E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Wehlim Der längste Weg
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7526-7662-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-7526-7662-4
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Professor für Himmelsmechanik, den im heutigen Deutschland die tägliche Gravitation in die Knie zwingt. Ein flüchtiger Sträfling, der 700 Jahre später nach einem Nuklearkrieg ein rätselhaftes Gebäude auf einem Kaukasusgipfel entdeckt. Eine Anwältin, die in einer Weltraumsiedlung in einen mysteriösen Justizfall verwickelt wird. Und ein Stellar-Oberst, der auf dem Weg zu einem 490 Lichtjahre entfernten Planetensystem eine riskante Liebesbeziehung mit einer virtuellen Lebensform eingeht. In seinem neuen Roman spielt Thomas Josef Wehlim gekonnt mit den Mechanismen und Klischees des Science Fiction-Genres und verknüpft - in der Tradition Stanislaw Lems und Philip K . Dicks - die vier Handlungsstränge zu einer Geschichte über eine Reise an die Grenzen menschlicher Imagination.
Thomas Josef Wehlim, geb. 1966 in Witten/Ruhr, studierte Mathematik in Mainz und ist seit 1996 wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Dozent in Leipzig. Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in zahlreichen Literaturzeitschriften und Anthologien. Zuletzt erschienen seine Romane »Eisenbahnzüge« (2015), Edition Rugerup, Berlin, und »Zweierlei Krieg« (2017), edition offenes feld, Dortmund.
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II: Fliehkraft
(Kaukasus, A.D. 2787)
»Du musst die Berge hinauf.« Die Berge. Hinauf. Das alles sagt sich so leicht. Schon ihr Lager lag 1500 über N.N. Der eisige Wind war ihr Wärter. Wer floh, wurde eingefangen von dieser Kälte. Selbst in den Ess- und Schlafbaracken fror man jede Minute. Das Essen war nur jeden dritten Tag ein wenig warm. Dimitrij löffelte den Abendfraß aus seinem Kochgeschirr. »Die Berge hinauf? Warum?«, fragte er den Alten, der neben ihm am Tisch saß. Die anderen Männer der Brigade standen noch an für ihr Essen. »Fliehst du ins Tal, finden sie dich. Sie kommen mit Hunden, mit Reitern. Vom Lager und unten vom Tal. Sie quetschen dich ein. Du musst die Berge hinauf.« »Dort sterbe ich gewiss.« »Mag sein«, flüsterte der Alte. »Jedoch, es gibt eine Chance, in den Bergen.« »Welche?«, fragte Dimitrij. »Dort oben ist etwas.« »Was ist dort?« Drei andere Männer setzten sich mit ihren Schüsseln an den Tisch. Und steckten mit toten Gesichtern ihre Löffel in diesen Schlick aus holzigem Gemüse und Dreck, um das Zeug in ihre Münder zu befördern. Dimitrij aß schweigend weiter. Der Alte saß reglos vor seinem Napf. Nach einer Viertelstunde ertönte die Glocke. Ein Aufseher brüllte: »Fertig. Raus. Abendappell.« Sie erhoben sich von den Tischen. Dimitrij flüsterte zum Alten: »Also, was ist dort oben?« Der Alte zeigte keine Reaktion. Dimitrij beugte sich bis an sein Ohr herab. »Was ist da oben?« »Ein Stützpunkt, verlassen seit Jahrzehnten«, flüsterte der Alte. »Wie kannst du das wissen?« Sie verließen die Essbaracke. Der Alte schaute in Richtung der Gipfel. »Als ich ein Kind war, lange vor dem Großen Krieg, sah ich immer wieder Hubschrauber dort hinauffliegen.« Dimitrij schüttelte den Kopf: »Sie suchten nach vermissten Bergsteigern.