Winterson | Orangen sind nicht die einzige Frucht | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 272 Seiten, eBook

Winterson Orangen sind nicht die einzige Frucht


1. Auflage, neue Ausgabe 2019
ISBN: 978-3-0369-9433-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 272 Seiten, eBook

ISBN: 978-3-0369-9433-8
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Die temperamentvolle Jeanette wächst als Adoptivkind bei fanatischen Mitgliedern der Pfingstbewegung auf. Für ihre Stiefmutter ist sie eine »Auserwählte«, die mit ihr gegen die sündige Welt kämpft und eine Missionarin für die Kirche werden soll. Doch Jeanette erfährt einen unerwarteten Sinneswandel, als sie sich mit sechzehn in eine junge Frau verliebt. Von ihrer Gemeinde und ihrer Stiefmutter für diese Liebe geächtet und zunehmend unsicher, warum der Glaube über dem Verlangen stehen sollte, verlässt sie schließlich ihr Elternhaus und die Kirche, um selbstbestimmt ihr Glück zu finden.

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Wie die meisten Menschen lebte ich lange bei meiner Mutter und meinem Vater. Mein Vater liebte es, sich Ringkämpfe anzusehen, meine Mutter liebte es, sie auszutragen; egal gegen wen. Sie war in der weißen Ecke, und damit hatte es sich. An den windigsten Tagen hängte sie die größten Laken auf die Leine. Sie wollte, dass die Mormonen an die Tür klopften. In einer Labour-regierten Industriestadt stellte sie vor den Wahlen ein Bild des konservativen Kandidaten ins Fenster. Sie hatte noch nie etwas von gemischten Gefühlen gehört. Es gab Freunde, und es gab Feinde.

Feinde waren: Der Teufel (in seinen vielen Formen)

Die von nebenan

Sex (in seinen vielen Formen)

Schnecken

Freunde waren: Gott

Unser Hund

Tante Madge

Die Romane von Charlotte Brontë

Schneckenbekämpfungsmittel

und ich, zu Anfang; ich war dazugeholt worden, um ihr in ihrem Kampf gegen den REST DER WELT zur Seite zu stehen. Sie hatte eine mysteriöse Einstellung zur Zeugung von Kindern, was nicht etwa daran lag, dass sie es nicht tun konnte, sondern vielmehr daran, dass sie es nicht tun wollte. Sie war sehr verbittert darüber, dass die Jungfrau Maria ihr zuvorgekommen war. Also tat sie das Nächstbeste und besorgte sich ein Findelkind. Mich.

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht gewusst hätte, dass ich etwas Besonderes war. Wir hatten zwar keine Weisen aus dem Morgenland, weil sie nicht daran glaubte, dass es weise Männer gab, aber wir hatten Schafe. Zu meinen frühesten Erinnerungen gehört die, zu Ostern auf einem Schaf zu sitzen, während sie mir die Geschichte des Opferlamms erzählte. Wir bekamen es jeden Sonntag, mit Kartoffeln.

Der Sonntag war der Tag des Herrn, der betriebsamste Tag der ganzen Woche; wir hatten eine Musiktruhe mit einer imposanten Mahagoniverkleidung und einem fetten Bakelitknopf, an dem man drehen konnte, um die Sender einzustellen. Normalerweise hörten wir das Unterhaltungsprogramm, aber sonntags immer BBC World Service, damit meine Mutter die Fortschritte unserer Missionare verfolgen konnte. Unsere Missionskarte war sehr eindrucksvoll. Auf der Vorderseite waren alle Länder zu sehen, und auf der Rückseite gab es eine Zahlentabelle, die einem alles über die einzelnen »Stämme und ihre Eigentümlichkeiten« verriet. Mein Liebling war die Nummer 16, »Die Buzule der Karpaten«. Sie glaubten, dass du Kopfschmerzen bekamst, wenn eine Maus deine abgeschnittenen Haare fand und sich daraus ein Nest baute. Wenn das Nest groß genug war, konntest du sogar verrückt werden. Soviel ich wusste, war noch nie ein Missionar bei ihnen gewesen.

Sonntags stand meine Mutter immer früh auf und ließ vor zehn Uhr niemanden ins Wohnzimmer. Es war ihr Ort für Gebet und Meditation. Sie betete immer im Stehen, wegen ihrer Knie, so wie Bonaparte seine Befehle immer vom Pferd aus gab, wegen seiner Größe. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Beziehung, die meine Mutter zu Gott hatte, viel mit Stellung und Rang zu tun hatte. Sie war durch und durch Altes Testament. Sie hatte nicht viel übrig für das sanfte Lamm Gottes, sie war draußen auf dem Feld, in vorderster Front mit den Propheten und mit einem ausgeprägten Hang zum Schmollen unter Bäumen, wenn die gebührende Vernichtung sich nicht einstellen wollte. Was aber doch relativ oft geschah, ob durch ihren Willen oder den des Herrn, kann ich nicht sagen.

