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E-Book, Deutsch, 184 Seiten

Bauer Warum es kein islamisches Mittelalter gab

Das Erbe der Antike und der Orient

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

ISBN: 978-3-406-72731-3
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der Islam ist im Mittelalter steckengeblieben, hat Renaissance, Reformation und Aufklärung verpasst. So lautet die gängige Diagnose. Was aber, wenn es gar kein islamisches Mittelalter gab? Thomas Bauer zeigt an zahlreichen Beispielen, wie in der islamischen Welt bis zum 11. Jahrhundert die Antike weiterlebte, und widerlegt damit überzeugend die eingespielten Epochengrenzen und unser Bild von einem reformbedürftigen 'mittelalterlichen' Islam. Jahrhundertelang waren im Orient die antiken Städte lebendig, mit Bädern, Moscheen und anderen steinernen Großbauten, während sie in Europa zu Ruinen verfielen. Ärzte führten die Medizin Galens fort, Naturwissenschaften und Liebesdichtung blühten auf. Kupfermünzen, Glas, Dachziegel, Papier: Im Alltag des Orients gab es lauter antike Errungenschaften, die Mitteleuropäer erst zu Beginn der Neuzeit (wieder) neu entdeckten. Thomas Bauer schildert anschaulich, wie die antike Kultur von al-Andalus über Nordafrika und Syrien bis Persien fortlebte und warum das 11. Jahrhundert in ganz Eurasien, vom Hindukusch bis Westeuropa, eine Zäsur bildet, auf die in der islamischen Welt bald die Neuzeit folgte. Ein kleines Meisterwerk, das konzise, verständlich und mit der nötigen Portion Gnadenlosigkeit eingefahrene Sichtweisen auf Orient und Okzident zurechtrückt.
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Weitere Infos & Material


1;Cover;1
2;Titel;3
3;Zum Buch;184
4;Über den Autor;184
5;Impressum;4
6;Inhalt;5
7;Vorwort;7
8;1. Das «islamische Mittelalter»: Sechs Gründe dagegen;11
8.1;1. Mangelnde Präzision;13
8.2;2. Fehlschlüsse;15
8.3;3. Mögliche Herabsetzung;19
8.4;4. Exotisierung;21
8.5;5. Imperialistischer Beiklang;23
8.6;6. Ein Begriff ohne sachliche Grundlage;28
9;2. Orient und Okzident im Vergleich: Von «Analphabetismus» bis «Ziffern»;33
9.1;Analphabetismus;34
9.2;Bäder;35
9.3;Chancen;37
9.4;Dachziegel;38
9.5;Erbsündenlehre;41
9.6;Feste;42
9.7;Glas;43
9.8;Homoerotik;45
9.9;Individualismus;47
9.10;Juden;49
9.11;Kupfermünzen;51
9.12;«Die Liebesdichtung;54
9.13;Medizin;56
9.14;Naturwissenschaften;58
9.15;Ordal;60
9.16;Papier;61
9.17;Quellen;62
9.18;Religion;62
9.19;Sexualität;64
9.20;Tiere und Pflanzen;65
9.21;Urbanität;66
9.22;Verkehrswege;68
9.23;Witze;68
9.24;Xenophobie;69
9.25;Ysop;70
9.26;Ziffern und Zahlen;72
10;3. Auf der Suche nach dem ganzen Bild: Vom Mittelmeer bis zum Hindukusch;79
10.1;Epochenkonstruktionen;80
10.2;Merkmalsbündel;88
10.3;Die restringierte Antike;90
10.4;Die islamische Spätantike;99
10.5;Zwei Regionen in zwei Epochen?;103
10.6;Die ausgehende Spätantike als formative Periode;107
10.7;Das erste Jahrtausend als Epoche;115
11;4. Die islamische Spätantike: Die formative Periode der islamischen Wissenschaften;119
11.1;Das islamische Curriculum: Zwei Zeugen aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert;119
11.2;Das elfte Jahrhundert, ein saeculum horribile?;141
12;5. Das 11. Jahrhundert als Epochengrenze: Fazit und Ausblick;149
12.1;Warum es kein islamisches Mittelalter gab;149
12.2;Ein Blick auf Afrika;151
12.3;Und danach?;154
13;Zur Umschrift des Arabischen;159
14;Anmerkungen;160
15;Literatur;169
16;Bildnachweis;171
17;Personenregister;172
18;Tafelteil;176


