Miller / Oelkers | Ist Dummheit lernbar? | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 267 Seiten

Miller / Oelkers Ist Dummheit lernbar?

Re-Lektüren eines pädagogischen Bestsellers
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-7296-2246-3
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Re-Lektüren eines pädagogischen Bestsellers

E-Book, Deutsch, 267 Seiten

ISBN: 978-3-7296-2246-3
Verlag: Zytglogge
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Der pädagogische Bestseller ?Dummheit ist lernbar? von Jürg Jegge wurde im deutschsprachigen Raum 200 000 Mal verkauft. Nur Alexander Neills ?Antiautoritäre Erziehung? toppte die Zahlen. Nachdem bekannt wurde, dass Jegge Schüler sexuell missbraucht hat, suchen die Autorinnen und Autoren durch eine Re-Lektüre nach Erklärungen, wieso ?Dummheit ist lernbar? zur Geburtsurkunde eines ?neuen Pestalozzi? werden konnte. Die Beiträge des vorliegenden Bandes beschäftigen sich nicht mit der Person Jegge, sondern mit dessen pädagogischen Schriften. Die grosse Bekanntheit, breite Akzeptanz und die unkritische Auseinandersetzung mit dem Buch nähren die Annahme, dass ?Dummheit ist lernbar? die Leserinnen und Leser von links bis rechts faszinierte, trotz der darin enthaltenen vernichtenden Lehrer- und Schulkritik sowie der Verachtung gegenüber «Unterschichtseltern». Was aber hat diese Faszination und Bewunderung ausgelöst? Allein dieser Frage wegen drängt sich eine Re-Lektüre auf. Aus dem Inhalt - Zur Wahrnehmung des Buches bei und nach seinem Erscheinen - Zum Kontext der Emanzipationspädagogik der 1970er-Jahre - Zur Sprache von ?Dummheit ist lernbar? - Über Jegges Bezugnahmen auf die Psychoanalyse - Jürg Jegge - Verteidiger von Kinderrechten? - Zum Vorrang der emotionalen Gemeinschaft in Jegges Pädagogik - ?Dummheit ist lernbar? neu und wiedergelesen - Zur Ästhetik von Jegges Publikationen - Der pädagogische Zirkel - Analogien zur Odenwaldschule: Warum erfreuen sich die Täter einer streitbaren Lobby? Mit Beiträgen von Patrick Bühler, Nicole Gönitzer, Hans-Ulrich Grunder, Andreas Kaiser, Veronika Magyar-Haas, Damian Miller, Petra Moser, Jürgen Oelkers, Peter Schneider, Urs Strasser, Brigitte Tilmann

DAMIAN MILLER Geb. 1962, besuchte das Lehrerseminar und unterrichtete mehrere Jahre an Volksschulen und Berufsschulen. Er studierte Psychologie, Pädagogik und Zivilrecht an der Universität Zürich und promovierte zu Herman Nohls ?pädagogischem Bezug?. Heute arbeitet er als Professor an der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG) und der Binational School for Education (BiSE) an der Universität Konstanz. Er lehrt und forscht zu Bildungsgeschichte und Bildungspolitik.
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Offener Brief an Jürg Jegge

Hallo Jürg,

Du erinnerst Dich sicher noch an den Brief, den Du mir am 27. Mai 2015 geschrieben hast. Damals haben mich Deine Erklärungen und Ausflüchte derart wütend gemacht, dass ich nicht darauf reagieren konnte und wollte. Heute will ich Deinen Brief, den ich in meinem Buch Jürg Jegges dunkle Seite abgedruckt habe, beantworten.

Ich erinnere mich noch gut daran, als wir, zwei Klassenkollegen und ich, in Deiner Dachwohnung an der Dorfstrasse in Embrach endlich unsere Texte für Dein Buch Dummheit ist lernbar fertig schreiben sollten. Wir würden schon viel zu lange herumtrödeln, hattest Du uns gesagt. Wir alberten herum und genossen den Moment ohne Dich. Uns war nicht nach Schreiben zumute.

Das hatte auch mit dem Thema zu tun. Wir sollten die schlimmsten Erlebnisse in unseren Familien aufschreiben. Das machte definitiv keinen Spass. Du wolltest alles über unser Familienleben wissen. Es ärgerte mich, dass Du immer Deine Nase in unsere Familienangelegenheiten stecken wolltest. Ich gab Dir auch zu verstehen, dass Dich das nichts angeht. Doch das kümmerte Dich nicht, vielmehr warst du aufdringlich und neugierig. Warum wolltest Du nur die schlimmsten Erlebnisse erfahren und nicht auch die guten? Diese könntest Du nicht brauchen, hast Du uns gesagt.

Als Du dann zurückgekommen bist, hast du geschimpft, weil wir nicht viel Brauchbares zustande gebracht hatten. Seppi sagte, er habe eher «rückwärts gearbeitet», nämlich zwei Worte ausradiert! Wir mussten lachen und fanden sein «rückwärts arbeiten» lustig. Da bist Du richtig sauer geworden. Erinnerst Du Dich? Du hast uns angewiesen, die Texte so zu schreiben, wie Du sie haben wolltest.

