Schuberth | Lord Byron, der erste Anti-Byronist | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 528 Seiten

Schuberth Lord Byron, der erste Anti-Byronist


1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-8353-8700-3
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

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ISBN: 978-3-8353-8700-3
Verlag: Wallstein Erfolgstitel - Belletristik und Sachbuch
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In zwölf Essays nähert sich Richard Schuberth dem Dichter Lord Byron an und setzt dessen innere Widersprüche in Beziehung zu den Widersprüchen seiner Zeit sowie zu Problemen und Diskursen der Gegenwart. Wie niemand sonst polarisierte Lord Byron (1788-1824), »der erste Popstar der Geschichte«, schon zu Lebzeiten und entzauberte selbst den Mythos vom düsteren Helden, Libertin, Bürgerschreck und Freiheitskämpfer. In einem thematisch vielseitig angelegten Essayband rekonstruiert Richard Schuberth die Umbruchzeit zum sittenstrengen Viktorianischen Zeitalter und rehabilitiert »Byron, den ersten Anti-Byronisten« als entspannten Kritiker von Identität, Starkult und des eigenen Narzissmus. Schuberth befragt den Byron'schen Antihelden Byron zudem zu Orientalismus, Raubkunst und Postkolonialismus, der Erfindung des modernen Ich, zur »Byromania« und frühen Popkultur, zu Feminismus, Antisemitismus, seiner Körperbehinderung, seiner Bisexualität, zu Dandyismus, seinem Platz in den politischen Strömungen seiner Zeit und seinem Stellenwert als Dichter im Zwiespalt zwischen Aufklärung und Romantik. Abgerundet wird der Band durch Essays zu den »Byronisten« Michail Lermontow, Emily Brontë und Petar II. Petrovi?-Njego?.

Richard Schuberth, geb. 1968 in Ybbs an der Donau, studierte Kulturanthropologie, Philosophie, Psychologie und Geschichte in Wien. Er verfasste Romane, Komödien, Essays, Aphorismen, Lyrik, Songs, Dreh- und Sachbücher. Veröffentlichungen u.a.: Rückkehr des Dschungels (2023); Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung (2022); Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges (2021); Bus nach Bingöl (2020); Narzissmus und Konformität (2018); Karl Kraus - 30 und drei Anstiftungen (2016).
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Lord Byron und die Erfindung
des bürgerlichen Ichs


Selbstverlust durch Authentizität


»Die Geselligkeit des Spiels beruht nicht auf der gegenseitigen Selbst-Offenbarung. Menschen werden vielmehr dann gesellig, wenn sie voreinander Distanz wahren. Die Intimität zerstört sie dagegen.«

Richard Sennett

Byron wandelte nicht nur an der Bruchkante zweier Zeitalter. Der Riss verlief mitten durch ihn hindurch. Was die Welt an ihm interessant fand, war – niemand wusste es besser als er – Schall und Rauch, Täuschung und Projektion. Dass er diesen Riss erkannte und beredt machte, ist sein bleibendes Verdienst, sein wahrer Heroismus. Der verächtliche Individualismus des Childe Harold, mit dem der adoleszente Lord sich selbst mystifizierte, lieferte eines der reizvollsten Identifikationsmodelle für seine eigene und folgende Generationen, eine prächtig-schöne, einsame Raupe, aus deren Verpuppung indes außer ihm kein Schmetterling schlüpfen würde. Das Ich ist eine Falle. Die Sozialen Medien am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die aktuellen Friedhöfe dieses unerlösten Wiedergängers. Byron gelang es dennoch, die Verpuppung zu sprengen, nur um aus der von ihm mitgeschaffenen Romantik ins geliebte Augusteische Zeitalter zurückzufliegen, zurück in die Zeit von Alexander Pope, Jonathan Swift, Henry Fielding und Mary Montagu, von Vernunft, Witz und Spiel. Doch die Flugbahn in die Vergangenheit existierte nicht, der aparte, heimatlose Kohlweißling wurde als Schädling empfunden, und so blieb ihm nichts, als seine Zeitgenossen zu umflattern und zu necken.

