Stein | Himmlische Quellen und irdisches Recht | Buch | 978-3-593-38338-5 | sack.de

Buch, Deutsch, 372 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 215 mm, Gewicht: 552 g

Stein

Himmlische Quellen und irdisches Recht

Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates

Buch, Deutsch, 372 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 215 mm, Gewicht: 552 g

ISBN: 978-3-593-38338-5
Verlag: Campus Verlag GmbH


Der freiheitliche Verfassungsstaat ist ein säkularer Staat. Dieses Charakteristikum verdankt sich einer grundlegenden Unterscheidung von Politik und Religion, von irdischer und transzendenter Sphäre, die in den biblischen Erzählungen ihre Grundlage findet. Tine Stein will die politiktheoretische Bedeutung der biblischen Erzählungen und der christlichen Tradition bergen und zeigen, wie sehr das für den demokratischen Verfassungsstaat konstitutive Leitbild des Menschen als frei, gleich und mit unverfügbarer Würde ausgestattet hiervon geprägt ist. Neben dem genealogischen Befund wird diskutiert, ob eine metaphysische Geltungsgrundlage des Rechts im Verfassungsstaat behauptet werden kann und ob die Sphäre des Unverfügbaren für die Aufrechterhaltung einer freiheitlichen Rechtsordnung konstitutiv ist.
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Inhalt

Vorwort

I. Einleitung und Grundlagen
1. Einleitung
2. Religion als Grundbegriff der politischen Theorie

II. Ideelle und institutionelle Impulse des jüdischen und des christlichen Denkens und der christlichen Tradition
3. Freiheit und Verantwortung
4. Gleichheit und Solidarität
5. Die Trennung von Herrschaft und Heil: Biblische Impulse
6. Die Trennung von Herrschaft und Heil: Zwei Reiche
7. Die Würde des Menschen und die Positivierung vorstaatlicher Menschenrechte

III. Zur fortwährenden Bedeutung des religiösen Erbes
8. Religionsverfassungsrecht und das Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit
9. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde - Metapositive Grundlagen des positiven Rechts?

