Rehrmann | Simón Bolívar | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Rehrmann Simón Bolívar

Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamerika befreite
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8031-4376-1
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Die Lebensgeschichte des Mannes, der Lateinamerika befreite

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4376-1
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
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Als Hugo Chávez sein Land im Jahr 2000 in »Bolivarische Republik Venezuela« umtaufte, berief er sich explizit auf das Erbe des »Libertador«, des Amerika-Befreiers Simón Bolívar (1783-1830). Doch worin bestand das Projekt Bolívars - und ist es kompatibel mit der Politik des 21. Jahrhunderts? Norbert Rehrmann unterzieht die ideologischen Grundlagen Bolívars einer kritischen Würdigung, schildert, wie er zum Präsidenten von vier Staaten werden konnte, und untersucht die Bolívar-Darstellungen in der lateinamerikanischen Kunst und Literatur. Doch bleiben auch die Schattenseiten dieses »Helden« der lateinamerikanischen Emanzipation nicht unerwähnt - ein unerlässliches Buch für alle, die die Geschichte und Gegenwart Lateinamerikas besser verstehen wollen.

Norbert Rehrmann war Professor für hispanistische Kulturwissenschaften an der Technischen Universität Dresden. Er verfasste Artikel und Rezensionen u. a. für »Lettre International« und »Die Zeit« und schrieb bis zu seinem Tod 2010 zahlreiche Bücher zu spanischen und lateinamerikanischen Themen.
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Von Helden, Antihelden und ihren Verehrern: Prolog


»Und dann beachten Sie, was die Zeit in solchen Fällen tut; wie ein Mann, der zu Lebzeiten groß war, zehnmal größer wird, wenn er tot ist. Was für eine enorme mit Vergrößerungswirkung ist doch die Tradition!«

THOMAS CARLYLE, 1

»… das Maximum an Ruhm, der jemals einem Amerikaner, lebendig oder tot, zuteil wurde …«

GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ, 2

»Im modernen Lateinamerika«, schreiben Ben Fallaw und Samuel Brunk, »wimmelt es von Helden«.3 Wie viele es auch geben mag: Im kontinentalen Ranking politischer Megagestalten nimmt Simón Bolívar, ›El Libertador‹, seit knapp zweihundert Jahren den Spitzenplatz ein – völlig zu Recht, wie es scheint. Schließlich vollbrachte der militärische Befreier und politische Baumeister halb Südamerikas im jahrelangen Kampf gegen die Spanier ein Titanenwerk, das die Welt veränderte. Obendrein besaß der ›lateinamerikanische Napoleon‹, wie ihn viele nannten, ein intellektuelles Format, dem seine Mitstreiter nicht gewachsen waren. Bestens vertraut mit den antiken und zeitgenössischen Philosophen der Alten Welt, schrieb er politische Traktate, kühne Staatsverfassungen und kluge Essays, begeisterte mit rhetorischen Talenten und glänzte mit einem Stil, der sein riesiges Œuvre auch heute noch zu einem Lesevergnügen macht. Selbst das Liebesleben des siegreichen Generals und Präsidenten mehrerer Länder bot Nahrung für den Heldennimbus. Vom Schlachtfeld in die Betten: Das Heer von Frauen – Gelegenheitsgeliebten, verheirateten Damen der besseren Gesellschaft, Prostituierten und einigen etwas längeren Beziehungen –, mit dem sich Bolívar amüsierte, dürfte selbst auf dem Heimatkontinent der Machos rekordverdächtig sein. Eine historische Ausnahmefigur, deren ungebrochener Nachruhm ihren tatsächlichen Meriten gerecht wird?

