Petersen | Sieben Gräber für den Winter | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 1, 256 Seiten

Reihe: Ein Fall für David Maratse

Petersen Sieben Gräber für den Winter

Ein Grönland-Krimi
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-311-70629-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Grönland-Krimi

E-Book, Deutsch, Band 1, 256 Seiten

Reihe: Ein Fall für David Maratse

ISBN: 978-3-311-70629-8
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine Siedlung am Fuß des Bergs Inussuk. Dreiundvierzig Erwachsene leben hier, zwölf Kinder. Noch, denn der Friedhof wächst, während das Dorf schrumpft. Die Verdienstmöglichkeiten sind schlecht, die jungen Leute wandern in die größeren Orte an der Westküste ab. In eins der leer stehenden Häuser zieht Constable David Maratse. Bei seinem letzten Einsatz in der grönländischen Hauptstadt Nuuk wurde der Polizist so schwer verletzt, dass er dienstuntauglich erklärt und frühpensioniert wurde - und das mit nicht mal vierzig. Er lässt alles zurück, was er besitzt, will künftig nichts weiter tun als Fischen und Jagen. In Inussuk aufgewachsen ist Nivi Winther, inzwischen Vorsitzende der grönländischen Sozialdemokraten und amtierende Premierministerin. Als mitten im Wahlkampf ihre siebzehnjährige Tochter Tinka spurlos verschwindet, beauftragt sie Maratse, den Fall zu übernehmen. Winthers größter Konkurrent ist Malik Uutaaq, der eine neue nationale Identität und die Unabhängigkeit Grönlands propagiert und als machtgieriger Populist gilt. Und er soll die letzte Person sein, die das Mädchen lebend gesehen hat ...

Christoffer Petersen lebt heute in einem kleinen Wald in Jütland im Süden Dänemarks. Er begann, über Grönland zu schreiben, nachdem er nach Qaanaaq gezogen war, die größte Stadt im höchsten Norden des Landes. Sieben Jahre verbrachte er in Grönland: Er arbeitete in abgelegenen Gemeinden weit oberhalb des Polarkreises als Lehrer, lebte auf der Insel Uummannaq - auf Deutsch etwa »die Robbenherzförmige«, benannt nach dem herzförmigen Berg in ihrer Mitte - und in der grönländischen Hauptstadt Nuuk, wo er an der Hochschule und der Polizeiakademie unterrichtete. Petersen hat verschiedene Krimis geschrieben, die in der Arktis und in Skandinavien, vor allem aber in Grönland spielen.
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Sapaat SONNTAG


1


Sie gruben die Gräber in die widerspenstige, zwischenGranitbrocken gezwängte Erde am Knie des Bergs. Der Friedhof war klein, aber groß genug, um alle Mütter, Väter, Söhne und Töchter Inussuks aufzunehmen, seit das erste Grab den letzten Steinhaufen ersetzte und Babys, die den Winter nicht überlebten, nicht mehr mumifiziert wurden. Die Winter waren genauso dunkel, die Sommer genauso hell, nur die Todesfälle waren nicht mehr so häufig, und das Essen, aus dem Meer oder dem Laden, war leichter zu beschaffen. Trotzdem hoben sie weiterhin jeden langen Sommer die Gräber aus, um sich für einen weiteren dunklen Winter zu rüsten, wenn die Tuberkulose vielleicht einen Großelternteil oder ein Enkelkind dahinraffte, ein Wintersturm einem Jäger zum Verhängnis wurde oder eine Depression jemanden dazu brachte, sich das Leben zu nehmen. In der Hoffnung, es wären zwei zu viel, hoben sie zwei Gräber für Selbstmörder aus. Eins gruben sie für eine Kneipenschlägerei, eins für einen Unfall beim Fischen, eins für das tot geborene Baby, das, nur eine schreckliche Bootsfahrt entfernt, im winzigen Leichenschauhaus des ärztlichen Versorgungszentrums wartete. Ein sechstes Grab gruben sie für Altersschwäche. Das siebte für den Krebs. Selbst in der Arktis, immer der Krebs.

Die Männer stiegen aus den Selbstmördergräbern und stützten sich kurz auf ihre Schaufeln, um zu den Eisbergen im Fjord hinauszuschauen. Vom Friedhof hatte man den besten Blick auf die Berge in der Ferne und die in den Schoß des Berges geschmiegte Siedlung. Inussuk war zwischen zwei Stränden eingekeilt, einer schwarz und weich, der andere hart, steinig und von Muscheln übersät. Der nach Süden und Osten ausgerichtete schwarze Strand, der die Wellen brach und die Wucht jedes Sturms abmilderte, war übersät von glitzernden Eisbrocken, groß wie die Hände, Herzen und Köpfe der Totengräber. Es waren aber auch größere, Growler genannte Eisbrocken darunter, die das von den Bergen herabfließende Wasser auf seinem Weg ins Meer umlenkten. Zwischen zwei solcher im Meer treibender Growler würde noch in diesem Herbst nicht weit vom Strand die Leiche eines Mädchens gefunden werden, aber davon wussten die Totengräber jetzt noch nichts.

