Staats / Wassermann / Friele | Soziale Arbeit zwischen Krise und Kritik | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 351 Seiten

Reihe: Soziale Arbeit und gesellschaftliche Transformation

Staats / Wassermann / Friele Soziale Arbeit zwischen Krise und Kritik


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7799-8882-3
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 351 Seiten

Reihe: Soziale Arbeit und gesellschaftliche Transformation

ISBN: 978-3-7799-8882-3
Verlag: Julius Beltz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Krisen sind ein normaler Teil menschlichen Daseins. Hierin agiert die Soziale Arbeit nicht nur kompensatorisch und unterstützend, sondern auch empowernd und partizipativ. Zunehmende gesellschaftliche Ungleichheiten, Pandemien oder Kriege können die Klientel, die Institutionen oder gar die ganze Gesellschaft so verändern, dass die bestehenden Handlungs-, Kompensations- und Bewältigungsstrategien der Sozialen Arbeit nicht ausreichen. Auch Soziale Arbeit selbst kann dann - zwischen individuellem Verhalten und gesellschaftlichen Anforderungen - in Krisen geraten. Dieses Buch beleuchtet die zentrale Rolle von Krisen für Soziale Arbeit und setzt sich mit den daraus resultierenden Anforderungen auseinander. Es bietet eine umfassende wissenschaftliche Grundlage, um aktuelle Krisenphänomene und die daraus entstehenden Aufgabenfelder besser zu verstehen und neue Handlungsperspektiven zu entwickeln.

Martin Staats, Prof. Dr., M. A. Soziale Arbeit, ist Professor für Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule, Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Thüringen sowie Ansprechperson im Fachbereich Gesundheitsförderung und Prävention (DVSG). Katrin Sen (Dr. phil.) ist seit 2020 als Professorin an der IU Internationale Hochschule (Frankfurt am Main) am Fachbereich Soziale Arbeit tätig. Zuvor arbeitete sie von 2013 bis 2020 als Referentin für Soziale Stadtteilentwicklung und Gemeinwesenarbeit bei der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Soziale Brennpunkte Hessen e.V. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Soziale Teilhabe im Quartier, Migrations- und gerontologische Forschung sowie politische Jugendbildung.
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Weitere Infos & Material


Soziale Arbeit im Krisendiskurs: Zwischen Instrumentalisierung und Transformation


Ein Aufruf zum Widerstand gegen den Zeitgeist

Jens Rieger

1.Einleitung: Annäherung an einen unscharfen Begriff


Bei dem Begriff „Krise“ handelt es sich, analog zu den Begriffen „Sozial“ und „Freiheit“, um ein sogenanntes Wiesel-Wort. Es ist vage und unscharf ausgestaltet (vgl. Gutknecht 2003, S. 84–86) und kann eine Plethora von Bedeutungen wie Ausmaßen annehmen. Die Begriffsverwendung ist inflationär. Frühe Zeugnisse belegen, dass der Begriff wissenschaftlich seit der Antike in der Medizin etabliert ist und seither in diesen und psychologischen Kontexten genutzt wurde und wird (vgl. Graf 2020, S. 18–19). Mit Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich jedoch eine Übertragung auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse beobachten (vgl. ebd.). Besonders zeigt sich dies in der bioethischen Medikalisierungsdebatte, bei der medizinische Deutungsmuster auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse projiziert werden, um diese medizinisch zu behandeln (vgl. Seifert 2004, S. 36–39; Rieger 2024, S. 180–182). Die obig angesprochene inflationäre Nutzung findet sich seitdem besonders im politischen Diskurs wieder. Wird aktuell von einer Krise gesprochen, beispielsweise im politischen, gesellschaftlichen, medialen oder sozialarbeiterischen Diskurs, so wird meist auf ein virulentes Problem als unmittelbare Herausforderung verwiesen, welches sofortiger, in der Regel politischer Maßnahmen bedarf (vgl. Dollinger 2021, S. 275). Ob des dabei suggerierten, vermeintlichen Handlungsdrucks verbleibe oft keine Zeit für kritische Reflexionen und Analysen und die von den politisch verantwortlichen Akteur*innen hastig präsentierten Lösungs- und Regulierungsvorschläge werden schnell mit der Zuschreibung der Alternativlosigkeit versehen und etablierte Handlungsroutinen und Verfahren sowie Checks and Balances werden umgangen (vgl. Bösch et al. 2020, S. 6). Das dem Thatcherismus entspringende Akronym TINA (There Is No Alternative) wird dabei häufig rezitiert (vgl. Ratcliffe 2016, o.?S.). Zurecht weist die Demokratieforschung in diesen Kontexten auf die Gefahren der De-Politisierung hin (vgl. Bösch et al. 2020, S. 6).