« »Nein«, sagte der Alte, »sie flogen Container hinauf. Es muss etwas dort sein.« Sie reihten sich in ihre Brigade ein. Die Wärter brüllten Namen. Nach jedem Namen schrie ein Häftling: »Hier!« Wenn auch nur einer fehlte, würden die Wärter sie alle bis zum Morgengrauen unter freiem Himmel stehen lassen. Außer den fünf bis zehn Mann, die während der Nacht tot umfielen. Erfroren in jener Kälte, die unentwegt an Dimitrijs Gesicht, seinen Händen, seinen Gliedmaßen nagte wie eine unsichtbare Ratte. Ja, vielleicht musste er die Berge hinauf. Niemand würde den Weg in diese Kälte wählen. Es fehlte kein Häftling. Sie konnten zu ihren Schlafstätten. Der Alte war plötzlich verschwunden. Sie war so rein. So schön. Ein Geschöpf, ein Wesen aus Wärme, Licht und Kraft. Eine Sonne auf Erden. Und nur geschaffen, um im Moment ihrer Geburt gleichsam den Tod zu erleiden, und diesen Tod wie eine Gnade über so viele zu bringen. Die Völker hatten viele Namen für sie. Die einen nannten sie die ›Super‹, die anderen ›Zarin‹, wiederum andere ›Sonne des werktätigen Volkes‹. Doch war sie in Wirklichkeit: der Sonne Tochter, ihr Baby, ihr Ebenbild, kleiner, vergänglicher zwar, doch nicht minder überwältigend in ihrer Schönheit. Denn niemand, der sie je sah, berichtete von Hässlichkeit. So viele hatten für ihre Erschaffung gelebt und gelitten. Männer und Frauen mit Gedanken aus Kausalketten, Formeln, Symbolen, Zeichen. Verstrahlte Zwangsarbeiter und Kinder in den Uranminen. Als die schmutzigen Bastards ›Little Boy‹ und ›Fat Man‹ für die Welt das erste Wunder aus Licht erschufen, da dämmerte den Nachdenklichen unter den Nachdenkenden, dass man mit eben jenen Plutonium- und Urankernen eine wahrhaftige Sonne erzeugen könne, ein Glühen so heiß wie im Innersten jener Königin hoch am Firmament, die mit ihrem göttlichen Verschmelzen der Urelemente dem Leben auf Erden einen Sinn geschenkt hatte. Und die Nachdenklichen brüteten Woche um Woche an ihren Schreibtischen und rechneten ihre Gehirne hinauf und hinunter, und wussten schließlich, dass die Sonne eine Tochter haben würde, viele Töchter gar, und dass jede von ihnen im Moment ihrer Geburt vollendeter sein würde als tausend Gemälde zusammen. Also krempelten die Nachdenklichen die Ärmel hoch. Sie bauten der Tochter ein stählernes Kleid, sechs Meter lang und zwei Meter im Durchmesser. Sie errichteten eine 20 Tonnen schwere Kühlanlage zur Verflüssigung des schweren Wasserstoffs. Und über dem Kopf setzten sie einen Bastard ein, eine Plutoniumbombe, um die Tochter zu gebären. Auf einem Pazifikatoll bauten die Nachdenklichen eine Halle, sechs Stockwerke hoch. Sie installierten Sensoren überall auf dem Atoll, auf Flößen in der Lagune und auf den benachbarten Inseln. Sie vertrieben die Inselbewohner. Und ließen alle im Glauben, man beobachte nur das Wetter, die See, die Friedfertigkeit der Welt. Eines Tages schließlich, als ein wunderbar kühles Blau sich in den Ozean, den Himmel gemalt hatte, war es soweit. Die Nachdenklichen, sie waren aufgeregt wie kleine Kinder am Weihnachtsfest. Sie ließen Flugzeuge mit Kameras am Himmel kreisen, um der Nachwelt die Schönheit der Tochter zu erhalten, ihre Körperlichkeit, ihre Sinnlichkeit. Sie starteten das Abzählen der Zeit. Sie legten, Kilometer entfernt von jenem Uterus der neuen Geburt, ihren Augenschutz an. Und eine