Kummer | Unter Strom | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Kummer Unter Strom

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-608-11945-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Neunziger. Zwei Frauen Mitte dreißig auf einem Roadtrip durch den Schweizer Hochsommer. Ihnen macht keiner was vor. Nina und Sarah sind Bluts­geschwister seit Jugendtagen und echte Femme Futures: stilbewusst, kaltschnäuzig und zusammen nicht aufzuhalten. Doch was, wenn sie nicht dasselbe Ziel ansteuern?Mit Mitte dreißig verlässt Nina ihren langjährigen Partner in Los Angeles und kehrt zurück in die Schweiz zu ihrer Freundin Sarah, inzwischen eine erfolgreiche Menschenrechtsanwältin. Eine Woche, bevor Nina sich ent­scheiden muss, für einen Partner, für oder gegen Kinder, einen Wohnort, den Beruf. Rasante Motorradfahrten durch die flirrende Berglandschaft, Nacktbaden in kühlen Bergseen – für Nina ist der Trip ein großes Revival der Freiheit, doch Sarah sieht darin den Beginn einer langen Partnerschaft. Und ein Sommerfest in ihrer Villa am Bielersee soll ihr Anfang sein …
Wieviel Freiheit verträgt der Mensch, wieviel Einfluss tut ihm gut? Unter Strom stellt die innersten Fragen der Zweisamkeit, so leidenschaftlich und einfühlsam wie es neben Tom Kummer nur wenige können.'Tom Kummer schreibt mit einer ungeheuren sprachlichen Zärtlichkeit.' SWR
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Tag II
2. August 1997 Nina erwacht. Sie liegt nackt unter einem feuchten, weißen Laken. Sie überlegt, wie sie in dieses Bett gekommen ist. Und ob sie sich selbst ausgezogen hat. Ihre Haut riecht nach Chanel Shower Lotion. Hat sie gestern Abend noch geduscht? Oder benutzt Sarah das gleiche Duschmittel? Sarah liegt neben ihr. Nina hört sie atmen. Sarah öffnet ihre Augen, lächelt zufrieden und schließt sie wieder. Ihr Körper strahlt Hitze aus. Nina schiebt Sarahs Arm von ihrem Oberkörper. Sie sieht die schimmernde Feuchtigkeit auf Sarahs langen Oberschenkeln. Ist das Schweiß? Nina dreht sich vorsichtig weg. Ein kleines Nachtlicht schimmert rosafarben. Dämmerung. Durch das Fenster ist bereits ein feiner Glanz auf der Oberfläche des Bielersees zu erkennen. Schwalben gleiten vorbei. Nina schaut auf den elektrischen Wecker auf dem Nachttisch. Die grün fluoreszierenden Ziffern zeigen 05:29. 08:29 pm in Los Angeles. Nina denkt kurz daran, Tom anzurufen. Sie schaut auf das unberührte Glas Wasser auf dem Nachttisch. Und sieht ein blaues Medikamentendöschen. Daneben stehen zwei Fotos. Eines zeigt das Fotomodell Gia Carangi in einer Pose, die den Heroin Chic Anfang der 1990er Jahre berühmt macht. Statt Klamotten hat jemand mit Lippenstift Gucci und Prada auf ihren nackten Körper gemalt. Es ist das Bild eines Fotografen namens Jürgen Teller. Das zweite Foto ist ein Polaroid von Nina 1984, im Bikini am Strand von La Barceloneta. Ausgehungert und düster. Verschmierter Lippenstift, schwarz verschmierte Augen. Nina streicht jetzt über ihre feuchte Haut. Sie hatte einen Traum. Darin spielte eine Triumph T 100 eine Rolle. Und Bob Dylan. Ausgerechnet. Nina hat wirklich nichts mit Bob Dylan am Hut. Dylan fuhr in Ninas Traum mit seinem Motorrad über eine Landstraße. Und stürzte schwer, als Tom in einem Chevy-Pick-up die Straße kreuzte. Whatever. Nina rutscht vom Bett, steht vorsichtig auf, betrachtet den Stuck an der Decke. Die Einrichtung strahlt Harmonie aus – von den zarten Seidenvorhängen, die von der hohen Decke bis zum Boden reichen, bis zu dem großen runden