Schultze-Rhonhof | 1939 - Der Krieg, der viele Väter hatte | Buch | 978-3-95768-202-4 | sack.de

Buch, Deutsch, 720 Seiten, Format (B × H): 189 mm x 249 mm, Gewicht: 1454 g

Schultze-Rhonhof

1939 - Der Krieg, der viele Väter hatte

Der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg

Buch, Deutsch, 720 Seiten, Format (B × H): 189 mm x 249 mm, Gewicht: 1454 g

ISBN: 978-3-95768-202-4
Verlag: Olzog


Was hat die Generation meines Vaters dazu bewogen, nur 20 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg Adolf Hitler in einen neuen Krieg zu folgen? Die Suche des Autors nach einer Antwort führt zu überraschenden Ergebnissen.
Dokumente beteiligter Außenministerien, Notizen und Memoiren englischer, französischer, italienischer und amerikanischer Regierungschefs, Minister, Diplomaten und Armeeoberbefehlshaber belegen: Es war eine ganze Anzahl von Staaten, die den Zweiten Weltkrieg angezettelt haben. Zusammenhänge werden deutlich, die bislang schlichtweg übergangen wurden. 'Dieser Krieg', so Schultze-Rhonhof, 'hatte viele Väter.'
Vieles in unserer deutschen Geschichte zwischen 1919 und 1939 ist ohne Kenntnis des zeitgleichen Geschehens in anderen Ländern nicht zu verstehen, zu eng greifen oft Wirkung und Wechselwirkung ineinander. Doch es ist nicht allein die zeitgleiche Geschichte unserer Nachbarvölker, die den Kriegsbeginn beeinflußt hat, es ist auch – und das nicht unerheblich – die gemeinsame Vorgeschichte der streitenden Parteien. Der israelische Botschafter in Bonn, Asher ben Nathan, antwortete in einem Interview auf die Frage, wer 1967 den Sechstagekrieg begonnen und die ersten Schüsse abgegeben habe: 'Das ist gänzlich belanglos. Entscheidend ist, was den ersten Schüssen vorausgegangen ist.' So hat fast jede Geschichte ihre Vorgeschichte.
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Vorwort

Teil 1: Die Vorgeschichte

Die Vorgeschichte
Kriegsgründe in Europa
Die britisch-deutsche Rivalität
Englands Vertragspolitik
Das Flottenwettrüsten
Englands Alternative
Englands Feindbild
Die Marokkokrisen
Die Bagdadbahn
Die deutsche Sicht von England
Französisch-deutsche Auseinandersetzungen
Elsaß-Lothringen
Die Rivalität in den Kolonien
Der Streit um Kolonien
Rußlands Verhältnis zu Deutschland
Die belgische Neutralität
Deutschland als „enfant terrible“
Das Gewirr von gegensätzlichen Interessen
Der Zündfunke von Sarajewo
Die Kettenreaktion vom Juli 1914
Die Kriegsschuld 1914
Der Erste Weltkrieg
Die Hypothek der Propaganda
Der Versailler Vertrag und die Ächtung Deutschlands
Die ersten Folgen von Versailles
Die subjektive Sicht der Völker
Brandgeruch in Europa

