Robinson | Haus ohne Halt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 13, 256 Seiten

Reihe: edition fünf

Robinson Haus ohne Halt

E-Book, Deutsch, Band 13, 256 Seiten

Reihe: edition fünf

ISBN: 978-3-942374-57-6
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein kleiner Ort in den Rocky Mountains, Mitte der 1950er. Hier wachsen die Schwestern Ruth und Lucille bei ihrer Großmutter auf. Nach deren Tod übernimmt ihre Tante Sylvie den Haushalt. Und während die verträumte Ruthie sich von der eigenbrötlerischen Art der Tante angezogen fühlt, sehnt sich Lucille nach Normalität. Die beiden werden einander immer fremder ... Eine poetische, gefühlskluge Geschichte über Landstreicherinnen und Heimatlosigkeit, Stille und Anderssein.

Marilynne Robinson wurde 1943 in Sandpoint, Idaho, am See aus 'Haus ohne Halt' geboren. Sie studierte in Rhode Island Englische Literatur, promovierte in Washington und lehrte als Writer-in-Residence und Gastprofessorin an zahlreichen Universitäten. Heute unterrichtet sie am Writer's Workshop in Iowa. Die Pulitzer-Preisträgerin, hierzulande noch nahezu unbekannt, ist eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. 2013 war sie zum zweiten Mal für den Man Booker International Prize nominiert.
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2 Als meine Großmutter nach fast fünf Jahren eines Wintermorgens nicht mehr aufwachen wollte, wurden Lily und Nona aus Spokane geholt und übernahmen den Haushalt in Fingerbone, wie meine Großmutter es gewünscht hatte. Ihre Angst war von Anfang an deutlich, schon in dem nervösen Zittern, mit dem sie ihr Gepäck und ihre Taschen nach dem kleinen Geschenk durchsuchten, das sie mitgebracht hatten, (es war eine große Schachtel mit Hustenbonbons, eine Süßigkeit, die sie als wohlschmeckend und zugleich gesund erachteten). Lily und Nona hatten beide hellblaues Haar und trugen schwarze Mäntel mit verschlungenen Mustern aus glänzenden schwarzen Perlen auf den Revers. Ihre breiten Körper waren von den Hüften aufwärts vornüber geneigt, und ihre Arme und Fesseln waren dick. Ihre Erscheinung war, obwohl sie alte Jungfern waren, großbusig und mütterlich und stand in merkwürdigem Kontrast zu ihrem brüsken unbeholfenen Tätscheln und ihren Küsschen. Nachdem ihr Gepäck ins Haus gebracht worden war und sie uns geküsst und getätschelt hatten, schürte Lily das Feuer, und Nona ließ die Rollos herunter. Lily trug einige der größeren Blumensträuße auf die Veranda, und Nona goss mehr Wasser in die Vasen. Dann wirkten sie ratlos. Ich hörte, wie Lily zu Nona sagte, es seien noch drei Stunden bis zum Abendessen und fünf bis zur Schlafenszeit. Sie musterten uns mit nervöser Traurigkeit. Sie fanden ein paar Reader’s Digest, die sie lasen, während wir auf dem Teppich vor dem Ofen Quartett spielten. Eine lange Stunde verstrich, dann tischten sie das Abendessen auf. Nach einer weiteren Stunde steckten sie uns ins Bett. Dort lagen wir und lauschten ihrer Unterhaltung, die immer sehr gut verständlich war, weil sie beide schwerhörig waren. Sie erschien uns damals und immer wieder als Bestätigung und Ausgestaltung ihrer Einvernehmlichkeit, die so wohldurchdacht und gepflegt war wie ein Termitenbau. »Eine Schande!« »Eine Schande, eine Schande!« »Sylvia war noch nicht alt.« »Sie war nicht mehr jung.« »Sie war zu alt, um noch für Kinder zu sorgen.« »Sie war zu jung, um schon davonzugehen.« »Sechsundsiebzig?« »War sie sechsundsiebzig?« »Das ist nicht alt.« »Nein.« »Nicht in ihrer Familie.« »Ich erinnere mich an ihre Mutter.« »Munter wie ein Backfisch, noch mit achtundachtzig.« »Aber Sylvia hatte ein schwereres Leben.« »Viel schwerer.« »Viel schwerer.« »Diese Töchter.« »Wie konnte nur so viel schiefgehen?« »Das hat sie sich selbst gefragt.« »Das würde sich jeder fragen.« »Ich auf jeden Fall.« »Diese Helen!« »Na, und erst die Jüngste, Sylvie?« Zungenschnalzen. »Wenigstens hat sie keine Kinder.« »Jedenfalls soweit wir wissen.« »Eine Vagabundin.« »Eine Wanderarbeiterin.« »Eine Landstreicherin.« Schweigen. »Man müsste sie wegen ihrer Mutter benachrichtigen.« »Ja, das müsste man.« »Wenn wir nur wüssten, wo sie zu finden ist.« »Vielleicht könnten Zeitungsanzeigen helfen.« »Nein, das bezweifle ich.« »Ja, ich auch.« Erneutes Schweigen. »Diese zwei kleinen Mädchen.« »Wie konnte ihre Mutter sie nur einfach verlassen?« »Ohne Abschiedsbrief.« »Es wurde nie ein Abschiedsbrief gefunden.« »Das kann kein Unfall gewesen sein.« »Nein.« »Die arme Frau, die ihr den Wagen geliehen hatte.« »Sie hat mir leidgetan.« »Sie hat sich Vorwürfe gemacht.« Eine stand vom Tisch auf und legte Holz aufs Feuer. »Es scheinen nette Kinder zu sein.« »Sehr still.« »Nicht so hübsch wie Helen.