Dieser Beitrag fragt daher nach den Auswirkungen politischer Krisennarrationen auf die Soziale Arbeit und ihren Folgen für die Profession und die Disziplin sowie für die Adressat*innen der Sozialen Arbeit. Es wird mit Bernd Dollinger (2021, S. 275) argumentiert, dass es dabei zu nicht-intendierten Folgen kommen kann. Zunächst wird in dieser vorgelegten Literaturstudie historisch argumentiert und an Beispielen herausgestellt, wie die Soziale Arbeit durch Krisenerzählungen politisch instrumentalisiert wurde, was in inhaltlichen und methodischen Anpassungsprozessen sowie der sozialpolitischen Kompensationsbeauftragung für Disziplin und Profession mündete. Auf dieser Basis wird konstruktivistisch wie kritisch analysiert und argumentiert, dass es sich bei öffentlicher Krisenrhetorik zumeist um Narrationen und Rahmungen handelt, denen machtpolitische Interessen zugrunde liegen, welche sich auf die Soziale Arbeit und ihre Adressat*innen auswirken und ambivalent zu dem berufsethischen Selbstverständnis der Profession stehen. Um die Resilienzen der Sozialen Arbeit und ihrer Klientel zu stärken, schließt dieser Beitrag mit einem Plädoyer zum Widerstand gegen zeitgenössische Krisenerzählungen, die in der Konsequenz für die Soziale Arbeit eine Symptombehandlung zu Ungunsten einer Ursachenbearbeitung von sozialen Problemen präferieren. Es wird sich somit für einen kritisch reflektierten Umgang in der Verwendung des Krisenbegriffs in der Sozialen Arbeit ausgesprochen, der die zentralen Problemlagen des 21. Jahrhunderts, die ungelösten sozial-ökologischen Fragen, fokussiert und Profession wie Disziplin in den nur multidisziplinär ausgestaltbaren Transformationsprozess der (Neu-)Ausgestaltung der Mensch-Umwelt-Beziehungen einbezieht.

2.Krisen sind Narrationen


„Krisen erklären sich nicht selbst zu Krisen“ (Dollinger 2021, S. 276), sondern sie werden zu solchen gemacht. Deutungsmächtige Akteur*innen formulieren und kommunizieren diese, dadurch wird die Krise im Diskurs anerkennungsfähig (vgl. ebd.). Krisen können somit als gesellschaftlich mehrheitsfähige Erzählungen, die komplexe Entwicklungen auf ein zeitgenössisches Momentum reduzieren (vgl. Bösch et al. 2020, S. 7, Dollinger 2021, S. 276), definiert werden.

An dieser Stelle sei eine methodologische Empfehlung gestattet, die im Verlauf des Beitrags zur Kritik an der bisher existierenden Forschung genutzt und expliziert wird. Die Frame Analysis ermöglicht ein wissenschaftliches Untersuchen von Punktierung, Attribution und Artikulierung von Wahrnehmungen (vgl. Kern 2008, S. 145), wie sie in Krisenerzählungen zu finden sind. Krisennarrationen haben die Funktion, die Rezipient*innen aufzurütteln und im Sinne der Erzählung einzubinden (vgl. Dollinger 2021, S. 276). Die Frame Analysis kann mittels der Analyse obiger Punkte in Krisennarrationen genau diese Funktion explizieren, und zwar von ihrem Ziel heraus, dem der Konsensherstellung (vgl. Rieger 2017, S. 47–49).

Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer deutet zeitgenössische Krisennarrationen als Politikversagen (vgl. ebd. 2023, S. 51–52) und spricht in diesem Kontext und in Anlehnung an den Sozialpsychologen Leon Festinger von einer „kognitiven Dissonanz“, d.?h. „ein unangenehmes Gefühl, das dann entsteht, wenn die Wirklichkeit sich anders darstellt als die Erwartung, die man an sie gehabt hat“ (Welzer 2023, S. 51). In einer Welt, in der die Menschen und die Politik Normalitätserwartungen pflegen, werden sie mit ständig neuen Problemszenarien konfrontiert. Um Handlungsfähigkeit zu kommunizieren und Machtpositionen zu erhalten, greifen politische Akteur*innen zu einer erprobten Form der Dissonanzreduktion: Der Krisennarration (vgl. ebd., S. 52). Kritisch betrachtet kann also von einer Externalisierung von Verantwortung gesprochen werden. Die Krisennarration suggeriert, dass es sich um die Unterbrechung eines Normalzustandes handelt und der Status quo erhalten bleibt, nachdem die Krise bewältigt ist. Dadurch wird vermieden anzuerkennen, dass soziale, politische und ökologische Wandlungsprozesse auf die Gesellschaft einwirken (vgl. Welzer 2023, S. 52). Die Bewältigungskapazitäten der Staaten sind zu Beginn des 21. Jahrhunderts derart herausgefordert, dass Politik im permanenten Modus des Krisenmanagements verharrt. Reflektionen über Leitbilder und Ziele der Politik unterbleiben, was die eigentlichen Aufgaben von Politik sein sollten. Vielmehr wird auf Sachzwänge reagiert und dies wirkt sich in beschleunigtem, scheinbar alternativlosem Regieren aus (vgl. ebd.). Es herrschen, ganz im Sinne von Norbert Elias, die Etablierten, d.?h. „diejenigen Interessen, die jetzt die größte Chance haben, sich durchzusetzen“ (Welzer 2023, S. 69). Krisennarrationen sind ergo interessengeleitet und dienen dazu, das Verhalten von Menschen zu beeinflussen und diese im Sinne der politisch und gesellschaftlich wirksamen Erzählung zu instrumentalisieren. Eine Instrumentalisierung wird in diesem Beitrag somit als eine bewusste Benutzung oder Zweckentfremdung von Personen oder Sachen als Instrument zum Erreichen bestimmter Absichten oder Ziele definiert (vgl. dwds.de; duden.de), mit möglicherweise unbeabsichtigten Folgen (für die Soziale Arbeit) (vgl. Dollinger 2021, S. 275). Es wird in den folgenden Abschnitten exemplarisch gezeigt, dass dieser Sachverhalt sich wie ein roter Faden durch die Historie der Sozialen Arbeit zieht und entsprechende Folgen für die Adressat*innen der Sozialen Arbeit hatte und hat. Auch versteht sich dieser Artikel als ein Beitrag zur Debatte um das Tripelmandat und zur Berufsethik der Sozialen Arbeit, welches das Doppelmandat von Hilfe und Kontrolle vor Instrumentalisierung schützen soll (vgl. dbsh.de; ifsw.org; Staub-Bernasconi 2007).

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