Wagner / Hessinger Ein neuer Geist des Kapitalismus?
1. Auflage 2008
ISBN: 978-3-531-91074-1
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie
E-Book, Deutsch, 331 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-531-91074-1
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
In den Sozialwissenschaften werden seit etwa 15 Jahren die Perspektiven der modernen postindustriellen Gesellschaften verstärkt unter den Stichworten 'Netzwerkgesellschaft' und 'Netzwerkkapitalismus' diskutiert. Der oft vertretenen These vom 'Verschwinden des Sozialen' - im Zuge einer fortschreitenden Deregulierung und Optionalisierung der Arbeits- und Konsumsphäre - steht die Gegenthese vom Aufkommen eines 'Neuen Geistes des Kapitalismus' gegenüber. Es ist nun eine offene Frage, ob die kulturellen und sozialen Spannungsmomente, welche in diesem Kontext identifiziert werden können, einen Leitfaden an die Hand geben, um die Ambivalenzen und Paradoxien der heutigen Netzwerkökonomie analysierbar und verstehbar zu machen.
Dr. Philipp Hessinger ist Privatdozent an der Universität Magdeburg; Arbeitsschwerpunkte: Netzwerkökonomie, Reorganisation des Gesundheitswesens, internationaler Vergleich von 'Governances'
Dr. Gabriele Wagner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Frankfurter Institut für Sozialforschung und Privatdozentin an der Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Wirtschafts-, Organisations- und Arbeitssoziologie, Transnationalisierung von Organisationen
Zielgruppe
Professional/practitioner
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;5
2;Vorwort;7
3;Max Webers Protestantismus-These und der „neue Geist des Kapitalismus“ – Eine deutsch- französische Gegenperspektive;8
3.1;1. Das Unbehagen am heutigen Kapitalismus;8
3.2;2. Webers These und die Kritische Theorie;11
3.3;3. Kapitalistische Faktizität und gesellschaftliche Rechtfertigungsordnungen;16
3.4;4. Historische Entwicklungsstadien und der Geist des Kapitalismus;19
3.5;5. Erfolg und Scheitern der Kritik;26
3.6;Die Beiträge;30
3.7;Literatur;34
4;I. Kritische Theorie und Soziologie der Kritik;38
4.1;Kritik (in) der Netzwerkökonomie;39
4.1.1;1. Vom Fordismus zur Netzwerkökonomie;40
4.1.2;2. Die Rechtfertigungsordnung des Projekts;44
4.1.3;3. Formen der Kritik der Netzwerkökonomie;49
4.1.4;4. Aufgaben und Funktionen einer Soziologie der Kritik im Kapitalismus;56
4.1.5;Literatur;59
4.2;Krise und Metamorphose des Protests: Die 68er Bewegung und der Übergang zum Netzwerkkapitalismus;61
4.2.1;1. Einleitung;61
4.2.2;2. Die Metamorphosen der 68er Protestbewegung in Frankreich;64
4.2.3;3. Zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft: Wertigkeitsordnungen und gesellschaftliche Krisenphänomene;71
4.2.4;4. Die Unlesbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse als individueller oder kollektiver Orientierungsverlust;75
4.2.5;5. Pierre Bourdieus Ansatz: Neoliberalismus als symbolische Gewalt;79
4.2.6;6. „Ideologie der Kompetenz“ oder „Projektpolis“? Zwei komplementäre Konzepte;85
4.2.7;7. Diesseits und jenseits des Kapitalismus;89
4.2.8;8. Resümee: Kritische Soziologie und Soziologie der Kritik;92
4.2.9;Literaturverzeichnis:;95
5;II. Dynamiken der Weltbildentwicklung und kapitalistischer Prozess;98
5.1;Die neue Kulturtheorie und der „Geist des Kapitalismus“ – Max Weber and beyond ;99
5.1.1;1. Die „neue Kulturtheorie“ und die „Wirtschaftsethiken des Kapitalismus“;100
5.1.2;2. Zur Kritik der „neuen wirtschaftsethischen Kulturtheorie“;108
5.1.3;3. Kapitalismus, Kultur und der „Geist des Kapitalismus“ – Überlegungen zu einer veränderten theoretischen Fassung der „ neuen Kulturtheorie“;114
5.1.4;4. Schluss und Ausblick;117
5.1.5;Literatur;118
5.2;„Kapitalismus“ und „Geist des Kapitalismus“ – Anmerkungen zum theoretischen Ansatz Boltanski/Chiapellos;123
5.2.1;1. Einleitung;123
5.2.2;2. Das ungeklärte Verhältnis zwischen den „Esprits“ und der kapitalistischen Kernstruktur;124
5.2.3;3. Kapital als „Chiffre“;127
5.2.4;4. Die Dynamik kapitalistischer Mythen;132
5.2.5;5. Ein neuer Mythos?;135
5.2.6;Literatur:;138