Die Entwicklung des modernen, bürgerlichen Subjekts vollzog sich allmählich. Modelle der Periodisierung sind nicht mehr als Modelle. Wollte man aber einen abrupten psychohistorischen Umschlag postulieren, so könnte man den zum Beispiel auf den 2. Mai 1824 datieren. An diesem Tag sprach Johann Peter Eckermann zu Goethe: »Ich trage in die Gesellschaft gewöhnlich meine persönlichen Neigungen und Abneigungen und ein gewisses Bedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Ich suche eine Persönlichkeit, die meiner eigenen Natur gemäß sei; dieser möchte ich mich ganz hingeben und mit den andern nichts zu tun haben.« Darauf versetzt ihm der alte Goethe, der noch einer anderen Zeit angehörte, folgenden Rüffel:

»Diese ihre Naturtendenz ist freilich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsre natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Torheit zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen, ich habe es nie getan. Dadurch habe ich es dahingebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis menschlicher Charaktere, sowie die nötige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen. So sollten Sie es auch machen. Das hilft nun einmal nichts, Sie müssen in die große Welt hinein. Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen.«[1]

Goethe, der an anderer Stelle auch schrieb, wer in Gesellschaft vergesse, den Schlüssel von seinem Herzen abzuziehen, sei ein Narr, hatte gegenüber Eckermann, diesem Prachtexemplar kleinbürgerlicher Selbstfindung, freilich leichtes Spiel, sich als aristokratischer homme du monde in Kontrast zu setzen. Doch tadelte er auch den Eckermann in sich selbst, dessen Bedürfnisse ihm nicht fremd waren.

Viel wurde über Goethes Verliebtheit in die 50 Jahre jüngere Ulrike von Levetzow geschrieben, sein beständiger Altersschwarm aber war Lord Byron. Vom Beginn der Karriere des Engländers 1812 bis zu dessen Tod 1824 leuchtete ihm dieser westliche Stern ins Bewusstsein, in dem er eine jüngere, wildere, weniger affektkontrollierte Version seiner selbst erkannte und der weit genug von ihm entfernt war, um ihn neidlos bewundern zu können. Von Byrons übrigen Zeitgenossen unterschied Goethe, dass er nicht nur Byrons schwächere Werke, sondern auch den Don Juan zu schätzen wusste.

Wer den Verdacht der Verliebtheit zerstreuen will, wertet das begehrte Objekt hie und da auch mal ab. Gegenüber Eckermann tadelte Goethe wie ein strenger, aber insgeheim stolzer Vater immer wieder Byrons Lebenswandel und behauptete eines Tages: »Aber Lord Byron ist nur groß, wenn er dichtet; sobald er reflectirt, ist er ein Kind.«[2] Ein vermessenes Urteil von einem, der lediglich Byrons lyrische Dichtung kannte. Nun enthielt sich Goethe selbst in seinen Reflexionen jeglicher Systematik, weshalb ihn der philosophische Kanon auch als philosophierenden Dichter und bestenfalls lebensklugen Aphoristiker abtat. Byron erhob nie den Anspruch, Denker zu sein, und kokettierte fröhlich mit seiner Infantilität, dennoch finden sich in seinen Briefen, Journalen sowie Zeitzeugenberichten scharfsinnige Reflexionen, die seinen älteren Weimarer Bewunderer in Verlegenheit gebracht hätten. Vor allem hatte Byron das Problem mit dem Herzen und dem Schlüssel, also den zeittypischen Konflikt zwischen Selbstdistanz und Selbstoffenbarung, dadurch gelöst, dass er die äußeren Trakte seines geräumigen Herzens stets offen hielt, das Innere aber verschlossen. Das befähigte ihn, je nach Umgang und Laune, zwischen unmittelbarer Herzlichkeit und der Distanziertheit des Dandys zu wechseln, eine Rollenflexibilität, in der die neuen Apologeten des authentischen Ichs nichts als Unaufrichtigkeit sahen. Byron war noch mit den Werten einer Gesellschaft sozialisiert, in der Wahrheit auch in der Travestie gesucht wurde.

Wie der Cowboy, der, die heranrückende Zivilisation im Rücken, gen Westen ausweicht, folgte Byron der untergehenden Zivilisation des Spiels nach Südosten – nach Italien, wo noch die Kultur des Karnevals und der unernsten Großsprecherei herrschte. In England hatte, wie er nicht zu deklamieren müde wurde, der Cant seine Regentschaft angetreten, ein Begriff, der mit Heuchelei nur provisorisch gefasst werden kann, aber den unvermeidlichen Kollateralschaden jeglicher Ambivalenzabwehr ausmacht.