Damals standest Du unter grossem Druck, wie wir gespürt und wie du uns auch gesagt hast. Die Schulpflege sass Dir im Nacken, weil Deine Schule in Verruf geraten war. Du hast gespürt, dass es für Dich eng werden könnte. Die Schulbehörden wussten, dass Du den Schulunterricht vernachlässigt hast. Im Dorf gab es Unruhe, weil viele Bewohner ahnten, dass da etwas nicht stimmte in der abgelegenen Schule im Bauernhaus. Schliesslich blieb ihnen auch nicht verborgen, dass manche Schüler regelmässig bei Dir zu Hause ein- und ausgingen.

Und Du hattest Angst, dass unser dunkles Geheimnis publik würde. Du hast mich und andere Schüler sexuell missbraucht. Heute würde ich sagen: Du hast uns geschändet. Wir seien sexuell blockiert, hast du uns eingeredet, deshalb müsstest Du uns «therapieren». Ich musste mich ausziehen, neben Dich ins Bett legen, Du hast auf meinen Bauch ejakuliert und meinen Penis in Deinen Mund genommen. Uns zur Mutprobe aufgefordert, es Dir gleich zu tun.

Es hat mich angewidert, ich habe mich zutiefst geschämt. Doch Du sagtest mir, dass ich erst geheilt sei, wenn mich das Ritual nicht mehr ekle.

Um Dich zu rehabilitieren, wolltest Du Dein Buch so rasch als möglich herausbringen. Deshalb mussten wir unser Familienleben negativ schildern. Du wolltest Deine «Methoden» rechtfertigen, Deine unnatürliche Nähe zu uns Schülern als pädagogisches Konzept darstellen. Um bei den Lesern als besonders engagierter Lehrer dazustehen. Um zu kaschieren, dass Du uns Schülerinnen und Schüler schulisch vernachlässigst. Um von den «Therapien» in Deinem Bett abzulenken.

Du hast uns Schüler auch getäuscht. Du warst kumpelhaft, lässig, antiautoritär. Du hast uns zu Wochenendausflügen und Theaterbesuchen eingeladen. Du hast uns zu Komplizen im Kampf gegen die bünzligen Schulbehörden gemacht. Du hast uns von unseren Eltern entfremdet, damit wir über die «Therapie» und den Laueribetrieb, den du Schule nanntest, schwiegen. Dazu gehörte auch, dass Du die Bande zwischen uns und unseren Familien geschwächt und das Vertrauen zu unseren Eltern untergraben hast. Das war regelrechtes Mobbing gegen unsere Eltern, das Dir ebenfalls half, uns auf Deine widerliche Art nah zu kommen. Schmerzhaft nah.

Du hast uns Schüler manipuliert und unser Weltbild auf den Kopf gestellt. Ohne Dich wären wir verloren, hast Du uns eingetrichtert. Wir würden nie ein normales Leben führen können. Und schon gar kein befriedigendes Sexualleben.

So hast Du uns bewusst abhängig gemacht, damit wir Dich ja nicht verraten würden. Du wusstest genau: Wenn wir ausgepackt hätten, wärst Du im Gefängnis gelandet.

Zurück zu Deinem Buch: Nachdem wir die Texte nach Deinen Vorstellungen fertiggestellt hatten, hast Du sie uns abgenommen. Ich ahnte damals nicht, dass ich meinen Text nie wiedersehen würde, auch nicht in Deinem Buch.

Die Situation blieb für Dich ungemütlich, denn Du hast vergeblich versucht, einen Verlag zu finden. Nach drei Jahren liess sich Hugo Ramseyer erweichen, Dein Manuskript im damals noch kleinen Zytglogge Verlag zu drucken. Erinnerst Du Dich noch, wie erleichtert Du gewesen bist, dass Du nach all den Absagen doch noch einen Verleger gefunden hattest?

1976 überreichtest Du mir stolz ein druckfrisches Buch. Gespannt blätterte ich darin und las den Klappentext des Psychotherapeuten H. U. Müller. Mich traf fast der Schlag, schrieb dieser doch: «Jegge beschäftigt sich mit kaputten Menschen, die aus dieser Volksschule hervorkommen … Er hilft ihnen, solange sie es nötig haben und deckt dabei – zu seinem eigenen Grausen – immer deutlicher auf, was mit diesen Schülern gemacht wurde.»

Ich habe Dich zur Rede gestellt und Dich gefragt, wie ich mir mein Kaputtsein vorstellen müsse. Du konntest mir keine vernünftige Antwort geben. Ich war nach all der Arbeit auch frustriert, dass Du meinen Text nur verstümmelt und bruchstückhaft wiedergegeben hast. Du hättest unsere Schülerberichte ein wenig bearbeiten müssen, war Deine Antwort. In Wirklichkeit hast Du sie so umgeschrieben und montiert, dass sie in Dein «pädagogisches Konzept» passten.

