E-Book, Deutsch, Band 1, 280 Seiten
Reihe: Siedler-Serie
Oke Liebe wächst wie ein Baum
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96122-708-2
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 280 Seiten
Reihe: Siedler-Serie
ISBN: 978-3-96122-708-2
Verlag: Gerth Medien
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Bestseller-Autorin Janette Oke wurde 1935 in Alberta, Kanada geboren. Heute lebt die Mutter von 4 erwachsenen Kindern nahe der elterlichen Farm, die sie zu einem Heimatmuseum umgebaut hat, und genießt neben der Tätigkeit als beliebte Autorin ihr Dasein als vielfache Großmutter. Ihr außergewöhnliches Können wurde bereits mit vielen Preisen wie dem Gold Medallion Award, The Christy Award of Excellence und President's Award der Evangelical Christian Publishers Association ausgezeichnet.
Autoren/Hrsg.
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Es ist ein Schnitter
Die beinahe grellen Strahlen der Morgensonne verhießen einen ungewöhnlich warmen Oktobertag. Mühsam wachte Marty nach einem unruhigen, von Albträumen gequälten Schlaf auf. Was war nur mit ihr los? Sie begrüßte doch sonst jeden neuen Tag voller Schwung und Abenteuerlust! Langsam kam ihr alles wieder zum Bewusstsein und sie ließ sich voller Schmerz auf ihr Lager zurückfallen. Ihr schmaler Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.
Clem war nicht mehr bei ihr! Der starke, fröhliche, jungenhafte Clem, der ihr Herz so stürmisch erobert hatte. Es waren nicht einmal zwei Jahre her, dass sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. So selbstsicher war er aufgetreten, dass er beinahe großtuerisch gewirkt hatte. Vierzehn kurze Monate später war sie eine verheiratete Frau auf dem Weg nach Westen an der Seite des Mannes, den sie über alles liebte – bis gestern, als ihre ganze Welt zusammenbrach.
Gestern waren ein paar Männer zu ihr an den Planwagen gekommen und hatten ihr ohne große Umschweife berichtet, Clem sei tot. Sein Pferd war gestürzt. Er war gleich tot gewesen. Das Pferd hatten sie erschießen müssen. Ob sie mitkommen wollte?
Nein, sie würde hier bleiben.
Sollte einer von ihnen seine Frau zu ihr rüberschicken?
Nein, sie würde schon allein zurechtkommen.
Sie würden die Leiche versorgen. Die Frauen verstanden etwas davon. Die Nachbarn würden dann die Beerdigung vorbereiten. Zum Glück im Unglück war der Pastor gerade in der Gegend. Er hatte eigentlich heute weiterreisen wollen, aber bestimmt würde er einen Tag länger bleiben. Wollte sie wirklich nicht mitkommen?
Nein, nein, sie wollte lieber hier bleiben.
Aber sie war doch ganz allein.
Das war schon recht. Sie wollte allein sein.
Also gut, dann würden sie morgen wiederkommen. Sie sollte sich nicht sorgen. Es würde schon alles in Ordnung gehen.
Vielen Dank. –
Und dann waren sie losgeritten und hatten ihren Clem mitgenommen. Sie hatten ihn, in eine Decke gewickelt, auf dem Pferd eines Nachbarn festgebunden. Der Nachbar hatte das Pferd vorsichtig am Zaumzeug geführt.
Und jetzt war es Morgen, und die Sonne schien hell. Warum schien die Sonne bloß? Warum stimmte die ganze Natur nicht in die düstere Kälte ein, die ihr Herz frösteln ließ?
„O Clem! Clem!“, rief sie verzweifelt. „Was soll ich jetzt bloß anfangen?“
Es kam ihr nicht einmal in den Sinn, dass sie mitten im Herbst mutterseelenallein hier im rauen Westen war, dass es kein Zurück für sie gab, dass sie keinen Menschen kannte und dass sie Clems Baby unter ihrem Herzen trug. Ihr ganzes Denken und Fühlen war nur ein einziger dumpfer Schmerz.