Die Nach- und Vorteile von Geselligkeit und Eskapismus, den Narzissmus, der beiden innewohnen kann, hat Byron stets aufs Neue abgewogen und an sich selbst mit einer erstaunlichen Ehrlichkeit protokolliert, vor der sich Goethe mit der Maske der Contenance schützte. Am 25. Februar 1824 hatte dieser zu Eckermann gesprochen: »So konnte Lord Byron nie zum Nachdenken über sich selbst gelangen; deswegen auch seine Reflexionen ihm überhaupt nicht gelingen wollen …«[3] Nichts falscher als das, und man wundert sich, worauf Goethe dieses Verdikt gründet, und will sich nicht ausmalen, wie seine ohnehin enthusiastische Bewunderung an Intensität gewonnen hätte, wenn ihm je Byrons Reflexionen zu Gesicht gekommen wären.[4]

In seinen Gesprächen mit Lady Blessington (die in jeder Hinsicht reizvoller als Eckermann war) legte Byron genau dar, warum er, nachdem er jahrelang erfolgreich die Rolle des Gesellschaftslöwen gespielt hatte, diese Manege floh: »Ich empfinde die Gesellschaft als meinen Feind, und das mehr als in übertragenem Sinne: Ich bin sie nicht geflohen, ich habe mich zurückgezogen. Und auch wenn mich die Einsamkeit nicht besser machte, so hat sie doch verhindert, dass ich schlechter wurde, und das ist wohl eine Errungenschaft.«[5]

Als Mensch mit der Fähigkeit zur Selbstobjektivierung war Byron vielleicht weniger narzisstisch als die Gesellschaft, die ihren Narzissmus in ihm zu spiegeln versuchte. Doch wusste er alles über den sozialen Narzissmus, der seine Gier nach Gratifikation als Transparenz und Nahbarkeit zu kaschieren weiß, wie er alles über den Narzissmus der stoischen Einsamkeit wusste, den die Psychologie auch als narzisstischen Rückzug bezeichnet:

»Sie hat nur einen Nachteil (sprach Byron), einen schwerwiegenden zumal: Sie lässt uns eine zu hohe Meinung von uns selbst bilden. In der Gesellschaft werden wir gewiss oft an jeden unserer bekannten oder vermeintlichen Fehler erinnert; das hindert uns – es sei denn, wir verfügen über ein überdurchschnittliches Maß an Eitelkeit –, eine allzu hohe Meinung von uns zu bilden, denn wehe dem, der verlauten lässt, mehr von sich zu halten als von seinen Nächsten: ein Verbrechen, das alle gegen einen aufbringt. Das war der Felsen, an dem Napoleon scheiterte; er hatte die amour-propre anderer so oft verletzt, dass die froh waren, ihn von dem Podest zu stürzen, das ihn als Riese und sie als Zwerge erscheinen ließ. Besitzt ein Mann oder eine Frau auffallende Überlegenheit, muss ein Mangel oder eine Schwäche an ihnen aufgespürt werden, um diese auszugleichen, und damit ihre Zeitgenossen sich über ihren Neid hinwegtrösten können […]: ›Nun, wenn ich schon nicht das Genie von Herrn Soundso oder die Schönheit und das Talent von Frau Soundso besitze, so entbehre ich wenigstens des jähzornigen Temperaments des einen oder der überheblichen Eitelkeit der anderen.

Aber, um auf die Einsamkeit zurückzukommen (sagte Byron): Sie ist das einzige Narrenparadies auf Erden: Dort haben wir niemanden, der uns an unsere Fehler gemahnt oder durch Vergleiche demütigt. Unsere bösen Leidenschaften schlafen, weil sie nicht geweckt werden; unsere Werke erscheinen erhaben, weil kein gütiger und verständiger Freund uns dort, wo wir uns am brillantesten wähnen, auf ihre Mängel aufmerksam macht und auf Stil- und Bildfehler hinweist: Das sind die Vorzüge der Einsamkeit, und wer sie einmal gekostet hat, der kann wohl nie wieder in die geschäftige...


Schuberth, Richard
Richard Schuberth, geb. 1968 in Ybbs an der Donau, studierte Kulturanthropologie, Philosophie, Psychologie und Geschichte in Wien. Er verfasste Romane, Komödien, Essays, Aphorismen, Lyrik, Songs, Dreh- und Sachbücher.
Veröffentlichungen u.a.: Rückkehr des Dschungels (2023); Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung (2022); Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges (2021); Bus nach Bingöl (2020); Narzissmus und Konformität (2018); Karl Kraus – 30 und drei Anstiftungen (2016).



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