unterschiedlichen „Stimmen“, das heißt er verwendete dafür Trillerpfeifen unterschiedlicher Größen (die Größe der Trillerpfeife bestimmt ihr Timbre). In Deutschland verwendete man die Sprachmodifikatoren, um die Sprache des Teufels zu symbolisieren. In England wurde in der Mitte des 17. Jhs. der Swazzle oder Swotchel (aus dem Deutsch Schwassl – das Gespräch, Geschwätz) während der Punch-Aufführungen verwendet. Es ist interessant die Benennungen der Sprachmodifikatoren zu analysieren. Frank Proschan schrieb dazu in seinem Artikel: „Wir finden auch die Verwendung dieses Instrumentes (Sprachmodifikatoren) bei den französischen Puppenspielern im 18. Jhd.: Im Jahre 1722 schrieb Abbé Cherier, dass die Aufführungen mit der Teilnahme von Polichinelle von den Ordnungshütern nur dann erlaubt wurden, wenn die Sifflet-practique verwendet wurde, bei dem der Kompagnon, der die Fragen an Polichinelle gestellt hatte, involviert wurde. Die iranischen und afghanischen Puppenspieler verwendeten „Safir“, „Wizwizak“ oder „Pustak“, ein Schilfinstrument, das sie im Mund hielten. Und in dem türkischen Puppentheater Karagös wurde ein ähnliches Instrument-“Nareke“-verwendet. In Pakistan und Indien wird das Instrument „Booli“ („Sprache“, Gespräch“) genannt, verwendet, außerdem nehmen an der Puppenspielaufführung ein Musiker oder Übersetzer aktiv teil. In dem ägyptischen Handschuhpuppentheater „Araguz“ verwendete der Puppenspieler den Sprachmodifikator „Amana“. Dabei sprach er manchmal entweder für alle Helden der Aufführung oder nur für den Hauptdarsteller-Araguz. Dabei nahmen an dem Gespräch auch die hinter dem Bildschirm sitzenden Musiker teil. Der Name „Amana“ (bedeutet wörtlich Garantie oder Bürgschaft) und wird im Gespräch dann verwendet, wenn zwei Menschen in Anwesenheit der Zuhörer etwas so besprechen wollen, dass die anwesenden Personen sie nicht verstehen können. Es ist bekannt, dass auch die chinesischen Puppenspieler die Sprachmodifikatoren verwendeten („gou shuo“), […], und die koreanischen Puppenspieler sprachen mit knarrenden Stimmen durch ein Bambus- oder Schilfrohr.“ Die Verbalisierung der Puppensprache, das Verlangen nach der Texterklärung der Sprachmodifikatoren führte zu Entstehung einer besonderen Person in der Aufführung-den Übersetzer. Seine Rolle reduziert sich nicht zur Kommentierung der Handlung oder zur Erklärung schwieriger Passagen der deformierten Sprache des Puppenspielers. Vielmehr war der Übersetzer der Organisator der Aufführung, das Verbindungsglied zwischen dem Publikum und der Puppe. Dieser Mensch bewegte sich ständig, lief hin und her, wendete sich mal zu den Puppen, mal zum Musiker und mal zum Publikum. Er übersetzte, fragte, antwortete und kommentierte, fragte nach Applaus und zwang das Publikum, großzügig zu sein, indem er einen Tanz begann oder das von den Puppen angefangene Lied aufgriff. Die Hauptmethode der Textaufklärung besteht häufiger aus der Wiederholung der Worte, (die die Puppe sagte) als einer gestellten Frage. So zum Beispiel ein Dialog zwischen dem Punch und Judy: hier stellt nicht der Kommentator dem Punch die Fragen, sondern eine andere Puppe:

„Judy: What do you want?
Punch: A kiss!
Judy: A kiss! Girls and boys, shall I give Punch a kiss?“
Wenn man alle Schwierigkeiten der Verwendung von Sprachmodifikatoren analysiert, kommt die Frage: warum verwendet man überhaupt dieses Instrument, obwohl es eine andere Möglichkeit gibt, die Sprache oder Stimme eines Puppenspielers zu verändern? Frank Proschan erklärt es folgenderweise: „Die Motive, die dafür verantwortlich sind, kann man in der Tätigkeit eines Puppentheaters finden. Der charakteristische Laut des Sprachmodifikators zum Beispiel macht die Menschenmenge aufmerksam. Eine piepsende Stimme klingt grundsätzlich komisch, besonders für die Kinder, die den größten Teil des Publikums ausmachen…“Es gibt auch eine andere Version für die Verwendung dieses Instruments. Sogar wenn man sich nur auf eine europäische Tradition stützt, die sich am meisten von dem archaischen Theater entfernt hat, kann man feststellen, dass die modifizierte Stimme nur einer Puppe gehört, die die Verwandtschaft zu dem archaischen, ursprünglichen Theater beibehalten hat. Die seltsame Stimme Petruschkas, seine übergroße Nase, sein Buckel und seine Kleidung trennen ihn damit von den anderen Gestalten und rechnen ihn damit mehr dem Menschlichen, dem Diesseits zu. Die besondere, verzerrte Stimme ist die Stimme der Puppe. Alles andere-die menschliche Stimme, die der Puppe zugefügt wurde, ist nichts anderes, als ein Versuch, sie dem Menschen ähnlich zu machen.


Svetlana Libera, Jahrgang 1963, schloss ihr Studium der Sinologie an der Universität Bonn im Jahre 2015 mit dem akademischen Grad Doktor Phil. erfolgreich ab. Um Ihre Qualifikationen auch praktisch weiter auszubauen, unterrichtete die Autorin chinesische Sprache und Kultur an der VHS und indonesische Kunst an der Universität Bonn. Bereits während des Studiums entwickelte sie ein besonderes Interesse an Theaterkunst, das sie zum Verfassen dieses Buches motivierte.


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