5.3;Kapitalismus als Religion?;140
5.3.1;1. Max Weber: Die Entstehung des modernen Kapitalismus ist durch religiöse Überzeugungen bedingt.;143
5.3.2;2. Walter Benjamin: Der Kapitalismus ist eine essentiell religiöse Erscheinung;151
5.3.3;3. Georg Simmel: Das Geld als absolutes Mittel und Endzweck tritt an die Stelle der religiösen Instanz.;156
5.3.4;4. Christoph Deutschmann: Technisch-ökonomische Mythen decken die religiöse Natur des Kapitalismus auf.;164
5.3.5;5. Resümee;177
5.3.6;Literatur;185
6;III. Die Ambivalenz der neuen organisatorischen Kontrollformen;187
6.1;Management, Governance und Netzwerke: Kapitalismusmodernisierung als Mobilisation von Lateralität;188
6.2;Die duale Institution der Arbeit und der neue(ste) Geist des Kapitalismus;212
6.3;„Ich habe gerne ein gutes Produkt, das ich vorzeige“ – Zur Managementisierung der humanitären Hilfe1;225
6.3.1;1. Einleitung;225
6.3.2;2. Operative Probleme humanitärer Hilfsorganisationen: Das Spannungsfeld von externen Anforderungen und internen Ansprüchen;228
6.3.3;3. Managementkonzepte: Zum Verhältnis von gesellschaftlichen Semantiken und organisatorischen Strukturen;231
6.3.4;Exkurs: Methodische Herangehensweise;233
6.3.5;4. Die Bedingungen der Abnahmebereitschaft des Konzepts der ‚ Lernenden Organisation‚ in humanitären Hilfsorganisationen;235
6.3.6;5. Die Umsetzung des Konzepts der ‚Lernenden Organisation‚ und ihre Folgen;239
6.3.7;6. Schluss;243
6.3.8;Literatur;244
7;IV. Die gesellschaftliche Beschreibung von Arbeitsverhältnissen und die Wiederkehr der sozialen Frage;247
7.1;Zeitsouveränität: die paradoxe Suche nach Selbstbestimmung;248
7.1.1;1. Entstrukturierung der industriellen Zeitordnung – Exposition des Arguments;248
7.1.2;2. Der Zeitmodus von Wissensarbeit;250
7.1.3;3. Die frühe Thematisierung von Zeitsouveränität (als Arbeitszeitmodell) und ihre Deutung als work- life- balance;254
7.1.4;4. Die Wertschätzung der Selbstbestimmung;259
7.1.5;5. Die Paradoxien selbstbestimmter Arbeit;261
7.1.6;6. Zeitsouveränität und Rechtfertigung;264
7.1.7;Literatur;266
7.2;Die Organisation der Ausblendung: Der „neue Geist des Kapitalismus“ und die Geschlechterverhältnisse;269
7.2.1;1. Einleitung;269
7.2.2;2. Frauenbewegung und Geschlechterforschung: Einblendungen;270
7.2.3;3. Der „neue Geist des Kapitalismus“;279
7.2.4;4. Schlussfolgerungen;293
7.2.5;Literatur;295
7.3;Vom Verstummen der Sozialkritik;300
7.3.1;1. Das konzeptionelle Programm der Studie – kritische Rückfragen;301
7.3.2;2. Der Strukturwandel sozialer Ungleichheit;309
7.3.3;3. Strukturwandel von Mitgliedschaftsverhältnissen;312
7.3.4;4. Vom gewährleistenden zum aktivierenden Sozialstaat;316
7.3.5;5. Resümee und Ausblick: Mitleid statt Sozialkritik?;321
7.3.6;Literatur:;324
8;Autoren;328
Max Webers Protestantismus-These und der „neue Geist des Kapitalismus“ — Eine deutsch-französische Gegenperspektive.- Max Webers Protestantismus-These und der „neue Geist des Kapitalismus“ — Eine deutsch-französische Gegenperspektive.- Kritische Theorie und Soziologie der Kritik.- Kritik (in) der Netzwerkökonomie.- Krise und Metamorphose des Protests: Die 68er Bewegung und der Übergang zum Netzwerkkapitalismus.- Dynamiken der Weltbildentwicklung und kapitalistischer Prozess.- Die neue Kulturtheorie und der „Geist des Kapitalismus“ — Max Weber and beyond.- „Kapitalismus“ und „Geist des Kapitalismus“ — Anmerkungen zum theoretischen Ansatz Boltanski/Chiapellos.- Kapitalismus als Religion?.- Die Ambivalenz der neuen organisatorischen Kontrollformen.- Management, Governance und Netzwerke: Kapitalismusmodernisierung als Mobilisation von Lateralität.- Die duale Institution der Arbeit und der neue(ste) Geist des Kapitalismus.- „Ich habe gerne ein gutes Produkt, das ich vorzeige“ — Zur Managementisierung der humanitären Hilfe.- Die gesellschaftliche Beschreibung von Arbeitsverhältnissen und die Wiederkehr der sozialen Frage.- Zeitsouveränität: die paradoxe Suche nach Selbstbestimmung.- Die Organisation der Ausblendung: Der „neue Geist des Kapitalismus“ und die Geschlechterverhältnisse.- Vom Verstummen der Sozialkritik.