Clem war so begeistert nach Westen losgezogen. „Dort im Westen gibt’s alles, was das Herz begehrt! Land kann sich jeder nehmen, so viel er will.“
„Ja, aber die wilden Tiere? Und die Indianer?“, hatte sie bange gefragt.
Er hatte sie bloß ausgelacht und sie mit seinen starken Armen durch die Luft gewirbelt.
„Und ’n Haus haben wir auch nicht. Bis wir da sind, ist es doch fast Winter!“
„Dazu gibt’s doch Nachbarn. Ich hab gehört, da draußen hilft einer dem andern.“
Und das hätten sie auch getan. Sie hätten sogar notfalls ihre reife Ernte stehen und liegen gelassen, um einem Neuling tatkräftig zu helfen, weil sie nämlich die eisigen Winde und Schneestürme des strengen Winters am eigenen Leibe erfahren hatten.
„Es wird schon alles gut werden. Zerbrich dir nur nicht den Kopf!“, hatte Clem zuversichtlich gesagt.
Sie hatten an einem Farmhaus hier in der Nähe angehalten, um sich nach den örtlichen Bodenverhältnissen zu erkundigen. Bei einer dampfenden Tasse Kaffee hatte der freundliche Farmer ihnen erklärt, dass er das Land bis unten an den Fluss bewirtschaftete, aber dass das fruchtbare Land dahinter bis hin zu den Bergen noch niemandem gehörte. Clem hätte am liebsten einen Luftsprung gemacht. Der bloße Gedanke, seinem Traum so nahe zu sein, wollte seine Begeisterung schier übersprudeln lassen. Voller Aufregung trieb er die Pferde zur Eile an, doch der mehrmals geflickte Wagen konnte dem Tempo nicht standhalten. Kurz vor dem Ziel brach ein Rad, und es sah so aus, als sei der Wagen jetzt endgültig nicht mehr zu reparieren.
Sie hatten an Ort und Stelle ein Lager für die Nacht aufgeschlagen. Clem hatte Steine und Aststücke unter dem Wagen aufgeschichtet, um ihn halbwegs gerade zu halten. Zu allem Unglück mussten sie am nächsten Morgen entdecken, dass eins der beiden Pferde sich über Nacht losgerissen hatte und davongelaufen war. Sein durchgerissener Zügel hing lose an dem Baum, an dem Clem es angebunden hatte. Auf dem anderen Pferd war Clem dann losgeritten, um Hilfe zu holen, und jetzt würde er nie wiederkommen! Kein Stück Land würde je seinen Namen tragen. Er war nicht einmal dazu gekommen, sein eigenes Haus zu bauen.
Geräusche von draußen rissen sie aus ihren Gedanken. Mit tränenverschleierten Augen lugte sie unter der Plane hervor. Vier Männer mit ernsten Gesichtern schaufelten in der Erde unter der größten Fichte ein Loch. Erneut brach der Schmerz in ihr auf. Clems Grab! Was die Männer da aushoben, war Clems Grab! Sie hatte nicht geträumt. Es war alles wahr. Clem war tot. Sie war allein und jetzt sollte ihr Clem auf geborgtem Boden begraben werden.
„O Clem, was mach ich bloß?“
Sie weinte sich aus, bis keine Tränen mehr kamen. Die Männer schaufelten noch immer. Jedes Scharren versetzte ihrem Herzen einen neuen Hieb.
Auf einmal hörte sie mehr Stimmen. Das mussten die anderen Nachbarn sein. Wenn sie sich nur zusammenreißen konnte! Clem würde sich sonst für sie geschämt haben.
Sie stand von ihrem Lager auf, strich sich über das zerzauste Haar und zog ihr dunkelblaues Überkleid an. Das schien ihr das einzig angemessene Kleid zu sein. Ein besseres hatte sie nicht. Mit einem Handtuch und einem Kamm in der Hand kletterte sie vom Wagen und ging zum Brunnen hinüber, um sich das rot geweinte Gesicht zu kühlen und ihr wirres Haar in Ordnung zu bringen. Dann straffte sie die Schultern, hob den Kopf und ging ihren neuen Nachbarn entgegen.