Teil 2: Die Jahre der Anschlüsse

Die Jahre der Anschlüsse
Die Volksabstimmung an der Saar
Die deutsche Wehrhoheit im Rheinland
Der Anschluß Österreichs
Die Vorgeschichte
Die deutsch-österreichische Wiederannäherung
Das Nachkriegsösterreich
Dr. Schuschniggs „Volksabstimmung“
Die Wiedervereinigung
Stresa, Abessinien und die Achse Rom-Berlin
Amerika im Hintergrund
Der Anschluß der Sudetengebiete und die Unterwerfung der Tschechei
Die historischen Wurzeln der Tschechoslowakei
Die Tschechoslowakei als Vielvölkerstaat
Die Sudetendeutschen
Das Verhältnis zwischen Tschechen und Sudetendeutschen
Die deutsche Einmischung in die tschechische Sudetenkrise
Die tschechoslowakische Eskalation
Englands und Frankreichs Einmischung
Chamberlains erster Vermittlungsversuch und Beneš’ Vorschlag zur Aussiedlung der Sudetendeutschen
Roosevelts Rettungsversuch
Das Einlenken der Tschechen
Das Treffen in Bad Godesberg vom 22. bis 24. September 1938
Beneš’ „Sowjet-Plan“
Die Münchener Konferenz vom 29. bis 30. September 1938
Der Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938
Die „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938
Der Irrtum mit der „freien Hand im Osten“
Der Zerfall der Tschechoslowakei
Die Tschechei wird zum Protektorat
Die Garantie, die es nie gab
Der Anlaß zum Zweiten Weltkrieg
Die Rückgabe Memels
Die noch immer offene koloniale Frage
Wirtschaftliche Kriegsgründe 1918 bis 1939
Die Kriegsschulden aus dem Ersten Weltkrieg
Die goldenen Zwanziger Jahre
Die Weltwirtschaftskrise
Beggar-my-neighbour-policy
Die Wirtschaft im Dritten Reich
Hitlers Lebensraum-Vorstellungen
Roosevelts Forderung nach weltweitem Freihandel

Teil 3: Die Wiederaufrüstung zwischen 1918 und 1939

Die Wiederaufrüstung zwischen 1918 und 1939
Das Abrüstungsgebot von Versailles
Die internationale Aufrüstung nach dem Ersten Weltkrieg
Flottenrüstung
Luftrüstung
Rüstung der Landstreitkräfte
Die Genfer Abrüstungsverhandlungen bis 1933
Die geheimen Verteidigungsvorbereitungen der Reichswehr bis 1933
Die geheimen Verteidigungsvorbereitungen im Reichsheer
Die geheimen Verteidigungsvorbereitungen der Reichsmarine
Die geheimen Vorbereitungen zur Aufstellung einer Luftwaffe
Geheime Vorbereitungen im allgemeinen Wehrwesen
Hitler und die Genfer Abrüstungsverhandlungen bis 1934
Der Rüstungswettlauf ab 1933
Die Marinerüstung 1933 bis 1939
Die Luftwaffenrüstung 1933 bis 1939
Die Heeresrüstung 1933 bis 1939
Schuld und Mitschuld

Teil 4: Hitlers Kriegsankündigungen bis 1939

Hitlers Kriegsankündigungen bis 1939
Der trügerische Schlüssel zu Hitlers „Langzeitplan“
Hitlers Buch „Mein Kampf“
Der Offenbarungswert der Hitler-Reden
Hitlers Friedensbeteuerungen
Die überhörten Warnsignale und Hitlers Antrittsrede vor Generalen am 3. Februar 1933
Die geheimen Hitler-Reden und die Schlüsseldokumente
Hitlers Rede vom 5. November 1937 und das Hoßbach-Protokoll
Hitlers neuer Ton dem Ausland gegenüber
Hitlers Vortrag vor den Kommandeuren am 10. Februar 1939
Hitlers Rede vom 23. Mai 1939 und das Schmundt-Protokoll
Hitlers Rede vom 22. August 1939 und die sieben Protokolle
Mitwisserschaft und Mitschuld des deutschen Volkes

