Sigurðardóttir | Streichhölzer | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Sigurðardóttir Streichhölzer

Erzählungen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-945370-60-5
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählungen

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-945370-60-5
Verlag: Guggolz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ásta Sigurðardóttir (1930-1971) war eine Ausnahmeerscheinung. Schon ihre erste Erzählung 1951, »Sonntagabend bis Montagmorgen«, sorgte für Aufsehen, da sie nicht in die beschauliche isländische Gesellschaft passte. In ihrem Leben, das geprägt war von Liebschaften, Schwangerschaften und Kindern, von Unmengen an Alkohol und unbändigem Schaffensdrang, fand Ásta weder Ruhe noch Frieden. Umso erstaunlicher sind Präzision und Radikalität ihrer Geschichten sowie der sprachliche Glanz ihres Schreibens. Jede der 13 Geschichten, die sie bis zu ihrem frühen Tod verfasst hat, steht wie ein Solitär für sich, strahlt fast unheimliche Souveränität aus. Ihre Figuren zählen nicht zum klassischen Literaturrepertoire, es sind Tagediebinnen, junge Frauen, die sich nicht für ihr sexuelles Begehren schämen, verschüchterte Kinder, einsame gealterte Damen: beschädigte und überforderte Existenzen, getrieben von unstillbarer Sehnsucht. Ásta Sigurðardóttirs Erzählungen ermöglichen einen Blick in alltägliche Abgründe, in Verhärtungen und Vergeblichkeiten sowie in die Brutalität der Verhältnisse. Ihre lauernde Bedrohlichkeit beziehen sie daraus, dass sie Allgegenwärtiges beschreiben, das üblicherweise verdrängt und in seiner Zerstörungskraft unterschätzt wird. Tina Fleckens Übersetzung gelingt es auf eindrucksvolle Weise, die Unmittelbarkeit zu bewahren. Die Erzählungen überwinden sprachliche und zeitliche Distanzen spielend, haben keinerlei Kraft verloren und bohren sich so direkt in uns, wie sie es im Island der 1950er und 1960er Jahre getan haben. »Streichhölzer« ermöglicht endlich die verspätete Entdeckung einer großen isländischen Autorin.

Ásta Sigurðardóttir (1930-1971) wurde im Westen Islands geboren und wuchs ohne Elektrizität und fließendes Wasser auf. In den ersten Jahren bekam sie in der abgelegenen Gegend keine schulische Ausbildung. Ástas Vater gab seine Liebe zu Büchern und Literatur an seine Kinder weiter. Mit 14 Jahren zog Ásta nach Reykjavík, wo sie 1950 die Lehrerausbildung abschloss. Der damals ungewöhnliche Bildungsweg für ein Mädchen vom Land ging einher mit Aufsehen erregenden Auftritten: Ásta kleidete, frisierte und schminkte sich nach dem Vorbild glamouröser Filmstars. Außerdem begann sie zu trinken und wurde schwanger. Das Kind wurde von ihrer Mutter aufgezogen, damit Ásta ihre Ausbildung beenden konnte. Kurz darauf wurde sie wieder schwanger, doch der Vater des Kindes drängte sie zur Abtreibung. Ásta arbeitete als Aktmodell, mit ihrer Rebellion gegen gängige Moralvorstellungen galt sie bald als eine der ersten Bohémiennes in Island. Sie entwarf ein kunstvolles Spielkartenset, schuf Holzschnitte und Aquarellzeichnungen. In ihren Erzählungen berichtete sie von Außenseitern und Randfiguren. Ihre eigene Lebenssituation war zeitlebens prekär, 1957 heiratete sie den Dichter Þorsteinn frá Hamri, mit dem sie weitere fünf Kinder hatte. Nach der Trennung von ihm heiratete sie Baldur Guðmundsson. An den Folgen jahrelangen Alkoholkonsums starb Ásta 1971 im Alter von 41 Jahren.