Verfügte auch Bolívar, wie die Helden des magischen Realismus in der lateinamerikanischen Literatur, über die Fähigkeit, sein Grab zu verlassen, dann würde ihn die Prominenz, die er in Lateinamerika noch immer genießt, aber wohl trotzdem in Erstaunen versetzen. Wundern würde er sich zunächst darüber, dass sich dieses Grab, mit allen Insignien eines Helden, ja eines Heiligen, mitten in Caracas, seiner Geburtsstadt befindet. Hatten ihn seine Landsleute nicht als vogelfreien Verräter ins Exil getrieben – nach Kolumbien –, wo er wenige Jahre später, arm und verbittert, gestorben war? Dennoch befindet er sich in einer prächtigen Gruft im geliebten Heimatboden und wird seit Generationen, noch dazu von allen politischen Lagern, als (›Vater des Heimatlandes‹) gefeiert. Seit in Miraflores, dem Präsidentenpalast in Caracas, Hugo Chávez regiert, avancierte der berühmteste Sohn des Landes sogar zum Namensgeber der ›Bolivarischen Republik Venezuela‹ – nach Bolivien nun der zweite Staat, der nach ihm benannt wurde. Doch damit nicht genug: Seit mehr als anderthalb Jahrhunderten von Liberalen und Konservativen, Diktatoren und Demokraten gleichermaßen zur nationalen Ikone verklärt, wimmelt es im heutigen Venezuela geradezu von ›bolivarischen Zirkeln‹, ›bolivarischen Gewerkschaften‹, ›bolivarischen Schulen‹, ›bolivarischen Universitäten‹ … Für viele besonders überraschend, dass sich der reiche Aristokrat und Liebhaber autoritär-elitärer Regierungsformen obendrein zum Bannerträger eines ›Sozialismus des 21. Jahrhunderts‹ mauserte. Könnte er heutzutage den venezolanischen Präsidentenpalast besuchen – er verstünde wohl die Welt nicht mehr.

Irritieren würde Bolívar nicht allein sein rot lackiertes Konterfei, das urbi et orbi das Land seiner Väter ziert. Wundern dürfte ihn auch, dass er selbst jenseits der Landesgrenzen als Befreier verehrt wird. In Kolumbien, Ecuador, Peru und Bolivien, allesamt Länder, die er den verhassten Spaniern in verlustreichen Kämpfen entrissen hatte, steht sein Name noch immer hoch im Kurs. Dabei hatte man ihn zu Lebzeiten in den südlichen Andenländern als ungeliebten Diktator und Ausländer mit Argusaugen beobachtet. Nach seinem frühen Tode galt er aber auch dort als Unterpfand historischer Grandezza. Nur im Cono Sur, in Chile und den Río de la Plata-Staaten, die der Argentinier José de San Martín befreit hatte, wurde sein Ruf, ähnlich wie in Mexiko, von regionalen Heroen überschattet. Die Diadochenkämpfe der Unabhängigkeitskriege, vor allem die Rivalitäten zwischen Bolívar und San Martín, mündeten dort in ein Heldengedenken, das den Libertador klar auf die Plätze verwies, gelegentlich sogar ›verunglimpfte‹: Als der chilenische Maler Juan Dávila 1994 ein Porträt ausstellte, das Bolívar, hoch zu Rosse, als Transvestiten karikierte – das Bild war auf der zu sehen–, hagelte es Proteste aus den ›Bolívar-Ländern‹, begleitet von ernsten diplomatischen Verstimmungen. Das visuelle Sakrileg des Chilenen hätte der große Tote, wäre ihm ein Graburlaub vergönnt, aber wohl mit Gelassenheit aufgenommen, schließlich war er an derlei Querelen zwischen den Lateinamerikanern längst gewöhnt. Verblüfft hätte ihn allerdings ein Blick nach Norden, über die natürliche Grenze des Río Grande hinaus. Denn selbst in den Vereinigten Staaten – in Washington –, von denen er zu Lebzeiten das Schlimmste erwartet hatte, stieße er auf eine Bolívar-Statue, die, nur unweit vom Weißen Haus, seinen ewigen Ruhm verkündet. Wer wollte die Kaprizen des Weltenlaufs verstehen?