Teil 5: Der Weg in den deutsch-polnisch-sowjetischen Krieg
Der Weg in den deutsch-polnisch-sowjetischen Krieg
Polen im Streit mit allen seinen Nachbarn
Das polnische Selbstverständnis
Polnisch-sowjetische Auseinandersetzungen
Polnisch-litauische Auseinandersetzungen
Polnisch-tschechische Auseinandersetzungen
Polnisch-deutsche Auseinandersetzungen
Provinz Posen
Provinz Westpreußen-Pomerellen
Danzig
Ost-Oberschlesien
Polen als Vielvölkerstaat
Katholisierung
Weißrussen
Ukrainer
Juden
Kaschuben
Deutsche
Deutschlands grundsätzliche Haltung gegenüber Polen
Polens militärische Gedankenspiele
Polens Bündnispolitik
Das Verhältnis Polen – Frankreich
Das Verhältnis Polen – Großbritannien
Das Verhältnis Polen – Sowjetunion
Das Verhältnis Polen – Tschechoslowakei
Das Verhältnis Polen – Deutsches Reich
Polen und der Kellogg-Pakt
Die Bilanz
Hitlers Polen-Pläne
Die Rolle des Völkerbunds im Streit um Danzig
Roosevelts Rolle im Streit um Danzig
Das Verhältnis der Sowjetunion zu Deutschland
Polens Rückversicherung bei Frankreich kurz vor Kriegsbeginn
Polens Rückversicherung bei England kurz vor Kriegsbeginn
Die gescheiterte britisch-französisch-sowjetische Annäherung
Die gescheiterte deutsch-britische Verständigung
Die deutsch-sowjetische Verständigung
Der Vermittlungsversuch des Vatikans
Die Zuspitzung der Lage in Danzig und in Polen
Die öffentliche Meinung im Deutschen Reich zu Danzig, Krieg und Polen
Polens Selbsteinschätzung am Vorabend des Krieges
Die letzten Vermittlungsvorschläge
Die letzte Woche vor dem Krieg
Mittwoch, der 23. August 1939
Donnerstag, der 24. August 1939
Freitag, der 25. August 1939
Sonnabend, der 26. August 1939
Sonntag, der 27. August 1939
Montag, der 28. August 1939
Dienstag, der 29. August 1939
Mittwoch, der 30. August 1939
Der letzte Tag vor Kriegsausbruch, Donnerstag, der 31. August 1939
Der Kriegsausbruch
Ohne Kriegserklärung
Die Hesse-Friedensmission
Der Übergang zum Weltkrieg
Polens Untergang

Teil 6: Schlußbetrachtung

Schlußbetrachtung
Englands Beitrag zum Kriegsausbruch
Frankreichs Beitrag zum Kriegsausbruch
Polens Beitrag zum Kriegsausbruch
Der Beitrag der Sowjetunion zum Kriegsausbruch
Der Beitrag der USA zum Kriegsausbruch
Deutschlands Beitrag zum Kriegsausbruch
Bilanz

Nachwort zur 7. Auflage

Die Gegentheorie
Der Krieg gegen die Sowjetunion in einem anderen Licht
Kein Hitler-„Langzeitplan“