Am meisten geärgert und verletzt hat mich aber, dass Du uns permanent und pauschal als Schüler aus der Unterschicht bezeichnet hast. Nach Deinem Konzept landeten nur Kinder aus unterprivilegierten Familien in der Sonderschule. Das traf auf mich nicht zu, aber auch auf ein paar andere Schülerinnen und Schüler nicht. Mein Vater hatte zum Beispiel eine gut florierende Pilzfarm mit mehreren Mitarbeitern. Er war nicht der einzige Unternehmer, den du zur Unterschicht zähltest. Es gab auch Väter in Kaderpositionen. Und was ist mit den Eltern, die einen Landwirtschaftshof betrieben? Auch diese gehörten für Dich zur Unterschicht.

Du hast uns immer gepredigt, ein Querdenker und freier Geist zu sein und niemanden in Kästchen oder Schubladen zu stecken. Doch genau dorthin hast Du uns in aller Öffentlichkeit verfrachtet. Und dies mit meinem vollen Namen im Anhang!

Beim Lesen des Buches habe ich auch immer wieder den Kopf geschüttelt: Wie hemmungslos Du Dich als aufmerksamen, einfühlsamen und engagierten Lehrer beschrieben hast! Es kam mir wie eine Fantasiewelt vor, denn Du weisst genau, dass Du nie einen Schulbetrieb geführt hast, der den Namen verdient hätte. Einen eigentlichen geregelten Schulunterricht bekamen wir nicht, gelernt haben wir kaum etwas. Damit hast Du uns ein Stück weit um unsere Zukunft betrogen.

Du hast keine Ahnung, was Du mit Deinem Buch auch bei unseren Eltern und Angehörigen angerichtet hast. Meine Mutter stand mir nach der Lektüre weinend gegenüber und fragte mich, ob sie tatsächlich eine so schlechte Mutter sei. Sie verstand die Welt nicht mehr. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und sie tat mir unendlich leid. Ich fühlte mich schuldig und war sehr traurig.

Zum Glück wusste sie nicht, wie Du über sie gesprochen hast, sonst wäre ihre Welt gänzlich zusammengebrochen. Oder hätte ich ihr sagen sollen, dass ich ihretwegen so verklemmt war und die Therapie bei Dir nötig gehabt hatte? Dass ich wegen ihrer prüden Erziehung meinen Penis in Deinen Mund stecken musste?

Ein paar Tage später sprach sie mich wieder auf Dein Buch an, weil es ihr keine Ruhe liess. Sie könne das alles nicht verstehen, sagte sie. Egal, was ich ihr vorwerfe, sie habe nach bestem Gewissen versucht, mir ihre Werte zu vermitteln: Anstand, Rücksicht, Respekt, das Einfügen in die Gemeinschaft und das Einhalten der Zehn Gebote. Sie und mein Vater hätten sicher auch Fehler gemacht, aber so schlecht seien sie nicht gewesen. Trotz allem liebe sie mich sehr, trotz allem sei ich ihr Sohn und werde immer ihr Sohn bleiben. Ich litt mit meiner Mutter mit, brachte aber keinen Ton hervor. Ihre Worte hatten mir aber gutgetan und gezeigt, dass sie nicht so herzlos war, wie Du sie hingestellt hast.

Ich knallte Dein Buch an die Wand und schwor mir, es nie wieder anzuschauen. Ich wollte auch niemandem erzählen, dass ich mit ihm etwas zu tun hatte und dass mein Name darin zu finden ist. Trotzdem blieb ich noch jahrelang in Deinem Netz gefangen.

Dein Buch ist für mich ein Machwerk. Du hast unsere Berichte, unser Verhalten, deine vermeintlichen Beobachtungen und Schulsituationen nach Belieben arrangiert und alles so interpretiert, dass daraus...


Oelkers, Jürgen
JÜRGEN OELKERS
Geb. 1947, studierte das Lehramt für Grund- und Hauptschulen an der Universität Hamburg und promovierte dort 1975 mit einer Arbeit über das Theorie-Praxis-Problem der Pädagogik. Nach Professuren an den Universitäten Lüneburg und Bern wurde er 1999 als Professor für Allgemeine Pädagogik an die Universität Zürich berufen. Seit 2012 ist er dort Emeritus. Seine Forschungsgebiete sind Reformpädagogik, Bildungspolitik und das Verhältnis von Demokratie und öffentlicher Bildung.

Miller, Damian
DAMIAN MILLER
Geb. 1962, besuchte das Lehrerseminar und unterrichtete mehrere Jahre an Volksschulen und Berufsschulen. Er studierte Psychologie, Pädagogik und Zivilrecht an der Universität Zürich und promovierte zu Herman Nohls ‹pädagogischem Bezug›. Heute arbeitet er als Professor an der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG) und der Binational School for Education (BiSE) an der Universität Konstanz. Er lehrt und forscht zu Bildungsgeschichte und Bildungspolitik.



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