E-Book, Deutsch, Band 77, 259 Seiten
Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
Seikel Der Kampf um öffentlich-rechtliche Banken
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-593-41986-2
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Wie die Europäische Kommission Liberalisierung durchsetzt
E-Book, Deutsch, Band 77, 259 Seiten
Reihe: Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln
ISBN: 978-3-593-41986-2
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Daniel Seikel, Dr. rer. pol., arbeitet im Sonderforschungsbereich 597 »Staatlichkeit im Wandel« an der Universität Bremen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort. 9
Kapitel 1
Einleitung. 11
1.1 Funktionen von Banken für die Steuerung kapitalistischer Ökonomien im Spannungsfeld von Staat und Markt. 15
1.2 Grundzüge des deutschen Bankensystems: Die Bedeutung öffentlich-rechtlicher Banken für das deutsche Kapitalismusmodell. 17
1.3 Grundlagen, Besonderheiten und Konfl iktpotenziale der europäischen Beihilfekontrolle. 22
1.4 Die Liberalisierung öffentlich-rechtlicher Banken als erklärungsbedürftiges Ereignis. 26
1.5 Ausblick auf die Arbeit. 30
Kapitel 2
Forschungsdesign. 39
2.1 Vorüberlegungen zur Forschungsheuristik: Kausale Mechanismen und die konfliktgetriebene Dynamik politischer Prozesse. 39
2.2 Fallauswahl und Fragestellung: Die Bedeutung von Einzelfällen für die Ausdehnung des Anwendungsbereichs europäischen Rechts. 41
2.3 Das Problem der Generalisierbarkeit von Befunden aus Einzelfallstudien. 43
2.3.1 Der Wert von Einzelfallstudien für Theoriebildung. 44
2.3.2 Suche nach kausalen Mechanismen mittels Prozess-Analyse. 45
2.4 Methodisches Vorgehen bei Erhebung und Auswertung der Daten. 48
Kapitel 3
Die Überlegenheit der supranationalen Dynamik über die intergouvernementale Logik. 53
3.1 Strategiefähigkeit und autonome Gestaltungsmacht der Europäischen Kommission. 53
3.2 Warum ist die supranationale Dynamik der intergouvernementalen Logik überlegen?. 62
Kapitel 4
Integrationsdynamiken in der Europäischen Union: Finanzmarktintegration und Wettbewerbsrecht. 65
4.1 Die politisch blockierte Integration von Märkten für Finanzdienstleistungen: Dominanz der
Nationalstaaten. 65
4.2 Die Durchsetzung eines effektiven Beihilferegimes in der EU: Kommission und EuGH als strategisches Tandem. 70
Kapitel 5
Der lange Kampf zwischen privater und staatlicher Wirtschaft im deutschen Bankenwesen. 85
5.1 Die Geschichte öffentlich-rechtlicher Banken in Deutschland. 85
5.2 Der Konfl ikt um die Liberalisierung öffentlich-rechtlicher Banken in Deutschland. 129
5.2.1 Die Ausgangslage zu Beginn der 1990er-Jahre: Akteure, Interessen und Interessenkonflikte. 129
Kapitel 6
Sperrung, Entsperrung und Aktivierung von 'schlafenden' Optionen: Das Zusammenspiel von ökonomischen Paradigmen,
institutioneller Dynamik und strategischen Interaktionen. 177
6.1 Sperrung und Entsperrung rechtlicher Interventions - möglichkeiten. 178
6.2 Aktivierung 'schlafender' Optionen. 190
6.3 Zusammenfassung: Kompatibilität und Selektion von Interessen und die Reproduktion von Hegemonie. 206
Kapitel 7
Schlussbetrachtung. 213
7.1 Zusammenfassung der Ergebnisse. 213
7.2 Theoretische Schlussfolgerungen. 221
7.3 Daseinsvorsorge unter Druck. 232
Interview-Verzeichnis. 241
