E-Book, Deutsch, Band 1, 444 Seiten
Reihe: His Dark Materials
Pullman His Dark Materials 1: Der Goldene Kompass
10001. Auflage 2010
ISBN: 978-3-646-92025-3
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band 1 der unvergleichlichen Fantasy-Serie
E-Book, Deutsch, Band 1, 444 Seiten
Reihe: His Dark Materials
ISBN: 978-3-646-92025-3
Verlag: Carlsen
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Philip Pullman wurde 1946 in Norwich, England, geboren. Er wuchs in Zimbabwe und Wales auf. Viele Jahre arbeitete er als Lehrer, bevor er sich ganz auf das Schreiben konzentrierte. Mit der »His Dark Materials«-Trilogie wurde er weltweit bekannt. Sie wurde in über 40 Sprachen übersetzt und Pullman erhielt zahlreiche Preise, darunter den Astrid-Lindgren-Gedächtnis-Preis für sein Gesamtwerk. Er lebt in Oxford.
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Eins
Die Karaffe
An die Wand gedrückt und von der Küche aus nicht zu sehen, schlichen Lyra und ihr Dæmon durch den dämmrigen Speisesaal. Die drei großen Tische, die die ganze Länge des Saales einnahmen, waren bereits gedeckt, die langen Bänke für die Gäste aufgestellt, und Tafelsilber und Gläser funkelten im letzten Tageslicht. Hoch oben an den Wänden hingen die Porträts früherer Rektoren. Am Saalende angekommen, blickte Lyra zur offenen Küchentür zurück, und als sie dort niemanden sah, stieg sie zu dem Tisch auf dem Podium hinauf. Er war mit Gold statt mit Silber gedeckt und statt der Eichenbänke standen dort samtgepolsterte Mahagonistühle.
Am Platz des Rektors blieb Lyra stehen und schnippte vorsichtig mit dem Fingernagel an das größte Glas. Der helle Klang war im ganzen Saal zu hören.
»Das ist nicht der Ort für solche Späße«, flüsterte ihr Dæmon. »Reiß dich gefälligst zusammen.«
Lyras Dæmon Pantalaimon hatte die Gestalt einer dunkelbraunen Motte angenommen, um in dem dämmrigen Saal nicht aufzufallen.
»Die machen in der Küche so viel Krach, dass sie das gar nicht hören«, flüsterte Lyra zurück. »Und der Steward kommt erst beim ersten Klingeln. Mach keinen Aufstand.«
Trotzdem legte sie die Hand auf das Glas, und Pantalaimon flatterte voraus und durch die angelehnte Tür am hinteren Ende des Podiums, die zum Ruhezimmer führte. Kurz darauf tauchte er wieder auf.
»Das Zimmer ist leer«, flüsterte er. »Aber wir müssen uns beeilen.«
Gebückt rannte Lyra um den Tisch und durch die Tür ins Ruhezimmer. Dort richtete sie sich auf und sah sich um. Das einzige Licht kam vom offenen Kamin, in dem ein helles Feuer brannte; gerade in diesem Augenblick rutschte ein Scheit nach unten und eine Fontäne von Funken stieg auf. Obwohl Lyra fast ihr ganzes Leben im College verbracht hatte, war sie noch nie im Ruhezimmer gewesen; nur Wissenschaftler und ihre Gäste durften es betreten, Frauen niemals. Nicht einmal die Putzfrauen durften hier sauber machen, sondern nur der Butler.
Pantalaimon setzte sich auf ihre Schulter.
»Zufrieden?«, flüsterte er. »Können wir wieder gehen?«
»Sei nicht albern! Ich will mich umsehen!«
Das Zimmer war geräumig und enthielt einen ovalen Tisch aus poliertem Rosenholz, auf dem verschiedene Karaffen und Gläser und eine silberne Rauchmühle mit einem Pfeifenständer standen. Die Anrichte daneben war mit einer kleinen Warmhalteplatte und einem Korb mit Mohnkapseln gedeckt.
»Die lassen es sich gutgehen, was, Pan?«, sagte Lyra leise.