2. Orient und Okzident im Vergleich: Von «Analphabetismus» bis «Ziffern»
Um einen Epochenbegriff, der für eine bestimmte Kultur oder Region verwendet wird, auf eine andere zu übertragen, reicht Gleichzeitigkeit allein nicht aus. Sonst könnte man ohne Weiteres vom tangzeitlichen Aachen oder vom mittelalterlichen Mexiko sprechen. Dies bedeutet wiederum, dass es sachliche Übereinstimmungen geben muss, die es rechtfertigen, den ursprünglich für die europäische Geschichte geprägten Begriff «Mittelalter» auf die nahöstliche Geschichte zu übertragen. Eine solche sachliche Übereinstimmung läge dann vor, wenn sich das Ende der Antike in Europa und im Nahen Osten auf eine ähnliche Weise vollzogen und eine parallele Entwicklung eingeleitet hätte. Genau dies soll im Folgenden nachgeprüft werden: Gibt es im Mittleren Osten (Ägypten, Palästina, Syrien, Mesopotamien, Iran) eine Entwicklung, die in auffälliger Weise derjenigen entspricht, die in den Gebieten des Weströmischen Reiches den Übergang von der Antike zum Mittelalter markiert? Dabei spielt es für die Überlegungen keine Rolle, ob sich dieser Prozess in Form einer allmählichen «Transformation der Spätantike» vollzogen hat oder eher – wie es in jüngeren Veröffentlichungen wieder stärker akzentuiert wird – in Form eines Bruches, den der «Untergang des Römischen Reichs»[1] anzeigt. Entscheidend ist hier nur die Frage, ob sich die Lebensverhältnisse in beiden Regionen während der Zeit, die gewöhnlich als die Endphase der Spätantike und als darauffolgendes Frühmittelalter bezeichnet wird (also etwa zwischen dem fünften und der Mitte des elften Jahrhunderts), in gleicher Weise wandelten. Da ein solcher Vergleich nicht in Form einer umfassenden Untersuchung aller Lebensbereiche durchgeführt werden kann, wurden sechsundzwanzig Beispiele ausgewählt – für jeden Buchstaben des Alphabets eines. Der Wechsel von Dynastien und Machtverhältnissen und die jeweiligen Konzeptionen von Staat und Herrschaft, die sonst gerne für Epocheneinteilungen herangezogen werden, bleiben zunächst ausgeblendet (kommen aber im dritten Teil zu ihrem Recht). Stattdessen wurden Begriffe gewählt, die jeweils ein wichtiges Phänomen der Alltags-, Sozial-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte bezeichnen. So entsteht ein Raster, ein «A–Z des Mittelalters», das es erlaubt, ein Urteil über die Vergleichbarkeit oder Nichtvergleichbarkeit der Entwicklung in beiden Regionen zu fällen. A
Analphabetismus war von der Spätantike an im Westen der Normalfall, Lese- oder gar Schreibkenntnisse waren die ganz große Ausnahme. Es «kümmerte sich keiner der Höherstehenden, welcher Herkunft er auch sein mochte, mehr um eine umfassende lateinische Bildung. […] Das führte dazu, daß im Jahr 600 nur noch Geistliche schreiben konnten, während die Eliten dazu neigten, damit zufrieden zu sein, daß sie gerade einmal lesen konnten, vor allem die Bibel; das Schreiben sahen sie nicht mehr als wesentlichen Teil ihrer Identität an.»[2] Dagegen war ein Analphabet als Kalif unvorstellbar. Literarisch gebildet, versuchten sich viele von ihnen selbst als Dichter. Lese- und Schreibkenntnisse müssen spätestens im neunten und zehnten Jahrhundert sogar in Handwerkerkreisen weit verbreitet gewesen sein, wie die zahlreichen Literaten, die dieser Schicht entstammen, zeigen. Eine ebenso deutliche Sprache sprechen die ägyptischen Papyri, die vom achten Jahrhundert an bezeugen, dass selbst banale Alltagsgeschäfte wie der Verkauf von Viehfutter schriftlich beurkundet wurden – in Europa zu dieser Zeit ganz undenkbar. Tafel II zeigt einen Papyrus aus dem Jahr 135/753, der den Verkauf von Futter für Lasttiere auf der Vorderseite und von verschiedenen landwirtschaftlichen Erzeugnissen (Klee, Gerste) sowie Lasttieren auf der Rückseite dokumentiert. [3] Der westliche Bildungsrückstand war noch während der Kreuzzüge deutlich spürbar. Waren die meisten Kreuzritter Analphabeten, so kämpfte auf der Gegenseite Usama ibn Munqi? (488–584/1095–1188), Herr der Burg Šayzar am Orontes, nordwestlich von Hama. Seine umfassende Bildung war typisch für seine Standesgenossen, aber dass er neben all seinen heldenhaften Kämpfen noch Zeit fand, seine Memoiren, eine Sammlung von Gedichten, diverse literarische Anthologien und ein (wenngleich vielfach kritisiertes) Handbuch der arabischen Stilistik zu schreiben, ist dennoch bemerkenswert. Auf fränkischer Seite gibt es dazu keine Parallele. Im Gefolge der «Buchrevolution» des neunten und zehnten Jahrhunderts, die Bücher für eine breitere Leserschaft immer erschwinglicher machte, setzte eine «Leserevolution» ein. Konrad Hirschler kam bei der Untersuchung des Leseverhaltens und der Bibliotheken im zwölften und dreizehnten Jahrhundert zu dem Schluss, dass in Städten wie Damaskus und Kairo die Prozentzahl der Lesekundigen deutlich im zweistelligen Bereich lag.[4] Immerhin war dies die Zeit, in der auch in Europa Lese- und Schreibkenntnisse wieder höher geschätzt wurden. B