Tisch, dessen Platte so sehr glänzt, dass man tief in sie hineinsehen kann. Nina muss daran denken, dass so ein Glanz durch ständiges Polieren entsteht. Womöglich hilft das eritreische Ehepaar, das Sarah hier mit seinen Kindern leben lässt. Auf dem spiegelnden Parkett liegt ein langer Läufer indischer Herkunft. Nina gefällt das Zimmer. Es erinnert eher an einen venezianischen Palazzo als an ein Bernisches Adelsgut. Neben einem riesigen goldgerahmten Spiegel hängen Fotografien von Mary Ellen Marks: Flüchtlinge an der mexikanischen Grenze zu Arizona. Daneben ein Nan-Goldin-Bild mit einer Gruppe Transvestiten bei der Love-Parade in Berlin 1990. Die Krönung ist jedoch ein Foto in einem Barockrahmen. Es zeigt das Fotomodell Grace Jones, nackt, mit Schellen an den Fußgelenken, wie eine Sklavin. Das Skandalbild aus dem Jahr 1975 ist von Helmut Newton signiert und hängt direkt über der Tür, die vom Schlafzimmer ins Badezimmer führt. Nina öffnet eines der Fenster einen Spalt weit und blickt hinunter in die Parklandschaft. Eichhörnchen klettern die Bäume hoch und runter, als ob sie die Trockenheit in den Wahnsinn treibt. Der Bielersee leuchtet golden, ein Anblick, der ihr jetzt nicht paradiesisch erscheint, sondern, genau wie die Sonnenuntergänge in Malibu oder Venice Beach, wie eine Einöde am Rande der Zivilisation. Das muss der Einfluss von Tom sein. In den erhebendsten Momenten verfällt sie in eine dystopische Stimmung. Aber Nina will die Schönheit sehen! Die Hoffnung nicht aufgeben. Sie betrachtet ihr Gesicht in der Fensterscheibe. Denkt nach. Ihre Reise hat ja erst begonnen. Jetzt bloß nicht durchdrehen. Der Anblick des Sees beruhigt. Alles wird gut. Du weißt hoffentlich, was du tust, Nina! Ich habe dich gewarnt. Das ist kein Spiel, Nina. Du wirst Sarah tiefe Wunden zufügen. Das wird sie dir nicht verzeihen. Sie hat Pläne. Sie glaubt, Freiheit sei das größte Glück. Mit jemandem zusammen frei zu sein. Aber sie bildet sich das mit der Freiheit nur ein. Weil es zu ihrem Job gehört. Die Menschheit zu befreien. Nina zieht eine Grimasse. Die Haut spannt, schmerzt. Sie braucht endlich ihre Hautcreme. Wo ist eigentlich ihr Samsonite-Koffer? Sie drückt das Fenster weiter auf, beugt sich über die Brüstung, atmet die Morgenluft ein, hört das Zwitschern der Amseln, sieht eine Schwanenfamilie in Ufernähe vorbeiziehen. Am Horizont treten die Konturen der St. Petersinsel immer deutlicher hervor. Noch immer wüten Feuer in den Jura-Wäldern. Braun gefärbter Dunst zieht über die Seeoberfläche. »Baby!« Nina erschrickt. »Komm zu mir, bitte!« Sarah stützt sich auf, lächelt, betrachtet Ninas Körper. »Du bist da, kein Traum, Sweetie. Was wiegst du eigentlich noch?« Noch immer erscheint Nina ausgehungert, in vollem Widerstand gegen alle Standards. »Neunundvierzig Kilo bei einhundertfünfundsiebzig Zentimetern. Ist das okay für dich?« »Sehr okay.« Ninas Haut ist blass. Eine kränkliche Haut, von Ausschlägen gekennzeichnet. Noch immer pflegt sie den Depri-Look. So hat Sarah Nina kennengelernt. »Willst du mir nicht wenigstens ein Lächeln, ein nettes Wort schenken, Nina? Ist ja richtig deprimierend.