Sie setzte sich in einen grünledernen Armsessel. Er war so tief, dass sie beinah darin lag. Sie setzte sich wieder auf, zog die Beine hoch und betrachtete die Porträts an den Wänden. Wahrscheinlich handelte es sich bei diesen düsteren Gestalten mit Roben und Bärten, die feierlich missbilligend aus ihren Rahmen auf sie herunterstarrten, um frühere Wissenschaftler.
»Worüber sie heute wohl reden werden?«, sagte Lyra oder vielmehr wollte sie sagen, denn noch bevor sie die Frage beenden konnte, hörte sie vor der Tür Stimmen.
»Hinter den Sessel – schnell!«, flüsterte Pantalaimon und schon war Lyra aufgesprungen und kauerte hinter der Lehne. Der Sessel war allerdings kein gutes Versteck: Er stand in der Mitte des Zimmers, und wenn sie nicht ganz leise war …
Die Tür ging auf und es wurde hell: Einer der Ankömmlinge trug eine Lampe, die er auf der Anrichte abstellte. Lyra konnte seine Beine sehen; sie steckten in dunkelgrünen Hosen und schwarzglänzenden Schuhen – ein Diener also.
Dann sagte eine tiefe Stimme: »Ist Lord Asriel schon eingetroffen?«
Das war der Rektor. Lyra hielt den Atem an. Sie sah, wie der Dæmon des Dieners hereintrottete – eine Hündin, wie bei Dienern üblich – und sich still zu seinen Füßen setzte. Dann kamen auch die Füße des Rektors in Sicht, in den abgenutzten schwarzen Schuhen, die er immer trug.
»Nein, Herr«, sagte der Butler. »Wir haben auch vom Luftdock nichts gehört.«
»Er wird Hunger haben, wenn er kommt. Führe ihn gleich in den Speisesaal.«
»Sehr wohl, Herr.«
»Und hast du den speziellen Tokaier für ihn bereitgestellt?«
»Jawohl, Herr. Jahrgang 1898, wie Ihr befohlen habt. Seine Lordschaft schätzt ihn ganz besonders, wie ich mich erinnere.«
»Gut, dann geh jetzt, bitte.«
»Braucht Ihr die Lampe, Herr?«
»Ja, lass sie hier. Sieh während des Essens herein und kürze den Docht.«
Der Butler verbeugte sich leicht und ging, gehorsam gefolgt von seinem Dæmon. Von ihrem Versteck, das eigentlich gar keines war, sah Lyra, wie der Rektor zu einem großen eichenen Kleiderschrank in der Ecke des Zimmers ging, seinen Talar von einem Bügel nahm und umständlich hineinschlüpfte. Einst ein kräftiger Mann, war er inzwischen weit über siebzig und bewegte sich steif und langsam. Sein Dæmon war ein weiblicher Rabe, der, sobald der Rektor den Talar angezogen hatte, vom Schrank herunterflog und sich auf seinem gewohnten Platz auf der rechten Schulter niederließ.
Lyra spürte, wie Pantalaimon vor Aufregung zitterte, obwohl er keinen Laut von sich gab. Sie selbst war angenehm gespannt. Der vom Rektor erwähnte Besucher Lord Asriel war ihr Onkel, ein Mann, den sie über die Maßen bewunderte und zugleich fürchtete. Er hatte angeblich mit der hohen Politik, geheimen Forschungsreisen und fernen Kriegen zu tun und sie wusste nie, wann er auftauchen würde. Er hatte ein heftiges Temperament: Wenn er sie hier erwischte, würde er sie schwer bestrafen, aber sie würde es schon überstehen.
Was sie dann sah, änderte freilich alles.
Der Rektor nahm aus seiner Tasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier und legte es auf den Tisch. Dann entfernte er den Stöpsel einer Karaffe, die mit einem golden leuchtenden Wein gefüllt war, faltete das Papier auf und ließ ein dünnes Rinnsal eines weißen Pulvers hineinrieseln; anschließend zerknüllte er das Papier und warf es ins Feuer. Er nahm einen Stift aus der Tasche, rührte den Wein um, bis das Pulver sich aufgelöst hatte, und verschloss die Karaffe wieder.