IV. Schluss
10. Religion - eine Konstante des Politischen im demokratischen Verfassungsstaat

Literatur


Es ist eine ständige Aufgabe der politischen Theorie, sich der Fundamente und Entwicklungsperspektiven jener politischen Ordnung zu vergewissern, die als die am wenigsten schlechte für moderne Gesellschaften gilt: der demokratische Verfassungsstaat. Als eines seiner zentralen Charakteristika wird die Neutralität in weltanschaulichen und religiösen Angelegenheiten angesehen. Für die Bürger bedeutet dies, dass ihnen mit guten Gründen zugemutet werden kann, ihr Verhalten an den allgemeinen Gesetzen auszurichten, auch wenn sie von diesen nicht überzeugt sein sollten. Denn im modernen Verfassungsstaat wird zwischen Legalität und Moralität unterschieden: es wird nicht eine innere Übereinstimmung mit den Gesetzen verlangt, sondern die Rechtstreue im äußeren Verhalten. Mit den Gesetzen verbindet sich keine Wahrheitsbehauptung, sondern sie sind auf den demokratisch legitimierten und rechtsstaatlich verfassten Willen der Mehrheit gegründet. Dies kann jedenfalls als fundamentales Element der Theorie dieser politischen Ordnung rekonstruiert werden, welche realhistorisch eine Antwort auf die existentielle Frage darstellte, die die konfessionellen Bürgerkriege in Europa vor vierhundert Jahren aufgeworfen haben. Unter der Bedingung religiöser Pluralität und konkurrierender Wege zum Heil war die Auflösung der Verknüpfung von Herrschaft und Heil die Alternative zur Austragung der religiösen Wahrheitsfrage mit den Mitteln des weltlichen Schwertes geworden. Dabei ist bemerkenswert, dass die weltanschauliche und religiöse Neutralität des Verfassungsstaates nicht anti-religiös motiviert ist, sondern ihr Zweck vielmehr die religiöse und weltanschauliche Freiheit der Bürger in Anerkennung ihrer individuellen Gewissensfreiheit ist. Auf keine Religion und Weltanschauung darf der Staat, der unter modernen Prämissen legitimer Staat sein soll, seine Herrschaft stützen. 12 HIMMLISCHE QUELLEN UND IRDISCHES RECHT Vor diesem Hintergrund ist zu Beginn des Grundgesetzes ein Satz zu lesen, der ein gewisses Irritationspotential für die zeitgenössische politische Theorie bereithält: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (.) hat sich das Deutsche Volk (.) dieses Grundgesetz gegeben". Der wechselseitig abgeschlossene Vertrag der Bürger soll nicht nur vor der denkbar allgemeinsten weltlichen Instanz, der Menschheit also, gerechtfertigt werden, sondern auch in dem forum Dei, vor Gott, dem in der menschlichen Vorstellung absolut Anderen als dem Schöpfer allen Seins. Wie kann in der rechtlichen Grundordnung einer säkularen politischen Gemeinschaft eine Aussage enthalten sein, deren metaphysischer Gehalt von einem guten Teil der Mitglieder dieser Gemeinschaft nicht für wahr gehalten wird? Selbst wenn dieser Inhalt bei allen Mitgliedern der Gemeinschaft eine innere Musikalität zum Klingen brächte, handelte es sich bei einem solchen Brückenschlag zur Transzendenz in einer modernen politischen Gemeinschaft nicht um ein völlig systemfremdes Element?
Tatsächlich wird mit der in der Präambel ausgesprochenen Anerkennung der Verantwortung vor Gott die Verfassungsordnung explizit in eine bestimmte Tradition eingeordnet. Dies steht in einem gewissen Spannungsverhältnis nicht nur zum Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität, sondern auch zum universellen Gehalt der nachfolgenden Grundrechte, denn schließlich eignet jeder Tradition ein partikularer Charakter. Diese das Grundgesetz inspirierende Tradition ist die des Westens, der in seinen zentralen Zügen vom jüdischen und christlichen Menschenbild und Weltverhältnis geprägt ist. Mit den biblischen Erzählungen über die Erschaffung des Menschen, über dessen Sündenfall, seine Versklavung und Befreiung, über das dann einzigartige Erlösungsversprechen durch die Menschwerdung Gottes wird das Grundgerüst dafür geschaffen, wie wir uns als Menschen sehen. Dieses Grundgerüst ist in die politischen Ordnungsstrukturen des demokratischen Verfassungsstaates eingegangen. Es ist das Bild vom Menschen, der gleich und frei ist und mit einem unbedingten Anspruch auf Anerkennung seiner Würde auftreten kann, wodurch