Sie ließen den Blick vom Strand zur Siedlung wandern, aus der die abblätternden roten Holzwände des Dorfladens und der frische grüne Anstrich des Hauses der Naturkommission herausstachen, in dem zurzeit zwei dänische Künstlerinnen und ein kleines Kind wohnten. Einer der Männer deutete mit dem Kopf auf das Haus, wo das Mädchen im Sand und Schmutz unter der Veranda spielte. Die dreiundvierzig erwachsenen Bewohner von Inussuk glaubten, dass die zwei Künstlerinnen ein Paar waren. Die zwölf Kinder waren zu jung, um sich darüber Gedanken zu machen, und waren nur froh, eine neue Spielkameradin zu haben, ein Mädchen mit blonden Haaren.

»Achtundfünfzig Einwohner«, sagte der ältere der zwei Totengräber und zog eine Thermosflasche aus dem Tragbeutel, der neben ihm auf dem Boden lag. Ein Windstoß vom Fjord wehte den Dampf von der Öffnung der Flasche, als er den Verschluss abschraubte. Er goss dem Jüngeren Kaffee in einen Emaillebecher und füllte die Verschlusskappe der Flasche für sich selbst.

»«, sagte der jüngere Mann, als er den Becher an seine Lippen hob. Er schaute zur Siedlung hinab und beobachtete das im Schmutz spielende Mädchen, dann zuckte sein Blick zu seinem Sohn, der ihm vom Anleger zuwinkte. Die Lippen des kleinen Jungen bewegten sich, und sein Brustkorb hob sich, als er etwas rief. Der Mann winkte, und wie jedes Mal, wenn er Qaleraq sah, musste er daran denken, dass der Junge gesund, wissbegierig und schwer zu unterrichten war, aber unbedingt lernen wollte. Qualeraq würde viel mehr Winter erleben als der Sohn seiner Schwester. Das letzte Grab würden sie nämlich für seinen totgeborenen Neffen ausheben, und wenn sie die Energie dafür aufbringen konnten, würden sie ihre Spaten so tief wie möglich in den Permafrostboden stoßen, damit der Junge in der Erde unter ihnen in Frieden ruhen konnte.

Er trank seinen Kaffee aus, schnippte den Bodensatz in das Grab und warf die Tasse in den Beutel seines Partners. Dann stieg er in die Grube und begann zu graben. Der ältere Mann goss die Verschlusskappe der Thermosflasche noch einmal halb voll und blickte sich auf dem Friedhof um. Der Antennenmast warf seinen dünnen Schatten auf die Gräber seiner Mutter und seines Vaters mit den von der Polarsonne ausgeblichenen Plastikblumen. Er hatte das Versprechen abgelegt, sie zu ersetzen, das gleiche Versprechen, das er im Sommer davor gemacht hatte, als sie die sieben Gräber aushoben, und dann im September, kurz vor dem ersten Schneeeinbruch des Winters, noch ein achtes. Ein altes Ehepaar war von einer Lungenentzündung dahingerafft worden, Aput, der Mann, nur eine Woche nach seiner Frau Margrethe. Als der Totengräber den Blick den Weg hinunterwandern ließ, musste er daran denken, wie sie die Särge, einen nach dem anderen, vom Haus des Paares zum Friedhof hinaufgetragen hatten und während der Trauerfeier wieder zu Kräften zu kommen versuchten, bevor sie die engsten Freunde seiner Eltern in die Gräber direkt neben ihren hinabließen. Der Weg war steil, und er kannte jede Biegung, jeden Felsbrocken und jede Vertiefung. Er hatte sich fast sechs Jahre lang die Zehen an den unzähligen Felsbrocken angestoßen, war auf losen Steinen ins Stolpern geraten und hatte an der Seite des jüngeren Mannes Stufen in den Hang gegraben.

Sechs Jahre und jedes Jahr sieben Gräber.

Inussuk schrumpfte, aber der Friedhof wuchs. Die Jungen und gut Ausgebildeten wanderten in die größeren Dörfer und Städte an der Westküste Grönlands ab. Die Kinder verließen die Siedlung, gingen in Uummannaq zur Schule und kehrten nach der zehnten Klasse im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren zurück, um des beschaulichen Lebens zwischen den zwei Stränden und des Fehlens von Arbeitsplätzen und Verdienstmöglichkeiten schnell überdrüssig zu werden. Nur ein Junge war geblieben, um in denselben Gewässern zu fischen wie sein Vater, während seine Schwester und ihr Freund ein Stück die Küste hinunter nach Aasiaat gegangen waren, um an der dortigen Hochschule zu studieren.

»Hey«, sagte der ältere Mann, als er seinen Kaffee austrank.

