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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Kunisch Todtnauberg

Die Geschichte von Paul Celan, Martin Heidegger und ihrer unmöglichen Begegnung

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-423-43738-7
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Dichter und Denker. Todesfuge und Schwarze Hefte – das Treffen in Todtnauberg
Ein langjähriger Antisemit und der einzige Holocaust-Überlebende seiner Familie: Drei Mal begegneten sich Paul Celan und Martin Heidegger, zu Spaziergängen, zum Kaffee, zu Gesprächen.

Was verband einen der wirkungsmächtigsten deutschen Philosophen und den bedeutendsten jüdischen Lyriker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert, der dem ersten Treffen eines seiner bekanntesten Gedichte widmete: 'Todtnauberg'?

Diese drei Begegnungen sind in der deutschen Geistesgeschichte einzigartig. Hans-Peter Kunisch erzählt sie so dicht, so lebendig und anschaulich, wie dies erst neue Recherchen und Quellen möglich machen. So nah sind wir Paul Celan und Martin Heidegger bislang nicht gekommen.

- Erstmals in einem Buch nacherzählt: die Lebensgeschichten, verbunden mit der besonderen Beziehung zwischen Celan und Heidegger – recherchiert in bislang unbekannten Quellen und bei den letzten Zeitzeugen

- Aufwendig gestaltet, mit bedrucktem Vorsatzpapier

- Mit Lesebändchen
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1
KEIN PERSILSCHEIN, ACHT ROSEN UND DIE GANZE EXISTENZ
Das Hotel Victoria in der Eisenbahnstraße, direkt am Colombipark, ist an diesem 24. Juli 1967 eine der besseren Adressen in der Freiburger Innenstadt. Die guten Zimmer haben noch immer kein eigenes Bad, die Holzböden des vor hundert Jahren erbauten Hauses knarzen an allen möglichen Stellen. Doch die getäfelten Wände, der dunkelrote Läufer auf der Treppe und die gediegenen Lüster lassen erahnen, warum Gerhart Baumann, ordentlicher Professor für Neuere deutsche Literatur und einer der Bildungshonoratioren der Stadt, seine Universitätsgäste hier unterbringt. Auch die Umgebung passt. Aus den Fenstern kann man, auf einem kleinen Hügel, das »Schlössle« der Gräfin von Zea Bermudez y Colombi sehen, ihren stattlichen Witwensitz, um den herum im 19.?Jahrhundert ein eindrucksvoller Park angelegt wurde. Paul Celan kann sich durchaus geehrt fühlen. Der 46 Jahre alte Dichter der berühmten »Todesfuge«, die seit Celans erster Gedichtsammlung Mohn und Gedächtnis als Beweis dafür gilt, dass auch nach dem Holocaust Gedichte in deutscher Sprache möglich sind, soll an diesem Abend im 1100 Hörer fassenden Auditorium Maximum der Albert-Ludwigs-Universität lesen. Wahrscheinlich nur aus Übersetzungen »von Shakespeare bis Ungaretti. Celan begründete diese Entscheidung, Übersetzungen zu lesen, mit der vorläufigen Unmöglichkeit, seine Gedichte vorzulesen in einem Land, das die Kriegsschuld und die Schuld gegenüber dem Jüdischen Volk nicht abgetragen habe.« So berichtet es der Germanist Gerhard Neumann, damals Baumanns Assistent. Neumann hatte Celan über Elmar Tophoven, Samuel Becketts deutschen Übersetzer, in Paris kennengelernt und die Lesung vermittelt. Die Gründe für Celans Absicht, »nur« Übersetzungen zu lesen, sind verständlich, muten aber auf den ersten Blick etwas eigenartig an. Er hat schon mehrfach in Deutschland eigene Gedichte vorgetragen. Nicht nur 1952 in Niendorf an der Ostsee, bei jener berüchtigten Tagung der Gruppe 47, auf der Celan im internen Wettbewerb um den Preis der Gruppe, deutlich abgeschlagen, immerhin die drittmeisten Stimmen erhielt. Aber Hans Werner Richter, der Tagungsleiter, verwies Celans melodisches Vortragspathos in einer Mischung aus Irritation und Perfidie bei Tisch in die Synagoge und verglich es mit dem rheinischen Singsang von Joseph Goebbels. Auch in Tübingen, Stuttgart, Frankfurt, Kiel, Hannover ist es in der Zwischenzeit zu Lesungen aus eigenen Werken