jeder zum anderen in einem Verhältnis wechselseitigen Respekts steht. Für sein freiheitliches Handeln ist der Mensch verantwortlich - nicht nur vor seinen Mitmenschen, sondern auch vor seinem Gewissen, das für die Gläubigen einen letzten Richter kennt. In dieser Tradition hat die Vorstellung des Menschen als Individuum ihre Quelle. Und nichts begrenzt den Verfügungsanspruch der Politik auf den Menschen so radikal wie die abendländische Grundordnung einer Dualität von Diesseits und Jenseits, von Temporalia und Spiritualia, von irdischer politischer Ordnung und verheißenem Gottesreich. Ohne die Zutaten des jüdischen und christlichen Denkens und seiner sozialen und institutionellen Vergemeinschaftungsstrukturen hätte sich die spezifische Form einer politischen Ordnung mit beschränkter Zuständigkeit, deren Zweck der Schutz der menschlichen Würde ist, nicht herausbilden können. Das ist die erste grundlegende These, die hier geprüft werden soll.
Ein solches Unterfangen ist bereits für sich genommen von Belang, da in der zeitgenössischen Politikwissenschaft dieser Zusammenhang eher unterbelichtet ist.1 Schließlich führen die meisten Wege der ideengeschichtlichen Verortung der konstitutionellen Demokratie hinsichtlich der demokratischen Legitimationsverfahren, ja überhaupt der Erfindung des Politischen, nach Athen und hinsichtlich der Rechtsbindung der Politik nach Rom. Die allgemeinen Menschenrechte werden historisch dann in den Menschenrechtserklärungen der Amerikanischen und Französischen Revolution gesucht und gefunden und die politiktheoretische Ausarbeitung des Legitimitätsanspruchs in den sich überlagernden Schichten der frühneuzeitlichen Vertragstheorie, in der erstens das Insignium moderner Staatlichkeit, nämlich die im Gewaltmonopol verbürgte Souveränität, ausgearbeitet wird, in der zweitens die politische Herrschaft auf den Willen der Individuen zurückgeführt wird und in der drittens der Zweck der politischen Herrschaft in der Freiheit und Wohlfahrt der im politischen Gemeinwesen zusammengeschlossenen, freien und gleichen Bürger erkannt wird. Wie erklärt sich aber die Auffälligkeit, dass historisch zur gleichen Zeit das Prinzip der Volkssouveränität und das Prinzip der Bindung des Souveräns in Form des modernen Konstitutionalismus sich Bahn bricht?2 Wenn die Moderne tatsächlich so vollständig von der Inthronisation des autonomen Individuums geprägt ist und so grundlegend eigene Legitimitätsvorstellungen die althergebrachten abgelöst haben, dass noch nicht einmal von einer Säkularisierung vormals theologischer Konzepte gesprochen werden könnte3 - wie kommt es dann, dass der neue Souverän sich für die Unterordnung auch demokratischer Herrschaft unter das Recht entscheidet? Und zwar eines Rechts, für welches ein Geltungsanspruch nicht nur kraft des Willens der Rechtssetzenden, sondern kraft der in ihm liegenden inhaltlichen Aussage als begründet angesehen wird? Geht es allein um die freiheitssichernden Effekte der Rechtsbindung politischer Herrschaft? Oder ist eine Antwort zudem darin zu finden, dass es auch unter den Bedingungen der Säkularisierung und der Loslösung der politischen Ordnung aus religiöser Heteronomie weiterhin ein Moment legitimer Geltungsbehauptung eines Unverfügbaren gibt, nämlich in der Anerkennung einer Rechtssphäre, die dem staatlich-politisch erzeugten, also positiven Recht vorausliegt? Dann wäre die nominatio Dei des Grundgesetzes mehr als ein Erinnerungsposten für einen genealogischen Zusammenhang, sondern diesem Gottesbezug käme darüber hinaus eine systematische Bedeutung für die Legitimitätsgrundlage des demokratischen Verfassungsstaates zu. Nicht nur der Gottesbezug ließe sich als Einfallstor der Transzendenz in das positive Recht verstehen. Auch die Behauptung, dass das Prinzip der Menschenwürde über den Akt positiver Setzung hinaus auf eine metaphysische Wurzel als seinen Geltungsgrund verweisen kann, welche in der christlichen Tradition mit der Figur der Gottebenbildlichkeit ausgedrückt wird, stellt einen systematischen Zusammenhang zwischen Religion und Politik her. Damit ist die zweite These markiert, deren Prüfung in dieser Untersuchung Thema ist, nämlich welche fortdauernde Geltungsbehauptung sich mit der Rekonstruktion einer religiösen Erbschaft, die der demokratische Verfassungsstaat angetreten haben soll, verbindet.
