E-Book, Deutsch, 696 Seiten
Viga / Hackl Die Unpolitischen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-99065-087-5
Verlag: Edition Atelier
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 696 Seiten
ISBN: 978-3-99065-087-5
Verlag: Edition Atelier
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ÜBER DEN AUTOR Diego Viga, 1907 als Paul Engel in Wien geboren, 1997 in Quito/Ecuador gestorben. 1933 Promotion zum Doktor der Medizin, 1935 ging er für ein halbes Jahr nach Montevideo/Uruguay. 1938 emigrierte er mit seiner Familie nach Bogotá/Kolumbien und arbeitete an der dortigen Universidad Libre als Professor für Endokrinologie und unternahm für ein amerikanisches PharmaUnternehmen Geschäftsreisen durch Süd- und Mittelamerika. 1950 folgte der Umzug nach Quito, wo er eine Professur für Biologie und allgemeine Pathologie erhielt. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher zu medizinischen und literarhistorischen Themen. »Die Unpolitischen« erschien erstmals 1969 unter dem Titel »Die Parallelen schneiden sich«. ÜBER DEN HERAUSGEBER Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, lebt als freier Schriftsteller in Wien und Madrid und wurde unter anderem 2020 mit dem Theodor-Kramer-Preis ausgezeichnet.
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3. JOHANNES
Emil Seyers Stimme knarrt unfreundlich, seine Worte sind auch nicht liebenswürdig. Dabei habe ich ihn doch schon gezähmt. Weil er länger in diesem Laboratorium Professor von Gablenz’ Mitarbeiter ist, spielte er sich wirklich unverschämt auf. Nun, ich habe ihn so grob behandelt, daß er beinahe höflich geworden ist. Jetzt wirft er mir voll Empörung vor, daß ich eigene Gedanken habe und eigene Themen bearbeiten möchte. Der Emil wird immer ein braver und treuer Diener seines Herrn bleiben. Er bewundert, er identifiziert sich mit dem Mächtigen. Das ist unser brummig gütiger Ferdinand. Ferdinand der Gütige wird von Gablenz von seinen Mitarbeitern genannt. Ich erinnere mich, daß man den Vorgänger Franz Josephs Ferdinand den Gütigen nannte, um zu verschleiern, daß er schwachsinnig war. Unser Ferdinand ist keineswegs schwachsinnig, sondern ein großer Mann. Seine Arbeiten, die Arbeiten seiner Jugend haben die Biochemie grundlegend beeinflußt. Jetzt ist er zu meinem Leidwesen der Überzeugung, daß junge Leute keinen eigenen Gedanken fassen dürfen, sondern die Ideen ihrer Chefs in die Praxis des Laboratoriums umzusetzen haben.
»Du bist doch erst ganz kurze Zeit in diesem Laboratorium«, wirft mir Emil vor. Er ist furchtbar stolz darauf, daß er einige Wochen früher zum Mitarbeiter des Vorstandes der Lehrkanzel, zum persönlichen Adjunkt des weltberühmten Ferdinand von Gablenz aufgerückt ist und einige Eprouvetten mehr zerbrochen und etliche Kaninchen mehr umgebracht hat als ich.
»Du wirst schon sehen, was er anfaßt, ist wichtig. Erfahrung …«
»Zur Zeit seiner grundlegenden Arbeit war er ein junger Dozent von siebenundzwanzig Jahren.« Mit siebenundzwanzig Jahren! Werde ich jemals Dozent werden? Eine akademische Karriere ist das, was ich vom Leben erwarte, wünsche, sehne, aber … »Und hat dann dreiunddreißig Jahre warten müssen, bis er eine eigene Lehrkanzel erhielt.« Ja, erst mit sechzig Jahren hat Gablenz die Lehrkanzel als Ordinarius erreicht.
»Er ist eben jüdischer Abstammung.« Das ist es. Das ist ja der Umstand, der meine akademische Karriere von vornherein unmöglich macht.