»Was?«

»Hast du schon von dem Polizisten gehört?«

»Von welchem Polizisten?« Der jüngere Mann lehnte seine Schaufel an die Wand aus Erde und kletterte aus dem Grab.

»Er kommt nächste Woche her.«

»Hierher?«

»«, sagte der Ältere und deutete auf das dunkelblaue Haus hinter dem Dorfladen. »Er hat Aputs Haus gekauft.« Und nach einer Pause: »Hast du das nicht gewusst?«

»«, sagte der Jüngere. »Schon möglich.«

»Du solltest deiner Frau besser zuhören, Edvard. Meine Frau hat es ihr erzählt.«

»Mhm.«

Der ältere Mann fing Edvards Blick auf. »Ist irgendwas?«

Edvard zuckte mit den Achseln. »Das Baby«, sagte er und schaute zu der Stelle, wo sein Sohn jetzt mit dem dänischen Mädchen spielte. »Eigentlich möchten wir noch ein Kind, aber sie hat Angst, dass es ihr ähnlich gehen könnte wie ihrer Schwester. Sie meint, es könnte am Wasser liegen.«

»Am Wasser?«

»Das Metall, aus der Mine. Es ist auch im Fisch.«

»In diesem Wasser ist kein Metall.«

»Woher willst du das wissen, Karl?«

»Stimmt«, sagte Karl und seufzte. »Woher will ich das wissen?« Er schraubte die Thermosflasche zu und steckte sie in den Beutel, dann griff er nach seiner Schaufel, um in das Grab zu springen. Edvard hielt ihn mit einem Husten zurück. »Was ist?«

»Du hast mir doch gerade von dem Polizisten erzählt.«

». Ja, er zieht hierher.«

»Um zu arbeiten?«

»Um hier zu leben.«

Edvard schüttelte den Kopf. »Das hast du bereits gesagt. Aber wird er auch hier arbeiten? Als Polizist.«

»Wir hatten noch nie einen Polizisten in Inussuk.«

»Genau deshalb will ich es wissen.«

Karl lachte. »Machst du dir Sorgen wegen deinem Selbstgebrauten? Wenn er dir auf die Schliche kommt, gibt es vielleicht endlich mehr Hefe im Laden, und ich bekomme zur Abwechslung mal frisches Brot.«

»Vielleicht«, sagte Edvard grinsend. »Aber woher bekämst du dann deinen Schnaps, alter Mann?«

»Aus Uummaaannaq, wie alle anderen auch.«

»Wenn dir das lieber ist.« Edvard dachte kurz nach. »Aber warum kommt er hierher, wenn nicht, um zu arbeiten?«

»Buuti sagt, er geht schon in Pension. Frührente.«

»Dann ist er wohl krank«, sagte Edvard und schaute auf die zwei Gräber, die fast fertig waren.

»Er ist invalide«, sagte Karl. »Soviel ich gehört habe, geht er am Stock, vielleicht sogar mit Krücken.«

»Er zieht also aus Nuuk hierher?«

», aus Ittoqqortoormiit.«

»Tunu? Ostgrönland?«

».«

»Warum kommt er dann hierher?«

»Keine Ahnung. Kannst du ihn ja nächste Woche selbst fragen.«

Edvard brummte und sprang in das Grab, wo er nach seiner Schaufel griff und zu graben begann, während sich Karl im Grab daneben an die Arbeit machte. Sie arbeiteten weitere zwei Stunden und wurden wie immer gleichzeitig fertig, obwohl Karl Edvard im Verdacht hatte, dass er, kurz bevor er fertig wurde, immer langsamer schaufelte und eher bloß an den Rändern...


Leeb, Sepp
Sepp Leeb hat Amerikanistik und Germanistik studiert und lebt in München. Er hat unter anderem Michael Connelly, Lawrence Block und Thomas Harris übersetzt und findet, obwohl ein großer Fan von Harry Bosch, dass Renée Ballard seinem Lieblingsermittler bei ihrem ersten Auftritt in »Late Show« in nichts nachsteht.

Petersen, Christoffer
Christoffer Petersen lebt heute in einem kleinen Wald in Jütland im Süden Dänemarks. Er begann, über Grönland zu schreiben, nachdem er nach Qaanaaq gezogen war, die größte Stadt im höchsten Norden des Landes. Sieben Jahre verbrachte er in Grönland: Er arbeitete in abgelegenen Gemeinden weit oberhalb des Polarkreises als Lehrer, lebte auf der Insel Uummannaq – auf Deutsch etwa »die Robbenherzförmige«, benannt nach dem herzförmigen Berg in ihrer Mitte – und in der grönländischen Hauptstadt Nuuk, wo er an der Hochschule und der Polizeiakademie unterrichtete. Petersen hat verschiedene Krimis geschrieben, die in der Arktis und in Skandinavien, vor allem aber in Grönland spielen.



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