Sie betete immer auf die gleiche Art und Weise. Zuallererst dankte sie Gott dafür, dass er es ihr vergönnt hatte, diesen weiteren Tag zu erleben, dann dankte sie Gott dafür, dass er die Welt diesen weiteren Tag verschont hatte. Dann sprach sie von ihren Feinden, was bei ihr einem Katechismus am nächsten kam.

Sobald »Die Rache ist mein, spricht der Herr« durch die Wand in die Küche dröhnte, stellte ich den Kessel auf. Die Zeit, die ich brauchte, um das Wasser zum Kochen zu bringen und den Tee aufzubrühen, entsprach ungefähr dem letzten Punkt auf ihrer Liste, der Krankenliste. Sie war sehr berechenbar. Ich gab die Milch dazu, sie kam herein, trank einen gewaltigen Schluck und sagte eins von drei Dingen: »Der Herr ist gütig« (mit stählernem Blick in Richtung Hof). »Nennst du das hier etwa Tee?« (mit stählernem Blick in meine Richtung). »Wer war der älteste Mann in der Bibel?«

Für Nummer 3 gab es natürlich eine Reihe von Variationen, aber es war immer eine Bibelquizfrage. Wir hatten in der Kirche jede Menge Bibelquiz, und meine Mutter wollte immer, dass ich gewann. Wenn ich die Antwort wusste, stellte sie mir noch eine Frage, wenn ich sie nicht wusste, wurde sie böse, aber nie für lange, weil wir ja den World Service einschalten mussten. Es war immer dasselbe; wir setzten uns neben die Musiktruhe, sie mit ihrem Tee, ich mit Block und Bleistift, vor uns die Missionskarte. Die ferne Stimme aus der Mitte des Geräts berichtete über Aktivitäten, Bekehrungen und Probleme. Zum Schluss folgte immer eine Bitte um IHRE GEBETE. Ich musste alles mitschreiben, damit meine Mutter am selben Abend ihren Kirchenbericht abstatten konnte. Sie war die Missionsbeauftragte. Der Missionsbericht war für mich immer eine schwere Prüfung, weil unser Mittagessen davon abhing. Wenn alles gutgegangen war, also keine Toten und jede Menge Bekehrungen, machte meine Mutter einen Braten. Wenn die Gottlosen sich nicht nur als widerspenstig, sondern gar als mörderisch erwiesen hatten, verbrachte meine Mutter den Rest des Vormittags damit, sich eins der Gospelalben von Jim Reeves anzuhören, und wir mussten uns mit weichgekochten Eiern begnügen, in die wir Toaststreifen hineintunkten. Ihr Mann war nicht besonders anspruchsvoll, aber ich wusste, dass diese Aussicht ihn deprimierte. Er hätte den Braten sogar selbst gemacht, wäre meine Mutter nicht der festen Überzeugung gewesen, dass sie in unserem Haus die Einzige war, die eine Pfanne von einem Klavier unterscheiden konnte. Sie hatte unrecht, soweit es uns betraf, aber recht, soweit es sie selbst betraf, und das war nun einmal das, was wirklich zählte.

Irgendwie brachten wir diese Vormittage hinter uns, und am Nachmittag gingen sie und ich mit dem Hund spazieren, während mein Vater sämtliche Schuhe putzte. »Man erkennt die Leute an ihren Schuhen«, sagte meine Mutter. »Sieh dir die von nebenan an.«

»Der Alkohol«, sagte meine Mutter grimmig, während wir an dem Nachbarhaus vorbeigingen. »Deshalb kaufen sie alles in Maxi Balls Ramschladen. Der Teufel selbst ist ein Säufer« (manchmal dachte meine Mutter sich ihre Theologie selbst aus).

Maxi Ball war der Besitzer eines Kaufhauses, seine Kleider waren billig, aber sie hielten nicht, und sie rochen nach Industriekleber. Die Verzweifelten, die Gleichgültigen, die Ärmsten wetteiferten samstagmorgens darum, sich herauszupicken, was immer sie konnten, und um den Preis zu feilschen. Meine Mutter wäre lieber verhungert, als sich bei Maxi Ball sehen zu lassen. Sie hatte mir einen abgrundtiefen Abscheu vor dem Laden eingeimpft. Da so viele Leute, die wir kannten, dort einkauften, war das nicht gerade fair von ihr, aber sie war nie besonders fair; sie liebte, und sie hasste, und sie hasste Maxi Ball. Einmal war sie im Winter gezwungen gewesen, zu Maxi Ball zu gehen und sich ein Korsett zu kaufen, und noch am selben Sonntag, bei der Kommunion, löste sich eines der Fischbeinstäbchen und bohrte sich mitten in ihren Bauch. Eine ganze Stunde lang konnte sie nicht das Geringste tun. Als wir nach Hause kamen, riss sie das Korsett in Stücke und verwendete die Fischbeinstäbchen als Stützen für unsere Geranien, bis auf eins, das sie mir gab. Ich habe es immer noch, und jedes Mal, wenn ich versucht bin, an den falschen Ecken und Enden zu sparen, denke ich an dieses Fischbeinstäbchen und sehe mich vor.