« »Die eine hat schönes Haar.« »Sie sind nicht unansehnlich.« »Das Äußere ist nicht so wichtig.« »Bei Mädchen natürlich wichtiger.« »Und sie werden allein zurechtkommen müssen.« »Die armen Dinger.« »Die armen Dinger.« »Ich bin froh, dass sie still sind.« »Das Hartwick war immer so ruhig.« »Ja, das stimmt.« »Ja wirklich.« Als sie ins Bett gegangen waren, standen Lucille und ich auf und setzten uns, in eine Steppdecke gehüllt, ans Fenster und schauten den wenigen Wolken zu, wie sie vorbeiglitten. Am Himmel stand ein heller Mond mit einem Schlechtwetterring, und Lucille nahm sich vor, unter unserem Fenster aus Schnee eine Monduhr zu bauen. Das Licht am Fenster war stark genug zum Kartenspielen, aber lesen konnten wir nicht. Wir blieben die ganze Nacht wach, weil Lucille sich vor ihren Träumen fürchtete. Lily und Nona blieben den tiefsten Winter hindurch bei uns. Sie waren es nicht gewohnt zu kochen. Sie klagten über Arthritis. Die Freunde meiner Großmutter luden sie zum Pinokelspielen ein, aber sie hatten es nie gelernt. Sie wollten nicht im Kirchenchor mitsingen, weil ihre Stimmen brüchig waren. Ich glaube, Lily und Nona hatten an nichts Gefallen außer an Gewohntem und Vertrautem, an der genauen Nachbildung eines Tages im nächsten. Das war in Fingerbone nicht zu machen, wo jede Bekanntschaft gezwungenermaßen neu und deshalb noch unangenehmer war als Einsamkeit, und wo Lucille und ich ständig drohten, einen Husten zu bekommen oder aus unseren Schuhen herauszuwachsen. Noch dazu war es ein harter Winter. Der Schnee türmte sich schließlich bis hoch über unsere Köpfe. An der einen Seite des Hauses reichte eine Wehe bis aufs Dach. Einige Häuser in Fingerbone fielen unter der Schneelast auf den Dächern einfach in sich zusammen, eine Quelle schwerer, unablässiger Ängste für meine Großtanten, die an ein Backsteinhaus und das Leben im Souterrain gewöhnt waren. Manchmal wärmte die Sonne so, dass eine dicke Schneelawine vom Dach rutschte, und manchmal schüttelten sich die Tannen, und der Schnee fiel mit überraschend lautem, dumpfem Wumms zu Boden und erschreckte meine Großtanten fürchterlich. Diesem finsteren, verheerenden Wetter hatten wir es zu verdanken, dass wir sehr oft zum Schlittschuhlaufen auf den See durften, denn Lily und Nona waren sicher, dass unser Haus einstürzen würde, und hofften, wenn es geschähe, würden wenigstens wir beide verschont bleiben, und sei es nur, um an Lungenentzündung zu sterben. Aus irgendeinem Grund war der See für Fingerbone in jenem Jahr eine Quelle besonderen Vergnügens. Er war früh zugefroren und blieb lange dicht. Einige Morgen waren gefegt, denn die Leute brachten Besen mit und hielten die Fläche frei und dehnten sie aus, bis das nackte Eis weit in den See hinausreichte. Schlittenfahrer bauten am Ufer eine steile Rampe aus Schnee, von der sie weit über das Eis sausten. Am Ufer wurden Fässer zum Feuermachen aufgestellt, und die Leute schleppten Kisten zum Sitzen herbei und Bretter und leere Jutesäcke, auf denen man um die Fässer herum stehen konnte, und Würstchen zum Braten und Wäscheklammern zum Aufhängen von vereisten Fäustlingen an den Fassrändern. Einige Hunde verbrachten mehr und mehr Zeit auf dem Eis. Es waren junge langbeinige, verspielte, raffgierige Hunde, die vom Wetter aufgekratzt waren. Sie liebten es, Eisstücke zu apportieren, die mit phantastischer Geschwindigkeit weit über den See glitten. Die Hunde nutzten ihre überschießende Kraft und Schnelligkeit zu ungestümer jugendlicher Dalberei und scherten sich dabei überhaupt nicht um die Sicherheit ihrer Gliedmaßen. Lucille und ich nahmen unsere Schlittschuhe mit zur Schule, damit wir hinterher gleich zum See gehen und dort bleiben konnten, bis es dunkel wurde. Meistens fuhren wir am Rand des gefegten Eises entlang, immer der Form nach, und wenn wir endlich zum äußersten Ende gelangten, setzten wir uns in den Schnee und blickten nach Fingerbone zurück. Wir fühlten uns beängstigend weit vom Ufer entfernt, auch wenn der See in jenem Winter so fest zugefroren war, dass er gewiss das Gewicht der gesamten Bevölkerung von Fingerbone aus Vergangenheit, Gegenwart...


Marilynne Robinson wurde 1943 in Sandpoint, Idaho, am See aus "Haus ohne Halt" geboren. Sie studierte in Rhode Island Englische Literatur, promovierte in Washington und lehrte als Writer-in-Residence und Gastprofessorin an zahlreichen Universitäten. Heute unterrichtet sie am Writer's Workshop in Iowa. Die Pulitzer-Preisträgerin, hierzulande noch nahezu unbekannt, ist eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. 2013 war sie zum zweiten Mal für den Man Booker International Prize nominiert.


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