gekommen. Celan hat 1958 den Bremer Literaturpreis und 1960 den Büchner-Preis, den angesehensten Preis für deutschsprachige Gegenwartsliteratur in Deutschland in Empfang genommen. Doch die Jahre 1959/60 markieren einen Wendepunkt. Es ist eine verwinkelte, aber am Ende ganz einfache Geschichte. Sie hat mit einer Frau zu tun, die mit vielen berühmten Männern bekannt war und in ihren Erinnerungen Ich verzeihe keinem geschliffen davon zu berichten weiß. Ob Rainer Maria Rilke, mit dem sie liiert war, obwohl sie »seinen Schnauzbart über den Negerlippen nicht ausstehen konnte«, oder James Joyce – »dieser pedantische Egoist (…), ein arktischer Fisch, eine Kreuzung zwischen Hummer und Auster« – alle werden sie von Claire Goll, die 1891 als Clara Aischmann in Nürnberg geboren wurde, mit so knappen wie scharfen Charakterbildern bedacht. Und seit 1952 macht Claire, die ihn einmal »mein Päulchen« nannte, Celan das Leben zur Hölle. Oder lässt er es sich von ihr zur Hölle machen? Manchmal weiß er das selbst nicht mehr genau. Aber seit Claire Goll ihre Pressekampagne, ursprünglich per geheimem Rundbrief, 1960 mit Zeitschriftenartikeln öffentlich gemacht hat – Celan soll die Werke ihres verstorbenen Mannes, des elsässisch-jüdischen Dichters Yvan Goll, plagiiert haben –, fühlt sich Celan zu Recht verfolgt. Und er liegt auch mit seinen sonstigen Mutmaßungen nicht falsch. Rezensionen konservativer Starkritiker zeugen von bundesrepublikanisch-plüschigem Antisemitismus nach dem Holocaust: Hans Egon Holthusen, der Celan in einer Kritik einen »Fremdling und Außenseiter dichterischer Rede« nennt, ist nicht nur der Autor von Der unbehauste Mensch, einem Nachkriegsbestseller zur geistigen Situation der Zeit. Er war auch Angehöriger der SS. Holthusen schreibt, Celan verfüge über eine »durch sich selbst inspirierte, aus rein vokabulären Relationen und Konfigurationen entwickelte Dichtersprache« – und reinigt sie damit von Wirklichkeit und Geschichte. Für die Holthusen, einst ein überschwänglicher Propagandist des NS-Systems, mitverantwortlich ist. Auch Günther Blöcker, ein historisch weniger kompromittierter wichtiger Kritiker, versucht, Celans Gedichten die Relevanz zu nehmen, indem er sie zu »vorwiegend graphischen Gebilden« erklärt. Andererseits erledigt er die ihm unliebsame sprachliche Freiheit Celans mit dem Kurzkommentar »das mag an seiner Herkunft liegen«. Jeder Satz dieser Art ist für Celan ein Stich ins Herz. Gerade auch angesichts der kommenden Tage, vor denen er sich manchmal fürchtet. Noch stehen die Fenster seines Zimmers im Victoria offen, aber vor einer Stunde hat er die schweren Vorhänge zugezogen. Sie lassen nur einzelne Flecken Licht herein, bewegen sich kaum. Celan hat Baumann gesagt, er wolle noch die Lesung vorbereiten. Jetzt liegt er auf seinem schmalen Bett und horcht, mitten am Nachmittag, auf alles, was von draußen kommt und durch seinen Körper geht. Aber keine Straßenbahn »rast« hier durch seine »Stube«, kein Wagen geht über ihn hinweg, wie einst über Malte Laurids Brigge in Rilkes gleichnamigem Epochenroman der Moderne, der Celan damals nach Paris gelockt hat. Gerade hört er nur die hellen Stimmen einiger deutscher Kinder, die von irgendwoher nach irgendwohin laufen. Sie sind fröhlich und ausgelassen, auch wenn sie die Sommerferien in der Stadt verbringen müssen. Celan lächelt. Er erinnert sich, wie die kleine, feine Edith Horowitz im Herbst Kastanien sammelte, um sie im Winter von ihrem Balkon zu werfen, wenn Paul mit dem Cousin und Friseursohn Gusti Chomed zusammen bei Schnee und Eis den Czernowitzer Töpferberg herunterrodelte. Worauf die ängstliche Edith neidisch war und sich freute, wenn Gusti und Paul sich über Treffer am Kopf und Kastanien im Schnee wunderten. Celan liegt ganz ruhig und aufmerksam. Es ist, als spüre er mit allen Sinnen, wie das müdeste der lärmenden Kinder auf dem Mäuerchen an der oval geschwungenen Auffahrt