Meine Mutter und ich gingen den Hügel hinauf, der sich am Ende unserer Straße erhob. Wir lebten in einer Stadt, die den Tälern gestohlen worden war, einem dichtgedrängten Ort voller Schornsteine und kleiner Geschäfte und Häuser, die Rücken an Rücken standen, ohne Gärten dazwischen. Die Hügel umgaben uns auf allen Seiten, und unserer ging in das Penninische Gebirge über, hin und wieder von einer Farm oder einem Überbleibsel aus dem Krieg durchbrochen. Früher hatte es eine Menge alte Panzer gegeben, aber die Stadtverwaltung hatte sie entfernen lassen. Die Stadt war ein fetter Klecks, und die Straßen erstreckten sich von diesem Klecks ausgehend in das Grün hinein, immer höher hinauf. Unser Haus stand fast am oberen Ende einer langen, sich hinziehenden Straße. Einer gepflasterten Straße mit holprigen Kopfsteinen. Wenn man bis zur Spitze des Hügels klettert und hinunterblickt, kann man alles sehen, genau wie Jesus auf dem Berg, außer, dass es nicht sehr verlockend ist. Weiter rechts war der Viadukt, und hinter dem Viadukt Ellisons Gelände, auf dem ein Mal im Jahr der Rummel stattfand. Ich durfte immer unter der Bedingung hingehen, dass ich meiner Mutter ein Glas schwarze Erbsen mitbrachte. Schwarze Erbsen sehen aus wie Kaninchenkacke, und sie schwimmen in einer dünnen Soße aus Fleischbrühe und Gewürzen. Sie schmecken wunderbar. Die Zigeuner machten schrecklich viel Unordnung und blieben die ganze Nacht auf, und meine Mutter sagte, sie seien Ehebrecher, aber im Großen und Ganzen kamen wir sehr gut miteinander aus. Sie drückten ein Auge zu, wenn gelegentlich einmal ein kandierter Apfel verschwand, und manchmal, wenn nicht viel los war und man nicht genug Geld hatte, ließen sie einen trotzdem eine Runde Autoscooter fahren. Wir trugen zwischen den Wohnwagen immer Kämpfe aus, die Kinder, die so waren wie ich, von der Straße, gegen die Lackaffen aus der Avenue. Die Lackaffen waren bei den Pfadfindern und nahmen nicht am Schulessen...


Winterson, Jeanette
Jeanette Winterson, 1959 in Manchester geboren und in Lancashire bei evangelikalen Adoptiveltern aufgewachsen, schrieb mit vierundzwanzig Jahren ihren preisgekrönten Debütroman »Orangen sind nicht die einzige Frucht«. Es folgten zahlreiche weitere Bücher, mit denen sie zu einer der angesehensten Autorinnen Großbritanniens avancierte. Sie ist mit zwei Romanen auf der Liste der »100 Greatest British Novels« vertreten und wurde 2006 von der Queen zum Officer und 2018 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. 2019 wurde ihr Roman »Frankissstein«, der ebenfalls bei Kein & Aber erschienen ist, für den Booker Prize nominiert. Jeanette Winterson schreibt regelmäßig für den Guardian und lebt in Manchester und London.

Walitzek, Brigitte
Jeanette Winterson, 1959 in Manchester geboren und in Lancashire bei evangelikalen Adoptiveltern aufgewachsen, schrieb mit vierundzwanzig Jahren ihren preisgekrönten Debütroman »Orangen sind nicht die einzige Frucht«. Es folgten zahlreiche weitere Bücher, mit denen sie zu einer der angesehensten Autorinnen Großbritanniens avancierte. Sie ist mit zwei Romanen auf der Liste der »100 Greatest British Novels« vertreten und wurde 2006 von der Queen zum Officer und 2018 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. 2019 wurde ihr Roman »Frankissstein«, der ebenfalls bei Kein & Aber erschienen ist, für den Booker Prize nominiert. Jeanette Winterson schreibt regelmäßig für den Guardian und lebt in Manchester und London.

Jeanette Winterson, 1959 in Manchester geboren und in Lancashire bei evangelikalen Adoptiveltern aufgewachsen, veröffentlichte mit fünfundzwanzig Jahren ihren preisgekrönten Debütroman Es folgten zahlreiche weitere Bücher, mit denen sie zu einer der angesehensten Autorinnen Großbritanniens avancierte. Sie ist mit zwei Romanen auf der Liste der »100 Greatest British Novels« vertreten und wurde 2006 von der Queen zum Officer und 2018 zum Commander of the Order of the British Empire ernannt. 2019 wurde für den Booker Prize nominiert. Jeanette Winterson schreibt regelmäßig für den und lebt in den Cotswolds und in London.

Brigitte Walitzek hat bereits Bücher von Jeanette Winterson übersetzt und ist u. a. auch Übersetzerin von Margaret Atwood und Virginia Woolf.



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