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SONNTAGABEND BIS MONTAGMORGEN
Wenn jemand darauf geachtet hätte, wie die Frauen mich musterten, kurz bevor ich ging, wie sie sich Blicke zuwarfen, als sie an mir vorbeikamen, hätte er daraus geschlossen: – Da ist sie, die Schuldige – die Hure. Wie hätten sie mich auch verstehen können? Lehnten sie sich doch an ihre Ehemänner und schäkerten vertraulich mit ihnen, treuherzige Gesichter, dezent geschminkt und ordentlich frisiert. Jede von ihnen hatte nur einen geliebt – einen einzigen Mann. Ich sah aus wie ein Flittchen und starrte alle Männer begehrlich an, musste mich am Stuhl festkrallen, um mich ihnen nicht an den Hals zu werfen. Lange betrachtete ich die Haare eines Mannes und wartete auf eine günstige Gelegenheit, mich zu ihm zu setzen. – Du bist aufdringlich, sagte er. Verschwinde! Als ich mich auf dem Platz neben ihm niederließ, stand er auf. Seine Haare wellten sich wie ein Ozean aus schimmernden Metallfäden. Mit beiden Händen fasste ich hinein, wickelte die Haare um meine Finger und zog daran. Das war so wundervoll, dass ich den Tumult, der um mich herum entstand, nicht wahrnahm, nur den undeutlichen Klang von Frauenstimmen und zerbrechendem Glas hörte. Ich spürte, wie er sich wegduckte, um dem Schmerz auszuweichen. Bald wären sie mein, diese wogenden Haare, und ich würde meine Hände darin baden. Er zuckte zurück, als ich meinen Griff genießerisch verstärkte. Sie durften mir nicht entgleiten, um keinen Preis – eher wollte ich sterben. Plötzlich umfasste jemand meine Finger und bog sie zurück, bis es knackte. Zwar fühlte ich keinen Schmerz, aber mein Griff lockerte sich. Der mit den Haaren und ein anderer Mann lösten meine rechte Hand, doch mit der linken konnte ich wieder zupacken. So ging es eine ganze Weile. Keinem kam in den Sinn, dass ich mehr als eine Hand hatte. Ich war vollkommen ruhig, sicher, dass ich gewinnen und diesen Schatz besitzen würde. Ich fühlte nichts, wie sehr sie auch an meinen Fingern drehten und zerrten. Ohne nachzudenken, griff ich immer wieder nach den Haaren, sobald meine Hände davon weggerissen wurden. Doch dann durchfuhr mich ein heftiger Schmerz. Jemand zog meine Hand auseinander und renkte mir den Daumen aus. Ich spürte, wie sich die Knochen voneinander trennten. – Lass los, du Bestie, zischte der mit den Haaren. Ich sträubte mich, wand meine Hand widerwillig aus dem Haarschopf, ein paar ausgerissene, glänzende Kupferfäden hingen zwischen meinen Fingern. Der Ärmel meines Kleids riss ein, jemand stieß mich, und ich fiel auf den Boden. Der Teppich war nass, unter mir knirschten Glasscherben. Ich konnte spüren, wie sie durch den Stoff schnitten, in meine Haut stachen. Das Gesicht des Hausherrn schwebte über mir, feist, mit empörter Miene – ein bizarrer Mond. Er packte mich am Arm und schleifte mich über den Boden. – Sie gehen jetzt! Straßenmädchen wie Sie will ich hier nicht sehen. Niemand hat Sie eingeladen. Meine Frau und ich laden nie solche Frauenzimmer ein, solche … solche Dirnen. Der Treppenabgang klaffte kohlschwarz vor mir, bereit, mich lebendig zu verschlingen. Irgendwo tief unten konnte ich den Boden erahnen. Entsetzliche Angst packte mich, und ich tastete nach dem freien Arm des Verfolgers. Ich wollte um Gnade bitten, brachte aber vor Schluchzen kein Wort heraus. Gleich würde ich in diese grauenhafte Dunkelheit stürzen – ein Leben lang stürzt man, stürzt, und ganz unten auf dem Grund ist Teer, eine Teergrube, in der kleine Mäuse sich im zähen Schlamm winden, mit den winzigen, zierlichen Pfoten scharren und gegen den Tod ankämpfen. Dann tränkt der Teer ihr weiches Fell und füllt ihre großen, dunklen Augen – als ich gerade begann, zu fallen, zu stürzen, umfing mich jemand und zog mich wieder hoch. – Wirf sie nicht raus, sonst musst du mich auch rauswerfen! Sie sitzt bei mir Modell. Sie zittert ja wie ein verängstigtes Tier. Beide zerrten an mir. – Lass sie los! Deine Gläser kosten doch nicht mehr als zweifünfzig das Stück. Dann half er mir auf einen Stuhl. Ich wagte nicht aufzuschauen, Tränen flossen mir in einem fort über die Wangen und aus der Nase und sammelten sich in meinem Schoß, wo der Samtstoff sie aufsaugte. Ich musste an die Bewässerungsgräben denken, die ich früher einmal ausgehoben hatte. Niemand sollte mich weinen sehen. Ich starrte auf den Teppich, wo die zerbrochenen Gläser gelegen hatten. Die meisten Scherben waren aufgesammelt worden, aber die Weinflecken waren noch nicht getrocknet. Da musste ich noch mehr weinen, weil alles so traurig und aufwühlend war – die Gläser würden nie