Sonne ward endlich geboren. Innerhalb von wenigen Nanosekunden zündete der Bastard die Kernfusion. Ein Lichtblitz, ein gleißender Feuerball aus Licht erschuf sich, fünf Kilometer breit und mehrere Millionen Grad heiß. Das Atoll, die benachbarten Inseln, alles Leben, alles Tote auf ihnen wurde verdampft. Die Vögel sahen im Flug erstaunt ihre Schwingen, ihre Schnäbel zu Asche zerbröseln, bevor ihre Seelen gen Himmel stiegen. Und die Tochter, sie wurde reine Wärme, reines Licht. Eine Pilzwolke von fast 50 Kilometern Höhe und 150 Kilometern Breite erstieg aus dem Feuerball. Eine Schockwelle aus Druck und Hitze raste über das Meer, wie ein Titan, der dem Verlies der Unterwelt entkommen war und nun, in unersättlichem Glück, alles vernichtete, zertrampelte, zerstob. Und die Nachdenklichen, sie waren so stolz, eine Sonne auf Erden erschaffen zu haben, und klopften sich auf die Schultern wie Schulbuben nach einem gelungenen Streich. Doch hatte niemand, niemand die Sonne selbst gefragt, ob sie ein Kind, eine Tochter wolle. Und niemand unter den Menschen, die verblendet waren von der Gier nach Macht und Wissen, hatte um Erlaubnis ersucht bei jenem wirklichen Schöpfer hinter den Dingen, jenem Schöpfer, welcher die wahre Sonne am Himmel erschaffen hatte, und mit ihr die Myriaden anderer Sterne in all den Galaxien. Und so beschloss der wirkliche Schöpfer, den Menschen aus dem Spiel zu nehmen. Er wartete auf eine Gelegenheit. Erneut Appell. Fünf Uhr morgens nach dumpfer Nacht. Zehn Minuten Frühstück. Lauwarmer Sud aus Brennnesseln zum Trinken. Eine Schlacke aus Gestrüpp und Getreide zum Essen. Du wirst ein Homo sapiens animalis. In Zwanziger-Kolonnen das Tal hinab. Pro Kolonne acht Wächter mit Gewehren und vier Hunde als Bewachung. Holzarbeiten: Bäume schlagen, Stämme schleppen, fröhliches Werkeln in gesunder, frischer Natur. Dimitrij sucht nach dem Alten. Es gibt keinen Ruhestand in diesen Lagern. Nur leichtere Arbeit für die Greise. Die doch nur fünfzig Jahre alt sind. Dimitrij sieht den Alten einige Meter entfernt Astwerk wegzerren von einem gefällten Baum. Er geht zu ihm und zischelt ihn an: »Wie soll ich es anstellen, die Flucht? Draußen, bei der Arbeit?« Der Alte schüttelt den Kopf: »Zu viele Wärter und Hunde.« »Vom Lager aus? Nachts?« Der Greis nickt. »Und die Wachen? Der Stacheldrahtzaun?« »Es gibt einen unterirdischen Gang.« »Einen Gang? Du bist nicht bei Sinnen.« »Doch. Von meiner Baracke aus. Gegraben von zwei Häftlingen vor über zehn Jahren. Und nie entdeckt, weil beide vor ihrem Ausbruch starben.« »Beide?« Dimitrij senkt die Stirn, den Blick. Er schließt die Augen: »Dann ist der Gang nicht fertig. Du schickst mich in den Tod.« Sie hören ein Brüllen. Ein Wärter. Er keucht herbei. Seine Zähne starren wie Eiszapfen aus seiner Schnauze. Er drischt mit einem Stock auf Dimitrij und den Alten ein: »Ihr sollt arbeiten, nicht schwätzen. Auseinander.« Dimitrij springt zur Seite und hackt an dem gefällten Baum herum. Der Alte zerrt das abgetrennte Astwerk weg. Der Wärter bleibt. Fast eine Viertelstunde. Manchmal, an grausamen Tagen, kam auch ›Der Daumen‹. So nannten alle den Lagerleiter. Weil er jedem, der nicht schnell genug arbeitete, die Daumen brach. Mit einer Zange. Um den Unglücklichen dann einige Tage später hinrichten zu lassen mit den...




