E-Book, Deutsch, 1296 Seiten
Rühle Theater in Deutschland 1887-1945
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-10-403159-0
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seine Ereignisse - seine Menschen
E-Book, Deutsch, 1296 Seiten
ISBN: 978-3-10-403159-0
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Günther Rühle, einer der angesehensten deutschen Theaterkritiker und Theaterschriftsteller, wurde 1924 in Gießen geboren. Er war von 1960-1985 Redakteur im Feuilleton der ?Frankfurter Allgemeinen Zeitung?, seit 1974 auch dessen Leiter. 1985-1990 übernahm er die Intendanz des Frankfurter Schauspiels, war danach Feuilletonchef des ?Tagesspiegel? in Berlin. Er editierte u. a. die Werke von Marieluise Fleißer und von Alfred Kerr, entdeckte dessen ?Berliner Briefe?. Seine großen Dokumentationen ?Theater für die Republik. 1917-1933? und ?Zeit und Theater 1913-1945?, dann seine zusammenfassende Darstellung ?Theater in Deutschland. 1887-1945? wurden grundlegend für Erforschung und Nacherleben des Theaters jener Zeit. Günther Rühle war Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und Präsident der Alfred Kerr-Stiftung. Er wurde ausgezeichnet mit dem Theodor-Wolff-Preis (1963), dem Johann-Heinrich-Merck-Preis (2007), dem Hermann-Sinsheimer-Preis (2009), dem Binding-Kulturpreis (2010) und der Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille (2013). Am 10. Dezember 2021 starb Günther Rühle in Bad Soden am Taunus. Literaturpreise: Theodor-Wolff-Preis 1963 Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay 2007 Hermann-Sinsheimer-Preis 2009 Binding-Kulturpreis 2010 Rahel-Varnhagen-von-Ense-Medaille 2013
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtliche Themen Kultur- und Ideengeschichte
- Geisteswissenschaften Theater- und Filmwissenschaft | Andere Darstellende Künste Theaterwissenschaft Theatergeschichte
Weitere Infos & Material
Verstörte Gefühle
Wahrgenommen wurde an diesem Morgen vor allem der Bruch mit allen Konventionen. Die Wörter der Diskussion sagen, was vor sich ging. Der Begriff von »Kunst« wird noch eng verbunden mit der Vorstellung von Schönheit, Erhebung und den klassischen Idealen. Das Wort von Freude und Genuss gesellt sich schon dazu als Inbegriff unbezweifelter Vereinnahmung der Kunst in die Wonnen des Lebens, als seien die Gebilde der Kunst, die hier verteidigt wurden, – vom ›Götz von Berlichingen‹ über ›Die Räuber‹ und ›Kabale und Liebe‹ bis zu Hebbels ›Maria Magdalena‹ – einst zu Freude, Genuss und Erhebung geschrieben worden. Die von Ibsen intendierte neue Wahrheit wird dagegen als Entartung, Verirrung und Zerstörung bekämpft. Ja, es wird sogar auf die fatalen Muster des 1871 besiegten Erbfeinds Frankreich verwiesen – auf die verführerischen Sittenstücke von Vater und Sohn Dumas und die harten Wahrheiten des Émile Zola, auf die der heranreifende Naturalismus sich stützte.
Auch das gehört zur Situation: Das junge Deutsche Reich war gerade sechzehn Jahre alt. Noch lebte es vom Triumph über Frankreich, im Stolz auf den Sieg von Sedan und auf die eigene Reichsbildung. Es genoss die wirtschaftliche Prosperität der ersten Gründerzeit, den sich abzeichnenden technischen Fortschritt und die wirtschaftliche Entfaltung. In den frühen achtziger Jahren bildete und festigte sich das neue Nationalgefühl. Bismarck war noch Herr der Politik, die Zeit war anfällig für hohe Töne und Vorstellungen von großer Vergangenheit und glänzender Zukunft.