In einem Zeitalter, dessen Signatur durch die Möglichkeit einer technischen Reproduktion des Menschen durch den Menschen und zu seinen Zwecken bestimmt ist, gewinnen diese erkenntnisleitenden Fragen der vorliegenden Untersuchung eine besondere Verschärfung. In der öffentlichen Auseinandersetzung wird die Vermutung geäußert, dass die Entwicklungen der Biotechnologien den Alltag der Zukunft begleiten und hergebrachte Vorstellungen radikal verändern. Dies betrifft in erster Linie das Bild des Menschen von sich selbst als Person und als ein Ergebnis natürlicher Zeugung, welches kontingent ist. Jedem menschlichen Individuum kommt ein Anspruch auf Anerkennung seiner Würde zu, weil es zur biologischen Gattung Mensch dazugehört und weil der wesentlich vom jüdischen und christlichen Denken begründete Satz der Gleichheit aller Menschen die logische und ethische Prämisse des dem Verfassungsstaat zugrundeliegenden Gesellschaftsvertrages ist. Durch die Möglichkeiten der Gen- und Reproduktionsmedizin kann dieses Selbstbild in Frage gestellt werden. Denn die neuen reproduktiven Verfahren und Forschungsvorhaben (insbesondere die Verwendung und mehr noch die Herstellung von Embryonen zum Zwecke der Gewinnung embryonaler Stammzellen) werfen die Frage auf, ob das Prinzip menschlicher Würde von Beginn der menschlichen Existenz an gelten soll und welche Konsequenzen sich für den rechtlichen Schutz menschlicher Embryonen ergeben. Hier wird ein Dilemma offenbar. Denn mit welcher Reaktion auch immer - Geschehen-lassen oder Reglementieren und dies streng oder liberal - nimmt die politische Ordnung eine Position ein, die die jeweils andere Seite als unzulässig im Sinne einer Verletzung der verfassungsstaatlichen Prinzipien begreift: entweder als zu starke Stellungnahme für eine unter Umständen nur metaphysisch-religiös begründbare Position, die all jene ausschließt, die daran nicht glauben, oder andererseits als Parteinahme für eine Position, die allein im menschlichen Willen, in menschlichen Interessen gründet, ohne die Vorstellung eines kritischen Maßstabes, der außerhalb der Interessenkalküle der Beteiligten liegt - was wiederum für religiös-metaphysisch inspirierte Menschen eine Verletzung der Menschenwürde als objektives Prinzip darstellte. Es ist überhaupt noch nicht ausgemacht, ob es der konstitutionellen Demokratie als säkularer Ordnung gelingen wird, die Fragen über Leben und Tod, welche der biotechnologische Fortschritt aufwirft, in einer Weise zu entscheiden, die alle Konfliktbeteiligten akzeptieren können. Zu welchem Ergebnis man hier auch kommen mag: Ohne der These der jüdischen und christlichen Erbschaft des modernen Verfassungsstaates nachzugehen, läßt sich die fundamentale Herausforderung, die die Biopolitik für den demokratischen Verfassungsstaat darstellt, als solche nicht verstehen. Angesichts der Herausforderungen, die die Biotechnologien an die Problemlösungsfähigkeit der politischen Ordnung stellen, wird der Zusammenhang von Genesis und Geltung virulent: Wenn die Vorstellung der Menschenwürde als etwas Unantastbares und Unverfügbares, welches Grenzen der Freiheitsausübung begründet, tatsächlich wesentlich aus einer religiös-metaphysischen, im westlichen Kulturkreis mithin der Tradition jüdischen und christlichen Denkens herrührt, drängt sich die Frage auf, ob die Aufrechterhaltung dieser Vorstellung für die weitere Geltungsbehauptung des Menschenwürdeprinzips eine Voraussetzung darstellt. Mit anderen Worten: Ob ein rein rechtspositives und nicht-metaphysisches Verständnis des Menschenwürdeprinzips die Last tragen kann, ein ›Reich der Unverfügbarkeit‹ zu begründen, welches die Freiheitssphären der Grundrechtsträger wirksam zu schützen vermag. Daher wird die Erörterung der zweiten Hypothese dieser Untersuchung, der hier sogenannten Geltungshypothese, auch im Kontext der biotechnologischen Herausforderung unternommen.


Tine Stein ist Privatdozentin an der FU Berlin (Otto-Suhr- Institut für Politikwissenschaft) und arbeitet am Wissenschaftszentrum Berlin.


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