mehr heil, der Wein würde niemals getrunken, die abgerissenen, verdrehten Saiten meiner Finger würden nie wieder auf ihre Harfe aufgezogen werden. Etwas in meinem Inneren sagte mir, dass ich es verdient hätte, in dem Teersumpf zu versinken und qualvoll zu sterben, so wie die armen, kleinen, weichen Mäuse, die nie etwas verbrochen hatten. Ich, eine Mörderin, Diebin und Hure. Ein Heer von Richtern stand mir gegenüber. Sie waren ernst, streng und unglaublich weise. Ihren durchdringenden Blicken war ich schutzlos ausgeliefert. Alle meine Vergehen waren in meine Seele eingeschrieben und lagen vor ihnen wie ein aufgeschlagenes Buch. Angstvoll krümmte ich mich zusammen und zitterte vor Schluchzen. Ich wusste, um Gnade zu bitten war zwecklos, doch als letzte Hoffnung kam mir in den Sinn, dass Verbrecher mitunter begnadigt werden. Angespannt wartete ich. Mit einem Mal verwandelte sich eine Richterin in einen bebrillten Engel, der zu mir kam und mich stützte. Sie führte mich zur Toilette und strich mir sanft die Haare aus den Augen. – Wenn du weinst, muss ich auch weinen, sagte sie, und während sie mir mit dem Handrücken die Tränen abwischte, sah ich ihre Augen hinter den Brillengläsern feucht werden. Ich schmiegte mich an sie und hörte, wie ihr Herz schlug. Da wurden mir meine Sünden noch schmerzlicher bewusst, denn sie war so gut. Einiges beichtete ich ihr, und sie vergab mir, ohne sich um ihr Kleid zu scheren. Ich war nicht mehr allein – einer der guten Engel war bei mir. So fürsorglich war der liebe Gott. Dann war sie plötzlich verschwunden, und als ich sie jammernd suchte, traf ich auf einen weiteren verwandelten Richter. Er war zu einem Seemann geworden. – Weinst du etwa, Ásta? Du? Die Stärkste von uns allen? Er streichelte mit seiner großen Hand meine Wange. – Wer war böse zu dir? Den schlage ich zu Brei … zu Fischbrei, meine ich. – Niemand war böse zu mir, wisperte ich schluchzend. – Wir halten alle zu dir, Ásta, sagte dieser große Mann mitfühlend. – Geh nicht allein hinaus ins Dunkle, ich begleite dich, fügte er hinzu. Es ist nicht schön, allein unterwegs zu sein. Dann ging er seinen Mantel holen. Draußen wartete ich eine Weile und horchte auf Schritte von der Treppe. Es war eine steile und gefährliche Treppe, man musste vorsichtig sein. Ich wartete lange, doch als niemand kam, lief ich los und suchte nach den Gästen, die schon vor mir gegangen waren. Die Straßen waren leer und eigentümlich still. Die Häuser hatten die Augen geschlossen und schliefen tief und fest. Nur die Straßenlaternen hielten einsam Wache in der Dunkelheit, ohne zu blinzeln. Eine unheilvolle Stille lag über der Stadt. Meine Schritte hallten dumpf von den steinernen Wänden um mich herum. Vor dem Schaufenster des Souvenirladens an der Ecke Austurstræti und Aðalstræti blieb ich stehen. Schlagartig wurde mir bewusst, dass die Straßen schneefrei waren und sich keine Spuren abzeichneten. Ich konnte keiner Fährte folgen, und niemand würde mich finden; ich hatte keine Spur hinterlassen. Ich begriff, dass die Welt, nach der ich suchte, verschwunden, das Vergnügen vorbei und nirgends eine Begleitung in Sicht war. Man hatte mich wegen all meiner früheren und späteren Vergehen in die tiefste Dunkelheit hinausgejagt. Gott würde mir nicht vergeben. Jetzt verstand ich, wie Jesus sich am Kreuz gefühlt hatte, als er nach Gott rief und fragte, warum dieser ihn verlassen habe. Ich war vollkommen allein, verirrt, verloren; sogar Jesus hatte vergessen, wie es ihm am Kreuz ergangen war, und dachte nicht mehr an mich. Ihm ging es gut im Himmel. Nirgendwo konnte ich mich zur Ruhe betten, nirgendwo dem ruhigen Herzschlag eines anderen Lebewesens lauschen, die Augen schließen und einschlafen. Unter diesen steifen, stierenden Laternen war ich zu ewigem Wachsein verdammt. Wieder begann ich zu weinen, laut und hemmungslos, wie ein zu Tode verängstigtes Kind, das seine Mutter verloren hat und die Dunkelheit herannahen sieht. Die Laute wurden von einem Steinkoloss zum anderen geworfen und verhallten in der endlosen Ferne. Ich setzte mich auf die Straße, streckte die Beine aus, gab mich geschlagen und schloss die Augen, damit ich nicht sehen musste, wovor mir graute. Auf einmal hörte ich Schritte hinter der Straßenecke. Ich hielt die Luft an und horchte. Gott hatte mir wohl doch vergeben und einen weiteren Tröster gesandt. Es dauerte nicht lange, bis er um die Ecke marschierte. Ein Mann mittleren Alters, äußerst vertrauenerweckend. Er blieb abrupt stehen und wich ein Stück zurück, als er mich da...



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