Der Autor, der diesen Strömungen Ausdruck auf dem Theater gab, hieß Ernst von Wildenbruch, Enkel des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen, Diplomat im Auswärtigen Amt. Mit großem Sinn für szenische Wirkungen erwarb er seit 1880 dem fast abgestorbenen historischen Drama neuen nationalen Stoff und Geltung. Die lange Reihe seiner Dramen von den ›Karolingern‹ über die deutschen Königsstücke bis zu den ›Quitzows‹ hat die nationale Dichtung und das nationale Bewusstsein gestärkt und manchem Nachahmer seiner Erfolge auf die Bühne geholfen. Wildenbruch sammelte noch einmal, was das Jahrhundert an historischer Erinnerung, an dramatischem Geschick, an sentimental-heroischer Empfindsamkeit und Bedürftigkeit hervorgebracht hatte. Es schien, als wolle er – am Ende der Epoche – ein Richard Wagner der Schauspielbühne sein. Effektvoll entwarf er seine historischen Tableaus, »baute« große Szenen. Als er den zentralen Konflikt mittelalterlicher Politik, den Gang des Königs Heinrich IV. nach Canossa zum Papst Gregor VII., um die Lösung vom Bann und die Kaiserkrone zu erreichen, 1896 aufs Theater brachte, waren schon längst die neuen Entwicklungen in Gang. Hier aber dröhnte noch das »Drama« alter Art mit heldenhaften Auftritten, heroischer Rhetorik und Gebärde. So:
GREGOR zu HEINRICH: Beuge dich! HEINRICH: Nein! GREGOR: Du mußt. HEINRICH: Nein! GREGOR Umsonst, was ich gesprochen und gefleht? Verloren die Stunde, die einmal war und nie wiederkehrt? Ah – Verstockter!! HEINRICH: Ah – Betrüger! GREGOR :Betrüger? HEINRICH: Ja! Dem die Menschen glauben sollen, er sei über Schwäche und Begier – und der du hungerst nach Macht und dich sättigst am leeren Schein! In dessen Seele ich zweimal gesucht und zweimal nichts gefunden habe als das Nichts! GREGOR: Nun sollst Du nicht Kaiser sein. HEINRICH: Nun werde ich Kaiser ohne dich! Rot bricht der Tag an – Tausende sind gestorben durch dich, Zehntausende werden sterben um dich – soll ihr Blut kommen über dich? Soll Kampf sein? GREGOR: Kampf von Geschlecht zu Geschlecht, vom Vater wider den Sohn! Kampf soll sein und Fluch auf dich über die Zeit hinaus in Ewigkeit! HEINRICH Du nicht Wundertäter – Hexenmeister, der die Welt verflucht. (…) du sollst verflucht sein, verflucht und verflucht! . GREGOR Beten – beten – beten – – (4. Akt, 5. Szene)
Das war doch eine andere Welt, die sich auf dem Theater, übereinstimmend mit dem wilhelminischen Geist der Zeit, noch darstellte, machtvoll, mit hohen Worten, bejubelt und staatlich gesegnet. Mit dem Pathos seiner szenischen Erfindungen war Wildenbruch aufgestiegen zum verehrten Dramatiker des neuen Reiches. Er war dem Kaiser, Wilhelm II., Freund, der selbst sich als Künstler verstand und sein »Königliches Schauspielhaus« nach seinen Wünschen dirigierte. »Die Dinge (liegen) in Deutschland jetzt so, daß das ganze Schicksal eines Kunstwerks und eines Künstlers wesentlich beeinflußt werden kann von dem Maß der Teilnahme, das ihm der Kaiser bekundet«, schrieb der junge Kerr schon am Beginn seiner journalistischen Karriere.[11]
Zu seinem zehnten Regierungsjubiläum, am 15. Juni 1898, trat seine Majestät, der Kaiser, vor die Schauspieler seines Königlichen Theaters, sprach von seiner eigenen Erziehung in der »Schule des Idealismus« und folgerte, dass das »Königliche Theater vor allem dazu berufen sei, den Idealismus in unserem Volke zu pflegen« und dass es »ein Werkzeug in der Hand des Monarchen sein sollte«. Es habe »gleich der Schule und der Universität (…), das heranwachsende Geschlecht heranzubilden (…) beizutragen zu Bildung des Geistes und des Charakters und zur Veredelung der sittlichen Anschauung«. Dann wurde er deutlich: »Das Theater ist auch eine meiner Waffen. (…) Es ist die Pflicht eines Monarchen, sich um das Theater zu kümmern (…) eben, weil es eine ungeheure Macht in seiner Hand sein kann.« Dann bat er seine Schauspieler, ihm fernerhin beizustehen, »um dem Geiste des Idealismus zu dienen und den Kampf gegen den Materialismus und das undeutsche Wesen fortzuführen, dem schon leider manche deutsche Bühne verfallen ist. Und so wollen Sie in diesem Kampfe fest bestehen und in treuem Streben ausharren …«[12] Er verteidigte bis zum Ende seiner Regierung, bis 1918, den Idealismus in der Kunst gegen den »Verfall«, der sich mit Ibsens ›Gespenstern‹ scheinbar abzeichnete.