Bäder, das heißt öffentliche Bäder in Form von Thermen, waren unverzichtbare Bestandteile der antiken Stadt. Als monumentale Anlagen verschwanden sie überall. Im Nahen Osten wurden die alten Thermen oft neuer Nutzung zugeführt, in Baysan etwa dienten sie der Textilherstellung und Färberei, wozu sie sich durch ihre ausgebaute Wasserzu- und abfuhr ausgezeichnet eigneten. Es waren zwar auch noch im zehnten Jahrhundert vereinzelt alte Badeanlagen in Betrieb, aber schon in der vorislamischen Spätantike hatte sich allmählich eine kleinere Form des Bades durchgesetzt, die unverändert in islamischer Zeit im ganzen Nahen Osten und darüber hinaus fortlebte. «Mit der Institution selber hatte die islamische Stadtkultur auch die Grundrißformen des Bades aus der Spätantike übernommen.»[5] Das Grundrissschema, «ein großer zum Umkleiden und Ausruhen bestimmter Saal, eine kleinere (meist) ungeheizte Abteilung, zwei kleinere geheizte Abteilungen, findet sich bis in die ausgehende Mamlukenzeit in Syrien und war auch in Spanien und im Maghrib üblich».[6] «Die Bauformen, die aus den gegenüber der klassischen Antike geänderten Badegewohnheiten resultieren […], liegen in den umayyadischen Bädern abgeschlossen vor. Doch haben deren Bauherren diese Formen bereits so vorgefunden. Schon im 5. Jh. waren in Syrien Bäder nach dieser Konzeption gebaut worden.»[7] In islamischer Zeit wurden überall neue öffentliche Bäder gebaut, und neugegründete Städte, selbst ländliche Siedlungen, wurden wie selbstverständlich mit Bädern ausgestattet.[8] «Auch die kleineren Städte, wenigstens im syrischen Raum, besaßen alle Bäder, sogar die Dörfer um Damaskus hatten […] über Jahrhunderte hinweg mindestens ein Bad. In Zeiten zurückgehenden Wohlstandes nahm dagegen auch in großen Städten die Zahl der Bäder rasch ab.»[9] Auch die Ausstattung der Bäder mit kostbaren Mosaiken setzte antike Traditionen fort, und trotz der Bedenken einiger Frommer wurden die Bäder (vereinzelt noch bis ins neunzehnte Jahrhundert) mit Bildern, auch mit Bildern von Menschen und Tieren, teilweise gar mit Statuen versehen, weil die Leute danach verlangten und in ein bilderloses Bad ungern gegangen wären.[10] Man kann es sich nicht intensiv genug vor Augen führen: In Paris, Trier und Rom ging irgendwann niemand mehr in ein öffentliches Bad, weil es keines mehr gab. In Damaskus und Aleppo unterbrach die arabische Eroberung diese Alltagsroutine nicht. Dort ging man immer ins öffentliche Bad. Gerade an solchen alltäglichen Verrichtungen zeigt sich, dass die arabische Eroberung und allmähliche Islamisierung des Nahen Ostens in vielen Bereichen keinen erkennbaren Bruch in den Lebensverhältnissen der Menschen darstellte. «Vieles, was im Mittelalter für Bad und Baden in Syrien und Ägypten galt, galt dort auch in der Spätantike […]. Daß in den Verhältnissen des arabischen Mittelalters antike, besser spätantike Verhältnisse weiterleben, ist […] evident.»[11] Die Bedeutung des Bades nahm in islamischer Zeit durch die Pflicht zur rituellen Reinheit (?ahara) sogar noch zu, wie Heinz Grotzfeld, der beste Kenner des arabischen Badewesens, betont.[12] Und so kam es, dass sich in den Bädern «ein nicht geringer Teil des öffentlichen und privaten Lebens» abspielte. «Die Bäder sind einer der wenigen Orte in den islamischen Städten, die jedermann […] und jederzeit...


Thomas Bauer ist Professor für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Münster, Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste und wurde mit dem Leibniz-Preis der DFG ausgezeichnet. Mit seinem bahnbrechenden Buch 'Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams' (2011) hat er weit über sein Fach hinaus gewirkt.


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