Anhang

Quellenverzeichnis
Personenverzeichnis
Sachregister


Vorwort

Zu Beginn möchte ich vier Dinge erwähnen. Das sind die Idee des Buchs, ­etwas zu den Quellen und zur Gliederung des Buchs sowie zur Einordnung seines ­Inhalts in das Zeitgeschehen.
Zuerst die Buchidee. Vor ein paar Jahren beschäftigte mich die Frage, welcher Teufel meine Vätergeneration geritten haben mag, als sie nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs einen neuen Krieg vorbereitet und begonnen hat. Ich ­dachte dabei anfangs nur an die deutschen Väter. Die Ergebnisse der Nürnberger Pro­zesse ließen das ja auch zunächst vermuten. Auf der Spurensuche stieß ich allerdings auf vieles, das mir so bis dato nicht bekannt gewesen war. Das war vor allem der Kontext des damaligen Weltgeschehens. Die übliche deutsche ­Geschichtsschreibung, vom gängigen Schulgeschichtsbuch bis zu den Standardwerken des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, blendet diesen Kontext – aus welchem Grund auch immer – fast zur Gänze aus. So las ich auf der Spurensuche erstmals in ausländischer Literatur, in welchem Umfeld es zum Zweiten Weltkrieg kam. Die Vorgeschichte dieses Krieges gleicht einem Kriminalroman; zu meiner Überraschung einem Krimi mit nicht nur einem, sondern vielen Tätern.
Meine zweite Vorbemerkung gilt der Literatur- und Quellenlage. Je nach Auswahl von Literatur und Quellen entstehen recht unterschiedliche Bilder der ­Geschichte. Die in Deutschland verbreitetste Geschichtsschreibung konzentriert sich auf die deutsche Vergangenheit und wählt danach die Quellen aus. Doch ­diese Konzentration verengt den Blick zu einer Tunnelperspektive, und sie läuft Gefahr, die internationalen Gebräuche und Strömungen der beschriebenen ­Epochen auszublenden. Sie zerstört die Zusammenhänge, in denen die Vergangenheit der Deutschen stattgefunden hat. Das gilt in besonderem Maße für die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs.
Zudem trifft die hierzulande übliche Geschichtsschreibung aus offensichtlich politisch-erzieherischen Gründen fast immer eine Quellenauswahl mit Negativ-­Beispielen deutscher Vergangenheitsereignisse. Sie konzentriert sich auf die Überlieferung der Fehlleistungen, Irrtümer und Verbrechen des deutschen Volks im 20. Jahrhundert. Die Beispiele von Normalität, von Menschlichkeit und von positiven Leistungen bleiben fast immer ausgeblendet. Damit verbreiten sich ein verzerrtes Bild der eigenen Geschichte und ein neurotisches Verhältnis der Deutschen zu sich selbst.
Auch ausländische Literatur ist kein Quell der absoluten Wahrheit. Engländer, Franzosen, Amerikaner und Sowjets neigen, wie andere Nationen, zur Selbstdarstellung und zur Rechtfertigung des eigenen Handelns. Trotzdem waren sie für mich bei meiner Arbeit gute Fährtenleger. Das Problem, vor dem ich bei der Spurensuche stand, war, daß die meisten Quellen eine Absicht transportieren. Da sind die Zeitzeugen, deren Berichte vor 1939 anderes melden als ihre Memoiren nach 1945. Da sind die offiziellen Dokumentenbände, die „heiße Ware“ unterschlagen, zum Beispiel die „Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik“ (ADAP), die ich zunächst für authentisch hielt, weil sie in den 50er Jahren als die amtliche Dokumentation des Auswärtigen Amts in Bonn veröffentlicht worden sind. Erst später fiel mir auf, daß diese Nachkriegsausgabe der Akten des deutschen Auswärtigen Amts von amerikanischen, englischen und französischen Wissenschaftlern und Archivaren herausgegeben worden ist. Es darf nicht wundern, daß die Akten dabei zu Gunsten der Sieger ausgewählt und auch „gewaschen“ worden sind. Da sind auch die vielen Memoiren und Dokumente, in denen ich Auslassungen, Überarbeitungen, Fälschungen und pro-domo-Interpretationen fand.