Der damals öffentlich zutage tretende Konflikt, was Kunst sei und sein solle, spiegelte exakt die Positionen, die Ibsen in sein Stück, in den Dialog der Helene Alving mit dem Pastor Manders eingebracht hatte. Sie waren aktuell und grundsätzlich. »Und die Wahrheit?«, fragt Frau Alving, – »Und die Ideale?«, fragt Manders dagegen. – Die Ideale! Das waren hier: die Familie, die Reputation, die Treue, die Liebe und Opferbereitschaft, die Pflicht, der schöne Schein über der Wirklichkeit. Die schlimme Wirklichkeit hinter der Fassade zu benennen war dem einen schon ein Sakrileg, »Frau Alving, da versündigen Sie sich«, sagt Pastor Manders; dem anderen war das klare, ungeschönte Wort ein Weg in die Freiheit. »Ach – Ideale, Ideale!« »Ich muß mich zur Freiheit durcharbeiten«, ruft Helene Alving – eine im Haus gebliebene Nora – gegen den Wust des Vergangenen, der über sie kam. (2. Akt, 1. Szene)
Die Vorstellung der ›Gespenster‹ ging in starkem Beifall und Protest zu Ende. Sie setzte auch Fontane »in höchste Spannung und Erregung«.[13] Noch am Abend schrieb er an Schlenther, der die Rezension für die Zeitung liefern musste, er fühle sich »gedrängt, selbst etwas über dieses merkwürdige Stück«, das er in seinem Tagebuch »ein sehr meisterliches, aber doch ganz schiefgewickeltes«[14] nennt, zu schreiben. Er sei für Ibsens Stück selbst voller Bewunderung, »Abweichung nur im Letzten und Innersten«.[15] Die Abweichung beschrieb er zwei Tage später ausführlich. Er folge nicht den Ibsenschen Thesen, dass, wer heiraten wolle, nach Liebe, nicht nach Geld heiraten und wenn er, zweitens, den Irrtum einer falschen Bindung erkenne, sich scheiden lassen solle. Das heißt, er reagierte nicht direkt auf das Schrecknis des Themas, er sah in Ibsen mehr einen Prediger von Regeln, mit denen die Welt doch nicht zu bessern sei. »Unter allen Umständen bleibt es mein credo, daß, wenn von Uranfang an, statt aus Konvenienz und Vorteils-Erwägung, lediglich aus Liebe geheiratet wäre, der Weltbestand um kein Haarbreit besser sein würde als er ist.«[16] Der Realist Fontane hielt dem Realisten Ibsen einen verkappten Idealismus vor; der sich freilich anders bestimmte als die fassadenhaften »Ideale« der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer bevorzugten Dichter.
Ibsens neuidealistische Position ergab sich aus seinem Versuch, der Gesellschaft Denkbilder zu geben, die auf die Veränderung der Verhältnisse zielten. Von einer »Revolutionierung des Menschengeistes« sprach er. Der Skeptiker Fontane betrachtete den Moralisten Ibsen, ohne die neue Energie zu verkennen, die mit ihm in der dramatischen Kunst spürbar wurde. Eine Energie, die die alten Positionen des heroisch-pathetischen Historienstücks wie die Stücke lustvoller Unterhaltung erschütterte. Das historische...