Alle zeigten ihr stille Anteilnahme. Marty spürte es. Das war kein gespieltes Mitleid, sondern ein aufrichtiges Verstehen. So war es im Westen. Das Leben war nicht einfach hier. Fast jeder der Nachbarn hatte selbst einmal Schweres erlebt. Man ließ sich durch so etwas nicht unterkriegen; man durfte sich einfach nicht unterkriegen lassen. Das Leben ging weiter. Für Gefühlsduselei hatte hier niemand weder Zeit noch Kraft. Mit den schweren Zeiten musste man irgendwie fertig werden. Der Tod war etwas ganz Natürliches, und wenn es auch nicht leicht war, musste man sich aufraffen und weitergehen.
Der Reiseprediger hielt die Grabrede. Er sagte etwas von trauernden Hinterbliebenen, die in diesem Fall aus einer einsamen, schmalen Person und ihrem ungeborenen Kind bestanden.
Der Prediger sprach Worte des Trostes und der Ermutigung. Die Nachbarn hörten in stillem Mitgefühl zu. Jeder von ihnen hatte irgendwann einmal ähnliche Worte gehört. Nach der kurzen Grabrede drehte sich Marty um und ging zum Wagen zurück, während die vier Männer mit den Schaufeln Erde auf den einfachen Holzsarg häuften. Mehrere Nachbarn hatten die halbe Nacht damit zugebracht, Clems Sarg zu tischlern. Als Marty gerade im Gehen begriffen war, trat eine der Frauen auf sie zu und legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Ich bin Wanda Marshall“, sagte sie. „Wir haben zwar nur ein Zimmer, aber Sie können gern für ein paar Tage bei uns wohnen, damit Sie nicht so alleine sind.“
„Vielen Dank“, antwortete Marty kaum hörbar, „aber ich will Ihnen nicht zur Last fallen. Ich glaub, ich bleib einfach erst mal hier in dem Wagen. Außerdem brauch ich Zeit zum Nachdenken.“
„Ja, das kann ich gut verstehen“, sagte die Frau und ging weiter.
Marty hatte ihren Wagen noch nicht erreicht, als die weiche Hand einer älteren Frau sich ihr entgegenstreckte.
„Ist nicht einfach, so was! Hab ich selbst mal durchmachen müssen. Hab meinen ersten Mann vor Jahren auch unter die Erde bringen müssen.“
Sie hielt inne, bevor sie weitersprach.
„Sie haben sich bestimmt noch keine Gedanken gemacht, wie’s jetzt weitergehen soll, oder?“
Wortlos schüttelte Marty den Kopf.
„’ne Schlafstelle kann ich Ihnen nicht bieten; unser Haus ist voll bis unters Dach. Aber was zu essen, das können Sie bei uns kriegen. Wenn Sie Ihren Wagen neben unser Haus stellen wollen, helfen wir Ihnen gern mit Ihren Sachen, und mein Ben, Ben Graham heißt er, der bringt Sie dann in die Stadt, wenn Sie so weit sind.“
„Danke“, sagte Marty leise, „aber ich glaub, ich bleib fürs Erste hier.“
Wie hätte sie auch gestehen können, dass sie keinen blanken Heller in der Tasche hatte und dass sie sich ohne Geld in der Stadt keinen einzigen Tag halten konnte? Und wer würde schon eine junge, ungelernte Frau in ihren Umständen einstellen? Gab es überhaupt eine Zukunft für sie?
Ihre bleischweren Beine trugen sie zum Wagen. Sie hob die Plane und kletterte unter das Verdeck. Am liebsten hätte sie sich vor aller Welt verkrochen, um nur ja nie wieder einer Menschenseele begegnen zu müssen.
Es wurde Mittag. Die glühende Hitze legte sich wie eine schwere Decke auf sie. Alles drehte sich vor ihren Augen. Schließlich kletterte sie wieder aus dem Wagen und setzte sich ins Gras neben das zerborstene Rad. Die ganze Welt erschien ihr so trügerisch, unwirklich; dann schlug der dumpfe, lähmende Schmerz wieder wie...