« Sarah lächelt und macht jetzt Platz, damit Nina sich auf den Bettrand setzen kann. Ninas Look muss Sarah damals wie eine Widerstandsgeste vorgekommen sein. Nina lebt noch bei den Eltern in Pieterlen bei Biel. Sie empfindet Erleichterung, mit Sarah eine Art Mentorin gewonnen zu haben. Eine ältere Freundin. Natürlich ist sie noch viel schärfer auf die Gratisdrogen, die Sarah liefert. Vielleicht waren es diese Umstände, die bei Nina ein Gefühl von Liebe ausgelöst haben. Zumindest muss Sarah geglaubt haben, dass Nina Liebe empfinden kann. Nina hat mir nie Genaueres erklärt. Es war mir auch egal. Nie hatte ich Sarah als ernstzunehmende Konkurrenz wahrgenommen. Aber vielleicht war das ein Fehler. Nina legt sich aufs Bett und starrt an die Decke. Sie sagt kein Wort. Sie lächelt nicht. »An was hast du gedacht, als du am Fenster gestanden bist? Ich habe dich beobachtet.« Sarah streichelt über Ninas Stirn. »Wieso du das Bild von Jürgen Teller und das von mir nebeneinander auf deinen Nachttisch stellst. Was soll das?« »An so was denkst du? Am Morgen?« »Die Bilder haben mich einfach angelacht, als ich erwacht bin.« »Du spinnst. Denk an was anderes. Ist doch verrückt.« »Wieso stellst du die Bilder aus? Du findest die doch sicher sexistisch.« Sarah sticht zwei Finger in Ninas Oberschenkel. »Nicht wirklich. Ich finde das von Teller irgendwie witzig.« »Echt?« »Ja, man kann darin auch eine Kritik der kapitalistischen Ausbeutung des Körpers sehen.« »Okay. Und was ist mit dem anderen Bild? Dem Bild von mir?« »Das gefällt mir einfach, weil es deinen Stil von 1979 repräsentiert. Heroin Chic.« Sarah lacht. »Für einen solchen Begriff für ausgehungerte Models hast du doch heute nur noch Verachtung übrig, oder?« »Als du dich so ausgestellt hast, kam es mir wie eine Revolte vor. Aber dann machten die Modemagazine daraus die ›Nihilistische Vision von Schönheit‹. Lass uns bitte von was anderem reden, Nina. Heute ist unser Tag.« Sarah berührt Ninas Ohr und spielt damit. »Wieso nicht jetzt darüber reden?« »Es war eine andere Zeit, Nina. Und Tom hat dich schon damals nicht richtig kapiert.« »Was war anders, Sarah?« »Ich weiß es nicht mehr.« Sarah streckt sich und gähnt. Nina lässt nicht locker. »Vielleicht, dass wir ohne schlechtes Gewissen rausgehen und die Welt erobern konnten. Unser Maßstab waren wir selbst, und nicht die …« Sie zögert, sucht nach dem richtigen Wort. »… nicht die herrschenden Konventionen.« »Was meinst du mit Konventionen? Fühlst du dich heute nicht mehr frei?« »Nicht wie damals. Ich konnte Autofan und Umweltschützerin gleichzeitig sein, Kettenraucherin und Müsliesserin, nuttiger Modefreak und feministisch politisieren – es war einfach egal.« Sarah zieht jetzt die Decke von ihrem Körper. »Lass uns von was anderem reden, Nina. Lass uns ein Müsli essen.« Sarah trägt schwarze Spitzenunterwäsche. Nina versucht die Marke zu erkennen. Sarah dreht sich zu Nina, stützt sich ab und...


Kummer, Tom
Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fiktiver Interviews einen Medienskandal aus. Nach mehreren Jahren in Los Angeles mit seiner Familie, lebt er wieder in Bern. Er schrieb u.a. 'Good Morning, Los Angeles - Die tägliche Jagd nach der Wirklichkeit' (1997) und 'Blow Up' (2007). Seine Romane 'Nina & Tom' (2017) und 'Von Schlechten Eltern' (Shortlist Schweizer Buchpreis 2020) wurden von der Kritik gefeiert.

Tom Kummer, geboren 1961 in Bern, ist ein Schweizer Autor. Als Journalist löste er im Jahr 2000 wegen fiktiver Interviews einen Medienskandal aus. Nach mehreren Jahren in Los Angeles mit seiner Familie, lebt er wieder in Bern. Er schrieb u.a. 'Good Morning, Los Angeles - Die tägliche Jagd nach der Wirklichkeit' (1997) und 'Blow Up' (2007). Seine Romane 'Nina & Tom' (2017) und 'Von Schlechten Eltern' (Shortlist Schweizer Buchpreis 2020) wurden von der Kritik gefeiert.


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