Streifzüge durch Raum und Zeit
E-Book, Deutsch, 285 Seiten
ISBN: 978-3-8233-0214-8
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Pekka Kujamäki
Zur Konstituierung und Verortung von Translationskulturen in Theorie und Praxis. Eine Einleitung
Aleksandra Nuc
Die slowenischen Übersetzungen des Reichsgesetzblattes der Habsburgermonarchie: Dimensionen der Translationskultur zwischen 1849 und 1918
Fiona Begley, Hanna Blum
The role of translation in the Celtic Revival: Analysing Celtic translation cultures
Emanuela Petrucci
Un paese, 6000 lingue: Binnenübersetzung als Teilbereich der italienischen Übersetzungskultur
Philipp Hofeneder
Kommunikationskanäle der sowjetischen Translationspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Iryna Orlova
Translationskulturelle Vorüberlegungen zur literarischen Übersetzung in der Sowjetukraine: Die Hürden der Bürokratie
Edina Dragaschnig, Claus Michael Hutterer
Ungarische Translationskultur im Sozialismus: Zensur, Normen und Samisdat-Literatur
Petra Cukier, Alexandra Marics
Von den Jeunes de Langue zu den Interprètes de Conférence: Institutionelle Normgebung in der Translationskultur Frankreichs
Sevil Çelik Tsonev
Das Berufsbild von TranslatorInnen im türkischsprachigen Raum: Translationskulturelle Aspekte
Abbildungen
Sachregister
Personenregister
Potenzial des Konzepts Translationskultur
Im Mittelpunkt des Bandes steht das von Erich Prunc seit 1997 entwickelte Konzept, das auf unterschiedliche Sprach- und Kulturräume übertragen, in diesen erprobt und dadurch eventuell auch erweitert wird. Ein Blick auf Pruncs Umgang mit seinem Konzept ergibt einen seit seiner Ersterwähnung im Jahr 1997 stabil gebliebenen begrifflichen Kerninhalt, den Prunc etwa 2001 wie folgt zusammenfasste: Unter Translationskultur wollen wir das historisch gewachsene, aktuell gegebene und grundsätzlich steuerbare Subsystem einer Kultur verstehen, das sich auf das Handlungsfeld Translation bezieht und aus einem Set von gesellschaftlich etablierten Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen aller in dieser Kultur aktuell oder potentiell an Translationsprozessen beteiligten Handlungspartner besteht (Prunc 2001: 285; vgl. auch Prunc 1997: 107, 2008: 24f. u. 2017: 32f.) Mit Translationskultur wurde von Prunc ein multiperspektivisches Konzept entworfen, das sowohl die translatorischen Handlungsformen als auch den sie prägenden zeitbedingten, normativen und diskursiven Handlungsraum erfassen sollte. Im Gegensatz zu diesem Kerninhalt erfuhr das Konzept die stärksten Änderungen vor allem in seiner theoretischen Untermauerung: Wo sich das Konzept zunächst (vgl. Prunc 1997; 2001) noch primär an funktionale Translationstheorien bzw. translatorische Handlungstheorien (vgl. u.a. Vermeer 1983; Holz-Mänttäri 1984; Reiß/Vermeer 1984; Nord 1989; Vermeer 1990) und Begrifflichkeiten der deskriptiven Translationswissenschaft anlehnte, wurde es später stärker mit soziologischen Perspektiven, insbesondere mit Bourdieus Kapital- und Habitus-Begriffen, verknüpft (vgl. Prunc 2008). Die konsequent vollzogene gesellschaftliche und kulturelle Einbettung der Translationskultur als „gesellschaftliches Konstrukt“ stellte das „innovative und produktive“ Potenzial des Konzepts (vgl. Schippel 2008) immer deutlicher in den Vordergrund, wobei dieses bis heute alles andere als ausgeschöpft ist. Ob in der Praxis des Gebärdensprachdolmetschens (Grbic 2010) oder des modernen Translationsmanagements (Risku 2010), im Spannungsfeld des Community Interpreting in Einrichtungen der Sozialverwaltung oder bei der Polizei (Pöllabauer 2006, 2010), gemein ist diesen und anderen Projekten, in denen das Konzept bisher erprobt wurde, die Tatsache, dass dies in der deutschsprachigen Translationswissenschaft geschah. Außerhalb derselben sind derartige Anwendungsversuche viel seltener, was sicherlich in nicht geringem Ausmaß damit zusammenhängt, dass Pruncs theoretische Ausführungen nur beschränkt auf Englisch vorliegen. Dementsprechend unsichtbar ist das Konzept in dem einschlägigen englischsprachigen Diskurs auch geblieben. Eine kurze Diskussion des Konzepts ist in Anthony Pyms (2006) Einführung zum Sammelband Translation and interpreting: Socio-cultural perspectives wie auch in Sonja Pöllabauers (2006) Beitrag zu demselben Band zu finden. Auf Englisch wird auf das Konzept auch in einigen Beiträgen aus dem finnischen Forschungsprojekt In Search of Military Translation Cultures flüchtig eingegangen, in dem der Versuch unternommen wurde, die translatorische Praxis mit ihren AkteurInnen und Rahmenbedingungen im Zweiten Weltkrieg in Finnland als Translationskulturen zu rekonstruieren (vgl. z.B. Kujamäki 2012; Kujamäki/Footitt 2016). Anzumerken ist schließlich auch, dass das englische Pendant translation culture terminologisch gesehen nicht ohne Probleme zu sein scheint, weil damit gelegentlich auch das benachbarte Konzept Übersetzungskultur ins Englische übertragen wird und weil auch andere ähnlich klingende Bezeichnungen wie cultures of translation (vgl. Baer 2011) oder