Als dritte Vorbemerkung möchte ich etwas zur Gliederung des Buches sagen. Bei dem Bemühen, Zusammenhänge aufzuzeigen, habe ich vieles nicht nach seinen Zeitabläufen sondern nach den Querbezügen dargestellt, z.?B. nach­einander den Umgang der Polen mit den Russen, mit den Briten, mit den Deutschen usw. Da viele der verschiedenen Querbezüge und Zusammenhänge in denselben ­Zeitabschnitten stattgefunden haben und dieselben geschichtlichen ­Ereignisse berühren, sind zahlreiche Wiederholungen im Text nicht zu vermeiden. Das mag den einen Leser stören, dem anderen ist es vielleicht eine willkommene Gedächtnis­stütze bei der großen Zahl beschriebener Ereignisse.
Die letzte Vorbemerkung gilt der Einordnung des Themas in das Zeitgeschehen. Unser deutsches Geschichtsbewußtsein, soweit es die Zeit der national­sozialistischen Herrschaft betrifft, ist von der grauenhaften Seite des damaligen ­Regimes geprägt. Wir können kaum über diese Zeit berichten, ohne an den Untergang der Rechtsstaatlichkeit im Lande und ohne an die grausame Ermordung von ­Juden und Angehörigen anderer Minderheiten zu denken. Die Erinnerung an die Verbrechen im Auftrag der damals eigenen Regierung legen sich wie ein düsterer Schatten auf die betrachtete Epoche. Der Nationalsozialismus als Leit­idee des damaligen Regimes und der Untergang des Parlamentarismus nach 1933 haben sicherlich Voraussetzungen geschaffen, die es Hitler erleichtert haben, 1939 einen Krieg gegen Polen zu eröffnen. Doch beides hat den Zweiten Weltkrieg nicht verursacht. Von der Verfolgung der Juden im damaligen Deutschland ist Ähnliches zu sagen. Sie hat zwar das Engagement Amerikas gegen das nationalsozialistische Deutschland gestärkt, aber sie hat den Zweiten Weltkrieg nicht verursacht. So sind der Unrechtsstaat und selbst der spätere Mord an Minderheiten nicht Ursache und Anlaß für den Krieg gewesen. Sie sind deshalb auch nicht der Untersuchungsgegenstand des Buchs und nicht sein Thema. Ich will vielmehr versuchen zu beschreiben, was 1939 zum zweiten Streit der Völker innerhalb von 25 Jahren führte.
Bei streitenden Parteien liegt es nahe, sie alle miteinander zu betrachten. Vieles in unserer deutschen Geschichte zwischen 1919 und 1939 ist ohne Kenntnis des zeitgleichen Geschehens in anderen Ländern nicht zu verstehen, zu eng greifen oft Wirkung und Wechselwirkung ineinander. Doch es ist nicht allein die zeit­gleiche Geschichte unserer Nachbarvölker, die den Kriegsbeginn beeinflußt hat, es ist auch – und das nicht unerheblich – die gemeinsame Vorgeschichte der strei­tenden Parteien. Der israelische Botschafter in Bonn, Asher ben Nathan, hat einmal in einem Interview in der Fernsehsendung DIE WOCHE IN BONN auf die Frage, wer 1967 den 6-Tage-Krieg begonnen und die ersten Schüsse abgegeben habe, geantwortet: „Das ist gänzlich belanglos. Entscheidend ist, was den ersten Schüssen vorausgegangen ist.“ So hat fast jede Geschichte ihre Vorgeschichte. Der Kriegsbeginn von 1939 ist ohne die Person des Diktators Hitler nicht zu ­begreifen. Hitler und die Bereitschaft der Deutschen, ihm in den Krieg zu folgen, sind ohne den Vertrag von Versailles unverständlich. Die allgemeine Empörung des deutschen Volkes über Versailles ist ohne die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs nicht zu verstehen. Und auch diese Vorgeschichte kann man nur begreifen, wenn man das Konkurrenzgebaren der großen Staaten im Europa des 19. Jahrhunderts kennt. Das Buch wird deshalb einen langen Anlauf nehmen müssen