War Kolumbus, der Entdecker Amerikas, von seiner letzten Reise in die Neue Welt in Ketten zurückgekehrt und erst post mortem zum Helden verklärt worden, so wurde auch der Befreier des Halbkontinents, erst nachdem er das Zeitliche gesegnet hatte, zu einer historischen Lichtgestalt, nicht selten mit überirdischen Fähigkeiten. Vor allem im 19. Jahrhundert sahen die ›Heldenforscher‹ in solchen Megafiguren der Universalhistorie – Cäsar, Washington, Napoleon, mit denen Bolívar oft verglichen wurde – eine »«, die sie, so Thomas Carlyle, als eigentlichen Kraftquell historischen Fortschritts besangen: »Die Weltgeschichte«, so Carlyles Hymne auf die militärischen und geistigen Giganten der Vergangenheit, »war die Biographie Großer Männer.«4 Keine Einzelmeinung in einem Jahrhundert, dem es auch an Helden des Geistes bekanntlich nicht mangelte. In Nietzsches »Genialen-Republik« verständigen sich die »Riesen«, ungestört »durch mutwilliges lärmendes Gezwerge«,5 in einem exklusiven Zirkel untereinander. Dabei erschienen die heroischen oder genialen Attribute, die solchen Männern – natürlich handelte es sich ausschließlich um eine maskuline Spezies – nachgesagt wurden, als gleichsam göttliches Manna, mit den Worten Carlyles um einen »natürlichen Glanz durch das Geschenk des Himmels«.6 Alles an diesen Ausnahmeerscheinungen passte zusammen, »valour« entsprach »value«7 und »right« korrespondierte mit »might«.8 Als genauso selbstverständlich empfand der Autor die Verehrung des Helden, seine »Bewunderung« und, natürlich, die »Unterwerfung« unter seinen Willen.9 Gehörte Bolívar zu dieser Spezies? Oder war er nicht eher, wie der Mexikaner Leopoldo Zea zu sehen vermeinte, ein »Antiheld«, dem es, im Unterschied zu Alexander, Cäsar oder Napoleon, nicht um Eroberung, sondern um »Freiheit« ging?10

Paradoxerweise kam es selbst Zea, völlig zu Recht als großer Mann der lateinamerikanischen Kulturphilosophie geschätzt, nicht in den Sinn, seinen ›Antihelden‹ vom Sockel zu stoßen, geschweige denn, dessen allseits bewunderte Meriten plausibel zu erklären. Was also ist eigentlich ein ›Held‹, worin bestehen seine außerordentlichen Fähigkeiten, die die Fußgänger der Geschichte, Nietzsches »Gezwerge«, angeblich nicht besitzen? An Versuchen, dieser exklusiven Spezies wissenschaftlich auf die Spur zu kommen, hat es natürlich nie gefehlt. Selbst Carlyle, der seine Helden als quasi göttliche Sendboten verklärte, attestierte ihnen die eher irdische Fähigkeit, ihre Gefolgschaft mühelos auf »Herrschaft und Gehorsam« einzuschwören.11 Ähnlich sah es Wilhelm Ostwald, Autor eines voluminösen Buches über , der »die unmittelbare und persönliche Beeinflussung anderer Menschen« als Hauptcharakteristikum solcher Männer empfand.12 Im Unterschied zu den gleichsam himmlischen Eigenschaften von Carlyles Helden versuchte Ostwald, Nobelpreisträger für physikalische Chemie, die Fauna der Heroen mit den ›Gesetzen der Energetik‹ zu erklären: »Ein großer Mann ist ein Apparat«, verriet er seinen Lesern, »der große Leistungen verrichten kann.«13 Vielleicht waren es unfreiwillig humoristische Einlagen der zitierten Art, die, etwa zur gleichen Zeit, Max Weber bewogen, die ›charismatische Herrschaft‹ mit der soziologischen Lupe zu betrachten. Charisma, Synonym einer »außeralltäglichen persönlichen Gnadengabe«, bedeute, dass die mit solchen Gaben ausgestattete Person »als der innerlich ›berufene‹ Leiter der Menschen gilt und dass sie sich ihm nicht kraft Sitte oder Satzung fügen, sondern weil sie an...


Norbert Rehrmann war Professor für hispanistische Kulturwissenschaften an der Technischen Universität Dresden. Er verfasste Artikel und Rezensionen u. a. für 'Lettre International' und 'Die Zeit' und schrieb bis zu seinem Tod 2010 zahlreiche Bücher zu spanischen und lateinamerikanischen Themen.



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