Abbildungen und Tabellen. 243
Abkürzungen. 245
Literatur. 247
Kapitel 1: Einleitung
»Als ich dies zum ersten Mal aufgebracht habe [Gewährträgerhaftung und Anstaltslast], hatte ich eine erste Diskussion mit dem deutschen Vertreter hier, der sehr oft zu uns kam wegen Staatsbeihilfen [...]. Als ich das aufgebracht habe, wir haben über andere Sachen gesprochen, dann brachte ich das auf, oh, der war wütend: »Das wird nie geschehen, das werden Sie nie fertigkriegen, nie!« Und ich erinnere mich noch, als ob es gestern wäre, wie er aus meinem Büro rausgelaufen ist, ganz aufgeregt, und noch im Korridor schrie: »nie, nie!«. Und zehn Jahre später war es gemacht. Er hat das also falsch eingeschätzt. Er dachte, die Deutschen können wegkommen mit einer Regelung, die deutlich vertragswidrig ist.« (Interview XIX/GD Wettbewerb)
Während der Finanzkrise beherrschten neben US-amerikanischen und britischen Finanzinstituten ausgerechnet deutsche Landesbanken wegen ihrer Beteiligung an hoch spekulativen Finanzgeschäften die Schlagzeilen - allen voran die größten öffentlich-rechtlichen Kreditinstitute, WestLB, BayernLB, HSH Nordbank und LBBW. Deutsche Landesbanken hatten »toxische« Wertpapiere in einem Volumen von insgesamt 500 Mrd. Euro angesammelt (Müller 2010: 36). Die Intensivierung des risikoreichen Kreditersatzgeschäfts war eine Reaktion der Landesbanken auf die vorangegangene Liberalisierung des deutschen öffentlichrechtlichen Bankenwesens durch die Europäische Union: Die Abschaffung von staatlichen Haftungsgarantien im Jahr 2001 hatte die Grundlage des herkömmlichen Geschäftsmodells der Landesbanken zerstört. Die Liberalisierung des deutschen Sparkassenwesens ist umso erstaunlicher, da die europäischen Mitgliedstaaten ursprünglich nicht vorgesehen - und vorhergesehen - haben, dass das europäische Recht als ein Hebel für die Veränderung nationaler Finanzsysteme dienen würde. Wie konnte sich die Kommission mit ihrem Liberalisierungsvorhaben dennoch gegen den entschlossenen Widerstand Deutschlands durchsetzen und den Vorrang des europäischen Wettbewerbsrechts über Bereiche, die vormals der nationalstaatlichen Regulierung vorbehalten waren, etablieren?
Die politisch geförderte Entwicklung von Sparkassen und Landesbanken ist der Ursprung eines inzwischen über hundert Jahre andauernden Konkurrenzkampfes zwischen privater und öffentlicher Bankenwirtschaft. Politiker förderten öffentlich-rechtliche Kreditinstitute, damit diese mit den dominierenden privaten Geschäftsbanken konkurrierten und somit ein Gegengewicht zur wirtschaftlichen und politischen Macht der großen Privatbanken bilden konnten. Öffentlich-rechtliche Banken sind daher seit jeher aggressive Konkurrenten der großen privaten Bankhäuser gewesen. Weder konnten private Geldinstitute ihre Marktanteile im Privatkundengeschäft ausbauen noch waren sie in der Lage, mit den niedrigen Zinssätzen zu konkurrieren, die die Landesbanken mittelständischen Unternehmen dank öffentlicher Garantien (Gewährträgerhaftung und Anstaltslast) anbieten konnten. Für die Privatbanken war es allerdings lange Zeit aussichtslos, die Privilegien ihrer öffentlichen Rivalen auf der nationalen Ebene anzugreifen; ein dichtes politisches Machtnetzwerk schützte die öffentlich- rechtlichen Kreditinstitute wirksam gegen alle Attacken.