Schon sein Vater war katholisch und sogar geadelt«, bemerkt Emil. Auch sein Vater ist getauft, auch Emil ist schon in zweiter Generation katholisch und tut sogar sehr brav vaterländisch, lammfromm und regierungstreu. Und ist wirklich vollkommen apolitisch. Ja, apolitisch bin ich eigentlich auch, aber bei uns versteht man jetzt darunter antimarxistisch … Emils Vater war Ingenieur der längst verschiedenen österreichischen Kriegsmarine gewesen. Emil hat gekräuseltes Haar, Plattfüße, Brille. Nun, mit einer Brille bin ich auch behaftet, und wenn ich blond bin, habe ich dafür eine krumme Nase. Doch ich gebe ja nie vor, etwas anderes zu sein, Emil aber sieht trotz des Taufwassers bei der Geburt wie eine Karikatur aus dem »Stürmer« aus. Und dabei ist er fürchterlich ehrgeizig. Deswegen haßt er meinen Ehrgeiz, eigene Arbeiten zu machen. Er will sich vielleicht hinaufdienern. Ich verärgere meine Vorgesetzten, weil ich meinen eigenen Weg gehen will. Vielleicht hat er recht. Ich bin unbescheiden, voreilig.
»Er hat sich durchgesetzt. Es war beinahe ein Zufall, daß sich das Professorenkollegium entschlossen hat, ihn vorzuschlagen, und daß ihn das Ministerium ernannt hat. Weißt du, daß er mal ein fescher Kavallerieoffizier gewesen sein soll?«
»Und wie hat er da seine Arbeiten gemacht?«
»Ich denke immer darüber nach, wie der Alte seine beiden Kinder zustande gebracht hat. Er duldet keine Waschfrau, die jünger ist als fünfundvierzig, um die Studenten nicht in Versuchung zu führen.«
»Wann werdet ihr euren Schwatz endlich abschließen?«, fragt Anton. Er pflegt sich nicht an Gesprächen zu beteiligen, nimmt weder für mich noch für Emil Partei und ist dabei doch mein bester Freund. Mein Tourenkamerad. »Ihr klatscht wie alte Waschweiber.«
Er ist mit einem Soxlethapparat beschäftigt. Es wird ruhig und still gearbeitet. Ich liebe den Geruch des Laboratoriums, obwohl es nicht eben nach Rosen duftet. Wer aber möchte seine Tage im Duft von Rosen zubringen?
»Ich weiß eine große Neuigkeit«, setzt Emil wieder an. Aha, er wollte sicherlich schön allmählich darauf zusteuern, sie recht sensationell bringen. Das freut ihn, gerade weil er so ein braver, folgsamer Bürger ist. Sensation ist des Bürgers Rache für sein langweiliges Schicksal. Und Anton hat ihm das verdorben.
»Hat Katharina einen neuen Liebhaber?«, frage ich. Es gehört zu Emils Lieblingsunterhaltungen, von Katharinas Liebesleben zu berichten. Sie ist kein hübsches Mädchen, aber die beste Studentin unseres Jahrgangs. Vielleicht schärft der Neid Emils Zunge, er wäre selbst gern der Beste.
»Laß mich rechnen«, brummt Anton. Die Züge seines harten Jungengesichts sind sehr verschlossen, der Mund ist zu einem Strich zusammengepreßt wie vor dem Sprung über eine Randkluft. Auf dem Gletscher der Jungfrau war er hineingefallen, und ich mußte ihn am Seil herausziehen. Er hat es inzwischen zurückgezahlt. Am Mösele mußte er mich halten, als ich in eine Gletscherspalte gestürzt war.