Gerd Schultze-Rhonhof, Januar 2003


Vorwort zur 9. Auflage

Nach mehreren Zehntausend verkauften Exemplaren und dem Erscheinen ­einer englischen Übersetzung des Buchs halte ich es für angebracht, die 9. Auflage mit einem neuen Vorwort einzuleiten. Im Vorwort zur 1. Auflage habe ich ­meine ­Motive dargelegt, dies Buch zu schreiben. Nun möchte ich ergänzend mit ein paar Gedanken zu dem ungleichen Paar „Wahrheit und Geschichtsschreibung“ beginnen.
Die Zustimmung, die mich ein paar Hundert Leser mit ihren Briefen haben wissen lassen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Inhalt des Buchs der Mehrheit aller Deutschen und Österreicher nicht gefällt. Er widerspricht zu sehr dem, was sie über die Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts „­wissen“, und er verträgt sich schlecht mit ihrem politischen Bewußtsein. Doch auch zwei Jahrhunderte lang „wußten“ die Gebildeten Europas noch immer, daß sich die Sonne um die Erde dreht, nachdem Nikolaus Kopernikus längst das ­Gegenteil bewiesen hatte. Auch damals spiegelte das „Wissen“ vor allem ein ­politisches ­Bewußtsein beziehungsweise eine religiöse Weltanschauung wider. Wer das ­Erde­-zentrische Weltbild zu bezweifeln wagte, endete nicht selten auf dem Scheiter­haufen. Heute droht dem Zweifler am politisch verbindlichen „Wissen“ kein Scheiterhaufen mehr, allerdings die politische und gesellschaftliche Ächtung mit unangenehmen Konsequenzen.
Obwohl es zu den Volksweisheiten gehört, daß „die Sieger die Geschichte schreiben“ und daß „zu einem Streit immer mehrere gehören“, haben die deutschsprachigen Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend die Geschichtsdarstellungen und Argumente der Sieger übernommen, bis hin zur Auswahl der beschriebenen Ereignisse und der oft diskriminierenden Wortwahl für den deutschen Anteil am geschichtlichen Geschehen. Und sie haben sich in einer sehr vereinfachenden Form auf „Hitler und die Nazis“ konzentriert, statt alle Akteure zu betrachten und zu bewerten, die der Welt das größte Desaster des vorigen Jahrhunderts beschert haben. Das wundert niemanden, der weiß, daß sich die Bundesrepublik Deutschland einmal 1954 im Überleitungsvertrag und ein weiteres Mal 1990 in der Begleitnote zum Zwei-plus-Vier-Vertrag dazu verpflichten mußte, die im Urteil des Nürnberger Prozesses niedergeschriebene Siegergeschichtsschreibung zukünftig in allen Teilen aufrecht zu erhalten. Im Überleitungsvertrag von 1954, Artikel 7 (1) ist verbindlich festgelegt gewesen, daß „alle Urteile“ aus den Nürnberger Prozessen „in jeder Hinsicht nach deutschem Recht rechtskräftig und rechtswirksam bleiben und von den deutschen Gerichten und Behörden demgemäß zu behandeln sind.“ Zum Urteilstext des Nürnberger Hauptprozesses von 1946 gehört als integraler Teil eine genau 200 Seiten lange Darstellung der deutschen Vorkriegs- und Kriegsgeschichte aus der Sicht der Sowjets, der Amerikaner, der Briten und Franzosen. Zu den „Behörden“ gehören die Kultusministerien der Länder, die die Inhalte der Schulgeschichtsbücher zu prüfen und zuzulassen haben, und die Bundes- und Landesämter und -institute, die sich der Zeitgeschichte widmen. So darf nicht wundern, daß sich die meisten Schulgeschichtsbücher und auffallend viele der Publikationen der Ämter und der Institute damals und noch heute streng an die „deutsche Geschichte“ halten, die uns die Sieger in Nürnberg 1946 aufgenötigt haben. In Abwandlung eines klassischen Clausewitz-Zitats kann man hier sagen: „Die Geschichtsschreibung ist die Fortsetzung des Kriegs mit anderen Mitteln.“
Nun könnte man meinen, daß der Überleitungsvertrag und das Jahr 1954 selbst schon Geschichte sind. Doch 1990 wurde die Bindekraft der Urteile des Nürnberger Prozesses per Vertrag verlängert. Als der Überleitungsvertrag durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag abgelöst wurde, bestanden die Siegermächte darauf, daß der besagte Artikel 7 (1) des Vertrags von 1954 weiterhin Bestand hat. In der „Vereinbarung vom 27./28. September 1990 zum Deutschlandvertrag und zum Überleitungsvertrag“, die den Zwei-plus-Vier-Vertrag begleitet hat, wurde das von deutscher Seite schriftlich zugesichert. So weiß man als heutiger Leser nicht, wo Historiker und Autoren aus der frühen Bundesrepublik vertragstreu die ­Siegerlesart der Geschichte zu Papier gebracht und nachfolgenden Historikern und Autoren als irreführendes Erbe hinterlassen haben.
Angesichts einer so facettenreichen Literatur- und Quellenlage sollte es den ­Leser dieses Buches nicht erstaunen, daß das Bild der Zeit zwischen beiden großen Kriegen, das sich mir erschlossen hat, zum Teil von dem abweicht, was heute in Deutschland „allgemeines Wissen“ ist.
Die Kernaussage meines Buches lautet, daß Deutschland, unter Führung von Adolf Hitler, den Zweiten Weltkrieg ausgelöst, jedoch nicht allein verursacht hat. Mit verursacht haben ihn acht ausländische Regierungen und ein paar Hundert Politiker, Presse- und Geheimdienstleute, Wirtschaftsführer, Beamte und andere Akteure in Europa, Amerika und Asien. Sofort nach Kriegsende, schon vor dem Nürnberger Prozeß, einigten sich die vier Siegermächte bezeichnender Weise darauf, die Frage nach der Schuld der Mitverursacher im Prozeß nicht zuzulassen. Damit wurde hier schon durch gezielte Auswahl der verhandelten Vorkriegsereignisse ausgeblendet, was die Sieger belastete. So wurde die Schuld am Zweiten Weltkrieg zuerst von den Sowjets, Amerikanern, Briten und Franzosen und den hierzu gezwungenen deutschen Berichterstattern alleine Deutschland zugesprochen. Dieser Schuldspruch wurde später von der Historikerbranche Deutschlands und Österreichs gefügig übernommen und tradiert. Der schweizer Historiker Sacha Zala schrieb dazu, nach dem Ersten Weltkrieg hätten sich die deutschen Historiker sofort daran begeben, die Ursachen des Kriegs zu untersuchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei dies unterblieben. Ausländische und deutschsprachige Historiker hätten sich sofort und ohne weitere Recherchen darauf festgelegt, daß die Alleinschuld am Zweiten Weltkrieg Deutschland und Adolf Hitler zufällt. Eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Kriegsschuldfrage habe es deshalb nicht gegeben.
Ohne dem Inhalt des Buchs vorzugreifen, seien vier Zitate aus seinem Text ­herausgegriffen, die einem kritischen Verstande sofort Zweifel an der Alleinschuld-These kommen lassen:

– Der italienische Ministerpräsident Francesco Nitti 1923:
„Noch niemals ist ein ernstlicher und dauerhafter Friede auf die Ausplünderung, die Quälerei und den Ruin eines … besiegten großen Volkes gegründet worden. Und dies und nichts anderes ist der Vertrag von Versailles.“

– Der englische Abgeordnete Winston Churchill 1932, also noch vor Hitlers ­Regierungsübernahme:
„Wenn die englische Regierung wirklich wünscht, etwas für den Frieden zu tun, dann sollte sie die Führung übernehmen und die Frage Danzigs und des Korridors ihrerseits wieder aufrollen, solange die Siegerstaaten noch überlegen sind. Wenn diese Fragen nicht gelöst werden, kann keine Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden bestehen.“

– Der englische Botschafter in Berlin Nevile Henderson 1939 im Rückblick auf die Politik der Sieger seit 1920:
„Die Nachkriegserfahrung hatte Nazi-Deutschland unglücklicherweise gelehrt, daß man ohne Gewalt oder Androhung von Gewalt nichts erreichen konnte.“

– Der russische Historiker Sergejew Kowaljow 2009:
„Wer die Geschichte des Zweiten Weltkriegs unvoreingenommen erforscht hat, weiß, daß dieser infolge der Weigerung Polens begonnen hat, den deutschen Forderungen stattzugeben. Weniger bekannt ist freilich, daß die Forderungen Deutschlands höchst gemäßigt waren. … Die Forderungen kann man schwerlich als unbegründet bezeichnen.“

Diese vier Zitate verweisen nur auf eine der zahlreichen Spuren zum Zweiten ­Weltkrieg, auf den „Vertrag“ von Versailles. Weitere Spuren, die zur Kriegs­eröffnung führen, entspringen Deutschlands Wiederaufstieg und Hitlers Versuch, Deutschland als Hegemonialmacht in Mittel- und Südosteuropa zu etablieren, Präsident Roosevelts Weltmachtstreben für die USA, Stalins Zielen der Welt­revolution und der Rückgewinnung der polnischen Eroberungen von 1920?–?21, Englands selbstherrlichem Anspruch, die Machtverteilung auf dem europäischen Festland durch Kriege selbst zu entscheiden, Frankreichs Willen, die deutschen Land- und Bevölkerungsverluste von 1918–21 zu verewigen, Polens Expansionsdrang seit 1918 und der Unterdrückung der nationalen Minderheiten in Polen und in der Tschechoslowakei sowie Italiens und Japans Kolonialismus.
Die Fähigkeit und die Bereitschaft, allen diesen Spuren nachzugehen und sie zu untersuchen, sind bei der Mehrheit der deutschen und österreichischen ­Historiker von jeher nicht vorhanden oder durch politische Tabus blockiert. Als Leitge­danke dazu passen das Machtwort des Herrn Bundespräsidenten a.?D. Dr. Köhler: „Die Geschichte wird nicht umgeschrieben“, und der fast sinngleiche Ausspruch der Frau Bundeskanzlerin Dr. Merkel: „Es wird keine Umdeutung der Geschichte durch Deutschland geben“, womit die hohe Politik bekundet, wo sie die Grenzen der wissenschaftlichen Freiheit der deutschsprachigen Historiker gezogen haben will.
Daß sich der Streit der Völker oft an deren unterschiedlichen Sichtweisen entzündet, gehört mit zu den Realitäten der Geschichte. Wenn ein Pole 1939 seinen Territorialanspruch historisch begründet und ein Deutscher oder Russe nach der Volkszugehörigkeit der landesansässigen Bevölkerungen, dann ist das ein Faktum, das den einen oder den anderen Anspruch moralisch weder hebt noch senkt. Das muß auch so beschrieben werden dürfen. Es ist jedoch im Vergleich zu den Historikern in aller Welt geradezu einmalig, daß sich die Mehrheit der deutschen Historiker in ihren eigenen Bewertungen der Schuld am Kriege fast ausschließlich der polnischen, tschechischen, sowjetischen, englischen, amerikanischen und französischen Argumente und Sichtweisen befleißigt. Ich werde diese deutsche Besonderheit vermeiden.
Mein Anliegen ist es, die Geschichte zu beschreiben, „wie sie gewesen ist“ und dabei die Sicht der damals Lebenden nicht auszublenden. Ich will die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs mit allen ihren Akteuren – und nicht nur den deutschen – losgelöst von den heute herrschenden Tabus berichten. Dieses Buch soll dazu helfen, die Ereignisse der Vergangenheit zu durchschauen, nicht sie ­politisch oder pädagogisch zu „bewältigen“.