des Colombi-Schlösschens sitzen bleibt und den Kopf etwas auf die Seite legt. Nichts war so schlimm, wie wenn Paul von seinem kleinen Vater – die Mutter war einen ganzen Kopf größer – nach Schlägen in die leere Kammer gesperrt wurde. Sie hatte nur ein winziges Fenster, das zum Hinterhof ging. Jedes Mal musste Paul warten, bis der Vater, der den Schlüssel mitnahm, aus dem Haus ging und die Mutter ihrem kleinen Jungen aus dem Fenster helfen konnte. Etwas später begann der Junge, Rilke zu lesen: Habe ich es schon gesagt? Ich lerne sehen. Ja, ich fange an. Es geht noch schlecht. Aber ich will meine Zeit ausnutzen. (…) Da sind Leute, die tragen ein Gesicht jahrelang, natürlich nutzt es sich ab, es wird schmutzig, es bricht in den Falten, es weitet sich aus wie Handschuhe, die man auf der Reise getragen hat. Das sind sparsame, einfache Leute; sie wechseln es nicht, sie lassen es nicht einmal reinigen. Es sei gut genug, behaupten sie, und wer kann ihnen das Gegenteil nachweisen? Nun fragt es sich freilich, da sie mehrere Gesichter haben, was tun sie mit den andern? Sie heben sie auf. Ihre Kinder sollen sie tragen. Pauls Vater Leo Antschel, dessen Namen Celan in ein anagrammatisches Pseudonym verwandelt hat, als er in rumänischen Zeitschriften zu veröffentlichen begann, war nach dem Ersten Weltkrieg als arbeitsloser Bautechniker in den Brennholzhandel geraten: ein einfacher, unsicherer, meist erfolgloser Mann, der große zionistische Überzeugungen hatte und gerne seiner Schwester nach Palästina gefolgt wäre. Für Celans Mutter Fritzi, geborene Schrager, waren deutsche Bücher und die sanfte Natur der Bukowina das größte Glück. Sie, die kein Gymnasium hatte besuchen dürfen, wollte im Bildungswettstreit der Bürger von Czernowitz, die ihre Kinder alle für Genies hielten, vorne mitmischen. Als Einzelkind war Paul gefordert. Grenzen gab es zuerst beim Geld: Klavier war teuer, Celan sollte Geige spielen. Mit der Zeit gelang es ihm, sich von der Pflicht zu befreien. Er war in anderen Dingen begabt, lernte die Sprachen viel schneller als andere. Als Celan vor zwei Jahren, 1965, von einer Reise nach Frankfurt zurückkam, stand auf einmal Ilana Shmueli in Paris vor der Tür. Drei Tage blieben sie zusammen und erzählten davon, wie die stolze Stadt Czernowitz sich noch habsburgisch gab, obwohl sie seit den Verträgen von Versailles zu Groß-Rumänien gehörte. Wie das Deutsche die Sprache blieb, in der die Juden lasen und schrieben und noch lange nicht ahnten, dass es auch die Sprache ihrer Mörder sein würde. Aber Französisch, meinte Ilana, die damals Liane Schindler hieß, noch jetzt, hielten sie in Czernowitz für eleganter und Verlaine für den raffiniertesten ihrer Götter. Auch Ilanas Mutter, die aus Wien kam, liebte die Literatur. Ihr Vater arbeitete in Czernowitz ebenfalls im Holzhandel, allerdings erfolgreich. Als Kind wurde sie mit der Kutsche zur Schule gebracht. Celan wird von Rilke nach Paris geholt, aber auch die Zeit schickt ihn dorthin: Er soll Medizin studieren, doch in Wien und »im Reich« ist das, 1938, für Juden...


Kunisch, Hans-Peter
Hans-Peter Kunisch, geboren 1962, studierte Germanistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und promovierte über Musil, Schnitzler und Kafka. Das Treffen von Todtnauberg hat er vor Ort und in Archiven von Marbach bis Paris recherchiert und dort die letzten lebenden Zeitzeugen gesprochen. Er schreibt für ›DIE ZEIT‹, ›SZ‹, den WDR, DLF Kultur und das ›Philosophie Magazin‹.

Hans-Peter Kunisch, geboren 1962, studierte Germanistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und promovierte über Musil, Schnitzler und Kafka. Für ›Todtnauberg‹ hat er vor Ort und in Archiven von Marbach bis Paris recherchiert und dort die letzten lebenden Zeitzeugen gesprochen. Er schreibt für ›Die Zeit‹, ›SZ‹, den WDR, DLF Kultur und das ›Philosophie Magazin‹.


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