Es geht auch dich an, Anton.« Emils Stimme wird hell und vergnügt, während sie sonst immer knarrt. »Ich weiß doch, was im Institut vorgeht. Unsere Dekrete sind eingetroffen.«
Das ist ja wunderbar! Also endlich! Also doch! Ich wußte, daß Gablenz uns drei für die freien Posten als Demonstratoren eingegeben hat. Wir sind seine persönlichen Mitarbeiter. Nun werden wir außerdem Untersuchungen für das Allgemeine Krankenhaus zu machen und Studenten zu unterrichten haben. Ich bin Demonstrator, die bescheidenste Stufe eines akademischen Lehrers habe ich erreicht! Man weiß nie, ob das Ministerium die Vorschläge des Professors annehmen wird, und Anton und ich sind Juden … Ein Anfang.
Die wundervolle, hinreißende, wohlgeordnete Verwirrung des ersten Finales von Mozarts Oper ist verklungen, Vorhang. Das Händeklatschen zerreißt brutal die Illusion. Dabei bin auch ich den Sängern dankbar. Wie sie die Rachearie hingelegt hat … und welches Erfassen Don Juans. Ein guter Bariton, selbst wenn die Stimme nicht immer ausreicht. Freuen sie sich wirklich, oder sind auch sie aus den Rollen gerissen? Die Sänger verneigen sich vor dem Vorhang.
»Bist du sehr müde?«, fragt Peter.
»Nicht sehr«, lüge ich. »Obgleich ich den ganzen Tag im Laboratorium gestanden habe.« Und jetzt verlassen wir das Stehparterre.
»Ich möchte gern eine Zigarette rauchen.«
So kann ich mich also nicht niedersetzen. Wir steigen die Marmortreppe zum Foyer hinauf. Der Kerl muß rauchen, und seines Lasters wegen bin ich gezwungen, auf die Ruhe des Sitzens zu verzichten. Elegant gekleidete Leute. Nackte Frauenschultern, Dekolletés, alles in feinen blauen Rauch gehüllt. Zart verschleiert und gleichgültig. In mir klingt noch die Musik nach. Ich hätte Lust, das Menuett vor mich hinzupfeifen. Kommt natürlich nicht in Frage, wäre ungezogen.
»Wie lange lebt ein Mensch?«, fragt Peter.
Er reißt mich damit neuerlich aus dem Nachgenuß der Musik. »Man nennt dreißig Jahre ein Menschenalter. Das war früher die Durchschnittslebensdauer, ist es wohl noch im größten Teil der Welt, aber in zivilisierten Ländern kann man mit sechzig rechnen. Und wenn man das erste Lebensjahr glücklich überstanden hat, ohne abzukratzen, kann man wohl siebzig oder fünfundsiebzig erreichen.« Vater hoffentlich mehr; er nähert sich schon bedenklich den Siebzigern, fehlen ihm nur noch ein paar Jahre bis dahin …
»Oft glaube ich, daß man in Wirklichkeit nur siebzehn oder achtzehn Jahre lebt, wirklich lebt, und dann eine Rolle übernimmt. Man wird vernünftig, Nummer in einer Garderobe, nützliches Mitglied der Gesellschaft.«
»Man wird erwachsen. Ist das ein Unglück?« Ich war einmal sehr entsetzt, als ich merkte, daß die Naturwissenschaft nicht mit dem übereinstimmt, was ich im Religionsunterricht gelernt hatte. Später plagte ich mich mit Kant und Schopenhauer und suchte Hegel zu verstehen. Und heute quälen mich wissenschaftliche Fragen. Ich habe mich eigentlich nicht verändert. Doch muß ich Peter beruhigen. Peter ist sonst ruhig, ich bin sein Freund, muß ihm helfen. »Die besondere Unruhe dauert vielleicht bis zum neunzehnten Jahr …«
»Das Leben, Johannes. Dann vegetiert man nur mehr.« Für gewöhnlich drückt er sich nicht so pathetisch aus.
»Man muß Überlegungen beiseite schieben. Vielleicht vermag ich zu entscheiden, ob es Gott gibt oder nicht, aber ich kann verzeichnen, welcher Prozentsatz der einem Kaninchen...