Gerd Schultze-Rhonhof, Mai 2015

Vorwort

Zu Beginn möchte ich vier Dinge erwähnen. Das sind die Idee des Buchs, ­etwas zu den Quellen und zur Gliederung des Buchs sowie zur Einordnung seines ­Inhalts in das Zeitgeschehen.
Zuerst die Buchidee. Vor ein paar Jahren beschäftigte mich die Frage, welcher Teufel meine Vätergeneration geritten haben mag, als sie nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs einen neuen Krieg vorbereitet und begonnen hat. Ich ­dachte dabei anfangs nur an die deutschen Väter. Die Ergebnisse der Nürnberger Pro­zesse ließen das ja auch zunächst vermuten. Auf der Spurensuche stieß ich allerdings auf vieles, das mir so bis dato nicht bekannt gewesen war. Das war vor allem der Kontext des damaligen Weltgeschehens. Die übliche deutsche ­Geschichtsschreibung, vom gängigen Schulgeschichtsbuch bis zu den Standardwerken des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, blendet diesen Kontext – aus welchem Grund auch immer – fast zur Gänze aus. So las ich auf der Spurensuche erstmals in ausländischer Literatur, in welchem Umfeld es zum Zweiten Weltkrieg kam. Die Vorgeschichte dieses Krieges gleicht einem Kriminalroman; zu meiner Überraschung einem Krimi mit nicht nur einem, sondern vielen Tätern.
Meine zweite Vorbemerkung gilt der Literatur- und Quellenlage. Je nach Auswahl von Literatur und Quellen entstehen recht unterschiedliche Bilder der ­Geschichte. Die in Deutschland verbreitetste Geschichtsschreibung konzentriert sich auf die deutsche Vergangenheit und wählt danach die Quellen aus. Doch ­diese Konzentration verengt den Blick zu einer Tunnelperspektive, und sie läuft Gefahr, die internationalen Gebräuche und Strömungen der beschriebenen ­Epochen auszublenden. Sie zerstört die Zusammenhänge, in denen die Vergangenheit der Deutschen stattgefunden hat. Das gilt in besonderem Maße für die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs.
Zudem trifft die hierzulande übliche Geschichtsschreibung aus offensichtlich politisch-erzieherischen Gründen fast immer eine Quellenauswahl mit Negativ-­Beispielen deutscher Vergangenheitsereignisse. Sie konzentrier


Gerd Schultze-Rhonhof, Generalmajor a. D. und zuletzt Territorialer Befehlshaber für Niedersachsen und Bremen, verließ 1996 aus Protest gegen das 'Soldaten sind Mörder-Urteil' des Bundesverfassungsgerichts die Bundeswehr und ist seitdem als Publizist tätig.


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