translational cultures (Simon 2011: 17; Flynn/Doorslaer 2016: 76) oft irreführend einen ähnlichen Begriffsinhalt vermuten lassen. Über das oben genannte Potenzial ist nichtsdestotrotz nicht hinwegzusehen. Es schlägt sich vor allem in der Perspektivenvielfalt nieder, die aus dem Konzept abgeleitet werden kann. Wie auch der angeführten Definition zu entnehmen ist, wird Translationswissenschaft mit der Translationskultur vor zwei Aufgaben gestellt, bei denen das Konzept je nach den Zielsetzungen den Forschungsgegenstand oder die methodologische Grundlage der Analyse darstellen kann: Zum einen geht es um die Rekonstruktion und kritische Auswertung historischer bzw. gegenwärtiger Translationskulturen, um Gesetzmäßigkeiten von Translation, ihre jeweilige gesellschaftliche Rolle und ihre kommunikativen Ausprägungen, das Beziehungsgeflecht der im Handlungsraum beteiligten Institutionen und Akteur/innen sowie das manipulative Potenzial der translatorischen Agency aufzuzeigen (vgl. Prunc 1997: 107; Prunc 2017: 32). Zum anderen steht die Translationswissenschaft aber auch vor der ethisch und moralisch geprägten Aufgabe, unter anderem auf Rekonstruktionen und kritische Status-quo-Deskriptionen aufbauend, im Sinne einer Konstruktion von Translationskulturen zu agieren, wobei der Idealtypus bzw. die „Utopie“ einer demokratischen Translationskultur mit ihren vier Prinzipien (Kooperativität, Loyalität, Ökologizität und Transparenz) den angestrebten Zielwert darstellt (vgl. Prunc 2008: 30–34; 2017: 32–36). Im Mittelpunkt des vorliegenden Buchs steht die erstgenannte historisch-rückblickende Aufgabe, wobei ein/e aufmerksame/r Leser/in hier und da einzelne Aspekte erkennen wird, die auch in gegenwärtigen Translationskulturen sichtbar sind und bei denen auf dem Weg zu ihrer demokratischen Ausprägung Gesprächs- und Handlungsbedarf vorliegt. Translationskultur als Forschungsobjekt oder Erklärungsmodell Für die Operationalisierung des hier im Mittelpunkt stehenden Konzepts haben die Autor/innen zwei unterschiedliche Wege genommen. In der Mehrzahl der Beiträge wird Translationskultur als Objekt der Deskription betrachtet, aber in einzelnen Artikeln wird auch der Versuch unternommen, das Konzept der Translationskultur mit den von Prunc vorgelegten Dimensionen als eine operative und reflexive Folie zu verwenden, mit der der aktuelle Stand des spezifischen translatorischen Handlungsraums mit seinen gesellschaftlichen Zusammenhängen – beispielsweise in Bezug auf das oben genannte „demokratische“ Ideal – erfasst werden soll. Translationshistorische Analysen verfolgen nicht selten das Ziel, Formen translatorischer Handlungen sowie translatorischer Produkte in ihren historischen und gesellschaftlichen Entstehungszusammenhängen und -bedingungen zu verstehen, um auf diese Weise Wissen über Übersetzen und Dolmetschen in der Vergangenheit und ihre Bedeutung in mehrsprachigen Kommunikationskontexten zu akkumulieren. In diesen Bemühungen ist Translationskultur zumeist als historisch-räumlich-kulturell näher definiertes Objekt eines Rekonstruktionsversuchs aufzufassen. Dabei handelt es sich idealtypisch um ein Zusammenführen von translatorischer Praxis (Produkte und Handlungen) und auf Translation bezogenen, in Pruncs Definition erwähnten gesellschaftlich etablierten Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen und Wertvorstellungen (vgl. Prunc 1997: 107). Die Analyse bemüht sich somit um ein gesellschaftliches (Re-)Konstrukt, das den „Konsens und Dissens über zulässige, empfohlene und obligatorische Normen der Translation“ (Prunc 2012: 331) in der gegebenen historischen Situation zu erfassen versucht. In dieser kurzen Form unterstellt die Aufgabenbeschreibung jedoch eine gewisse methodologische Einfachheit, die in konkreten translationshistorischen Projekten den epistemologischen Anforderungen nicht entspricht. Dies ist zumindest zum Teil darauf zurückzuführen, dass sich Prunc als „Translationsphilosoph“ (vgl. Schippel 2019) wohl um kein ultimativ ausgearbeitetes, wissenschaftstheoretisch hieb- und stichfestes Konzept bemühte, sondern es offen für sowohl unterschiedliche Anwendungsversuche als auch eine kritische Weiterentwicklung desselben halten wollte. Allein der Begriff Kultur führt zu nicht unbedeutenden definitorischen Herausforderungen: In Pruncs Verwendung enthält Translationskultur Merkmale nicht nur eines intellektuell-ästhetischen Kulturbegriffs (mit Verweis auf epochen- und kulturspezifische Schönheitsideale mit diesbezüglichen Wandlungsprozessen) und eines instrumentellen Begriffs (im Sinne einer etablierten Praxis oder policy; vgl. Geschichtskultur, Militärkultur oder Unternehmenskultur), sondern auch Merkmale eines anthropologischen Kulturbegriffs (mit Fokus auf die Gesamtheit kollektiver Denk- und Handlungsmuster) (vgl. Lüsebrink 2012: 10f.). Über diese begriffsinhaltlichen Dimensionen hinaus ist vom Problem der kulturellen Abgrenzung bei der historischen wie auch der gegenwärtigen Konstituierung und Konzeptualisierung der Translationskulturen nicht...