Seit den frühen 1990er-Jahren befand sich das deutsche öffentlich-rechtliche Bankenwesen allerdings in einem ständigen Belagerungszustand. Als das europäische Binnenmarktprojekt an Dynamik gewann, erkannten deutsche Privatbanken im europäischen Wettbewerbsrecht eine Möglichkeit, den Verteidigungswall um den öffentlich-rechtlichen Bankensektor aufzubrechen. Im Jahr 2001 erzwang die Kommission, unterstützt von einer Allianz aus deutschen und europäischen Privatbanken, schließlich die sogenannte Verständigung: Staatliche Haftungsgarantien für Landesbanken und Sparkassen wurden nach einer Übergangszeit von vier Jahren abgeschafft. Am Ende hatte die Kommission durch die Kombination ihrer wettbewerbsrechtlichen Ressourcen mit politischen Strategien die Liberalisierung des öffentlich-rechtlichen Bankensystems in Deutschland erzwungen - ein überraschendes Ergebnis, das zu Beginn des Prozesses kaum vorherzusehen war. Die »Verständigung« war »eine der folgenreichsten Maßnahmen für die Landesbanken und Sparkassen der vergangenen hundert Jahre« (Seubert 2005: 30).
Die Abschaffung von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung hat für Landesbanken und öffentliche Haushalte fatale Konsequenzen gehabt. Die Auswirkungen der Liberalisierung des öffentlich-rechtlichen Bankenwesens auf das deutsche Produktionsregime sind dahingegen bislang vergleichsweise gering. So blieb die starke Marktstellung der Sparkassen erhalten; die Kreditversorgung des Mittelstands hat sich bisher nicht erkennbar verschlechtert. Dennoch ist die Liberalisierung des deutschen Sparkassenwesens über die Europaforschung hinaus auch in politökonomischer Hinsicht relevant: Der Fall demonstriert, dass der europäische Integrationsprozess eine zuvor nicht für möglich gehaltene strukturelle Veränderung des deutschen Bankensystems - dem Kern des deutschen Produktionsregimes - ermöglicht hat. Dies zeigt zum einen, dass die europäischen Kapitalismusmodelle von außen, über die europäische Ebene, einem starkem Veränderungsdruck ausgesetzt werden können. Dies ist besonders für die Forschungsstränge der Vergleichenden und der Internationalen Politischen Ökonomie von Belang. Vor allem aber ist das Bankensystem die »Kommandohöhe« des organisierten Kapitalismus. Im Wirtschaftssystem der Bundesrepublik ist die Kontrolle über das Bankenwesen eine entscheidende Machtressource (siehe Kapitel 1.1). Geht man davon aus, dass das deutsche Bankensystem auf einem über Jahrhunderte gewachsenen, in demokratischen Verfahren legitimierten Klassenkompromiss beruht, dann bedeutet dies, dass die Kommission - ein demokratisch allenfalls schwach legitimiertes Organ - die wirtschaftlichen Machtverhältnisse im Herzen der Politischen Ökonomie der Bundesrepublik verschoben hat. Dies ist der »harte« politökonomische Gehalt der Liberalisierung des öffentlichrechtlichen Bankenwesens durch die Europäische Kommission.
Auch für die Europaforschung ist die Liberalisierung deutscher öffentlichrechtlicher Banken aufschlussreich. Schließlich führte sie dazu, dass der Anwendungsbereich des supranationalen Wettbewerbsrechts auf nationale Finanzsysteme ausgedehnt wurde. Der Konfl ikt um die Liberalisierung von deutschen Sparkassen und Landesbanken war hierfür ein Schlüsselereignis (Interviews XV, XIX; Moser/Pesaresi/Soukup 2002: 3). Aus einem demokratietheoretischen Blickwinkel ist der hier betrachtete Fall auch deshalb bemerkenswert, weil die Mitgliedstaaten ursprünglich verhindert haben, dass die Kommission die Integration der Finanzmärkte eigenständig vorantreiben kann. Die nationalen Regierungen behielten die Kontrolle über diesen wirtschaftlich sensiblen Bereich, während die Kompetenzen der Kommission stark eingeschränkt wurden (siehe Story/Walter 1997). Da weder die demokratisch legitimierten Regierungen als »Herren der Verträge« dazu ihre Einwilligung gegeben haben, noch die Kommission als »Hüterin der Verträge« bei Wettbewerbsverfahren einer wirksamen demokratischen Kontrolle unterliegt, ist die Subsumption immer neuer Regulierungsfelder unter das europäische Recht durch Einzelfallentscheidungen der Kommission aus demokratietheoretischer Sicht problematisch.