Friedhelm Hengsbach (S. 145-146)
Kapitalismus als Religion?
„Religion" scheint ins öffentliche Bewusstsein zurück gekehrt zu sein. Politischer Terrorismus und hegemoniale Kriege werden religiös begründet. Junge Menschen besinnen sich auf religiöse Werte, suchen spirituelles Erleben, wandern auf überlieferten Pilgerwegen und strömen zu papstkirchlichen Events. Ist die säkulare Gesellschaft in Europa an einen Wendepunkt geraten? Gilt es als zeitgemäß, religiöse Überzeugungen öffentlich zu bekennen? Traut man einem religiösen Deutungsmuster gar zu, das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem des globalisierten Kapitalismus auf den Begriff zu bringen? Max Weber war offensichtlich bereits am Ende des Ersten Weltkriegs von solchen Ahnungen erfüllt.
In einem Vortrag, den er vor Studierenden der Münchener Universität 1917 gehalten hat, kennzeichnete er als das hervorstechende Merkmal der gegenwärtigen Epoche die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung der Lebensbedingungen durch Wissenschaft und wissenschaftlich orientierte Technik. Sie sind nicht länger dem Spiel geheimnisvoller, unberechenbarer Mächte ausgeliefert, sondern durch Berechnung beherrschbar. „Das aber bedeutet: Die Entzauberung der Welt" (Weber 1951: 578). Dieser Entzauberungsprozess, der sich in der okzidentalen Kultur durch Jahrtausende fortgesetzt hat, ist zu einer unentrinnbaren Gegebenheit der gegenwärtigen Zeit geworden.
Er hat die religiös-moralische Klammer, die traditionelle Gesellschaften zusammen hielt, gesprengt und zwei heterogene Sphären hervorgebracht, nämlich einerseits die öffentliche Sphäre der Wissenschaft, in der Tatsachen und Sachverhalte festgestellt werden, anderseits die private Sphäre religiöser Überzeugungen, bei denen persönliche Stellungnahmen und Anschauungen dominieren. Die Dualität von Analyse und Werturteil, von Wissen und Glauben, von methodischethischer und religiös-sinnvoller Lebensführung ist für Max Weber endgültig. In der Sphäre rationaler Experimente, mit deren Hilfe Erfahrungen zuverlässig kontrolliert werden, lässt sich eine Verständigung über das erzielen, was ist.
In der Sphäre subjektiver Werturteile und religiöser Heilserwartungen dagegen entsteigen die alten vielen Götter aus ihren Gräbern, streben nach Gewalt über die jeweilige Lebenspraxis „und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf" (Weber 1951: 589). Welchem der miteinander kämpfenden Götter zu dienen sei, lässt sich mit den Methoden der Wissenschaft nicht bestimmen. Der Prophet, der eine weltanschauliche Position vertritt, gehört nicht in den Hörsaal, wohl aber der Wissenschaftler, dem es rein um die Sache geht. Weber sah zwar die Gefahr, dass ein Teil der Jugend in die Vorlesung kommt, „um etwas anderes zu erleben als nur Analysen und Tatsachenfeststellungen" (Weber 1951: 589), dass die jungen Leute weniger die wissenschaftliche Arbeit, sondern das sensationelle Erlebnis suchen, und dass sie dazu neigen, die Würde ihrer eigenen menschlichen Gemeinschaften wiederum durch eine religiöse Deutung zu überformen.
Aber er selbst setzte sich solchen übersteigerten Erwartungen zur Wehr: Mit der Intellektualisierung und Rationalisierung, vor allem der Entzauberung der Welt seien die letzten Werte aus der Öffentlichkeit in das Reich mystischen Lebens oder in die Intimität persönlicher Beziehungen getreten. „Es kann, glaube ich, gerade dem inneren Interesse eines wirklich religiös »musikalischen« Menschen nun und nimmermehr gedient sein, wenn ihm und anderen diese Grundtatsache, dass er in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal hat, durch ein Surrogat, wie es alle diese Kathederprophetien sind, verhüllt wird. Die Ehrlichkeit seines religiösen Organs müßte, scheint mir, dagegen sich auflehnen" (Weber 1951: 593 f.).