Sein Dæmon krächzte leise. Der Rektor antwortete mit gedämpfter Stimme und ließ seine trüben Augen unter den schweren Lidern durch das Zimmer wandern. Dann entfernte er sich durch die Tür, durch die er gekommen war.
»Hast du das gesehen, Pan?«, flüsterte Lyra.
»Natürlich! Jetzt schnell raus, bevor der Steward kommt!«
Aber noch während er sprach, ertönte eine Klingel vom anderen Ende des Saales.
»Die Klingel des Stewards!«, sagte Lyra. »Ich dachte, wir hätten noch Zeit.«
Pantalaimon flatterte schnell zur Tür und wieder zurück.
»Er kommt schon«, sagte er. »Und durch die andere Tür kannst du nicht raus …«
Die andere Tür, durch die der Rektor gekommen und gegangen war, ging auf einen belebten Gang zwischen der Bibliothek und dem Gemeinschaftsraum der Wissenschaftler. Zu dieser Tageszeit drängten sich dort Männer, die schnell noch zum Abendessen einen Talar anziehen oder irgendwelche Papiere und Aktentaschen im Gemeinschaftsraum deponieren wollten, bevor sie sich in den Speisesaal begaben. Lyra hatte durch die Tür verschwinden wollen, durch die sie gekommen war, und sie hatte damit gerechnet, dass ihr bis zur Klingel des Stewards noch einige Minuten Zeit blieben.
Wenn sie nicht gesehen hätte, wie der Rektor das Pulver in den Wein schüttete, hätte sie den Zorn des Stewards vielleicht in Kauf genommen oder gehofft unbemerkt über den belebten Gang verschwinden zu können. Doch sie war verwirrt und darum zögerte sie.
Dann hörte sie vom Saal her schwere Schritte. Der Steward kam, um nachzusehen, ob im Ruhezimmer der Imbiss aus Mohnkapseln und Wein bereitstand, den die Wissenschaftler nach dem Essen immer zu sich nahmen. Lyra hastete zu dem eichenen Kleiderschrank, öffnete ihn, kroch hinein und konnte gerade noch die Tür hinter sich zuziehen, bevor der Steward eintrat. Um Pantalaimon machte sie sich keine Sorgen; im Zimmer gab es viele dunkle Ecken und er konnte immer unter einen Sessel schlüpfen.
Sie hörte den pfeifenden Atem des Stewards und sah durch einen Spalt in der Schranktür, wie er die Pfeifen im Ständer neben der Rauchmühle ordnete und einen prüfenden Blick auf Karaffen und Gläser warf. Dann strich er sich mit beiden Händen die Haare über den Ohren glatt und sagte etwas zu seinem Dæmon. Als Diener hatte er eine Hündin; als Steward freilich eine Hündin von edler Rasse, einen rotbraunen Setter. Die Hündin schien misstrauisch und sah sich um, als ob sie einen Eindringling spürte, doch sie kam zu Lyras großer Erleichterung nicht zum Schrank. Lyra hatte Angst vor dem Steward; er hatte sie zweimal geschlagen.
Sie hörte ein leises Flüstern. Offenbar war Pantalaimon zu ihr hereingekrochen.
»Jetzt sitzen wir hier fest. Warum hörst du auch nicht auf mich!«
Sie antwortete erst, als der Steward gegangen war, um das Servieren der Speisen an dem Tisch auf dem Podium zu überwachen. Offenbar kamen jetzt die Wissenschaftler in den Saal. Lyra hörte Stimmengemurmel und das Schlurfen von Füßen.
»Ein Glück, dass ich nicht auf dich gehört habe«, flüsterte sie zurück. »Sonst hätten wir nicht gesehen, wie der Rektor Gift in den Wein schüttet. Pan, das war doch der Tokaier, nach dem er den Butler fragte! Sie wollen Lord Asriel töten!«
»Du weißt nicht, ob es Gift ist.«
»Natürlich ist es Gift. Weißt du nicht mehr, dass er den Butler hinausschickte, bevor er es in die Karaffe schüttete? Wenn das Pulver ungefährlich wäre, hätte der Butler doch ruhig zusehen...