Dudeck / Bormuth / Heinz | Forensische Psychiatrie interdisziplinär | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 143 Seiten

Dudeck / Bormuth / Heinz Forensische Psychiatrie interdisziplinär

E-Book, Deutsch, 143 Seiten

ISBN: 978-3-17-033734-3
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Die Forensische Psychiatrie befindet sich sowohl als klinisches Fach wie auch als Wissenschaft in der Schnittmenge zahlreicher Disziplinen. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen zudem Emotionen bis hin zur "Faszination für das Böse" eine zentrale Rolle - eine Perspektive, die nicht selten in der Öffentlichkeit auch von Experten des Faches vertreten wird. Für ein umfassendes Verständnis sind aber neben fundiertem psychologischem und psychiatrischem Wissen auch Kenntnisse aus Soziologie, Kriminologie und Philosophie sowie deren Einordung in den jeweiligen historischen Kontext erforderlich. Die Begutachtung und die Behandlung von Straftätern mit zum Teil schweren psychiatrisch relevanten Erkrankungen erfordern einen klugen und sensiblen Umgang mit dem Thema - das Buch hilft dabei, diesen zu ermöglichen.
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3          Tun, was man tun muss, oder tun, was man will? Determinismus vs. Willensfreiheit
3.1       Historischer Diskurs über die Willensfreiheit
Die Frage nach dem freien Willen beschäftigt Menschen, solange es sie gibt. Hochwahrscheinlich sind Menschen auch die einzige Spezies, die sich darüber Gedanken machen kann. Für uns ist der Begriff der Freiheit einer der bedeutungsvollsten in unserem Menschenbild. Determinismus und Willensfreiheit sind dabei Anfang und Ende des Kontinuums und Ausgangspunkt für Kontroversen. Dass verschiedene Dinge miteinander interagieren, ohne voneinander getrennt zu sein, ist für den Menschen schwer auszuhalten. Alles bedarf einer genauen Diskussion. Das Entweder-oder bietet ein vermeintlich klareres Bild und lässt Kategorien und Grenzen erkennen. Aber ob wir nun vollständig durch die deterministische Natur physikalischer Gesetze oder von einem durch Gott auferlegten unausweichlichen Schicksal bestimmt werden, hat spannenderweise einen ähnlichen Ausgang (Libet 2013). Lüke, Meisinger und Souvignier betonen, dass die Frage nach der Freiheit des Menschen insbesondere seit dem Streit um die Interpretation verschiedener aktueller Befunde der Hirnforschung sowohl die wissenschaftliche als auch die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit bewegt hat (2007). Während sich Neurowissenschaftler erst mit den Möglichkeiten von Neurophysiologie und Bildgebung an dem Diskurs beteiligen, sind Philosophen von Beginn an mit diesem Dilemma beschäftigt. Die Verfechter einer existierenden Willensfreiheit werden Indeterministen und die, die Willensfreiheit ablehnen, Deterministen genannt. Nachfolgend soll ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein kurzer historischer Abriss zeigen, wie die Willensfreiheit in der jeweiligen Zeit interpretiert worden ist. Während es für Platon (427–347 v. Chr.) den Begriff des freien Willens noch gar nicht gab, unterschied bereits Aristoteles (384–322 v. Chr.) zwischen der Freiheit des Wollens und der Freiheit des Handelns. Für Platon war die vorrangige Aufgabe des Menschen, die drei Motivationskräfte der Seele zu harmonisieren. So waren Begierden, der Ehrgeiz und der rationale Wunsch aufeinander abzustimmen (Frede 2007). Aristoteles war davon überzeugt, dass nicht alles aus Notwendigkeit erfolgt und nur bestimmte Geschehnisse durch eine besondere Ursache zustande kommen. Die moralische Verantwortlichkeit ist die Regel, von der nur im Ausnahmezustand abgewichen werden darf, und dafür können nur konkrete entschuldigende Dinge in Frage kommen (Jedan 2007). Die Stoa (ca. bis 300 v. Chr.) als eines der wirkungsmächtigsten philosophischen Lehrgebäude in der abendländischen Geschichte mit Vertretern wie Seneca und Marc Aurel (121–180) scheint mit ihrer Lehre von der lückenlosen und notwendigen Verkettung der Ursachen allen Geschehens einen eindeutigen Determinismus vertreten zu haben. Auf der anderen Seite entwickelte sie eine differenzierte Tugendethik und betonte die Verantwortung des Menschen für sein Handeln. Die Vertreter der Stoa pendelten so zwischen Schicksal und Verantwortung (Forschner 2007). Thomas von Aquin (1224/25–1274) war der Meinung, dass der Schöpfer alles Geschaffene an seiner Kreativität teilhaben lässt und die Güte der Schöpfung im Wesentlichen darin liege, dass die Dinge eigene Tätigkeiten haben. Das bedeutet, dass alle Geschöpfe in irgendeiner Weise frei sind. Dabei ist die Freiheit nur ein Element innerhalb eines komplexeren Gefüges. Wirklich frei ist in Aquins Denksystem nur der Mensch, weil er erkennen kann, weil Wollen und Handeln in Freiheit einem Wesen nur dann zugeschrieben werden können, wenn es weiß, was es will und tut. Damit ist nicht der Wille selbst frei und auch nicht der Intellekt, sondern der Mensch als denkende und wollende Person (Nickl 2007). Descartes (1596–1650) hat in seinem Werk zur Willensfreiheit unterschiedliche Aussagen getroffen. Grundsätzlich sah er Willensfreiheit aber als Verneinungsfreiheit. Der Mensch kann ein und dieselbe Sache wollen und nicht wollen, diese bejahen oder verneinen (Steinvorth 2007). Für ihn beruht die Erkenntnisfreiheit insbesondere auf dem individuellen Erkenntnisvermögen jedes Einzelnen, die durch die Selbsterfahrung erworben werden sollte. »Cogito ergo sum« als sein wohl berühmtester Satz dürfte dafürstehen. Spinoza (1632–1677) formulierte seine Gedanken zur Willensfreiheit sehr klar, indem er sagte, dass es keine menschliche Freiheit des Willens gäbe. In seinem Denken existiert zwar der freie Wille, welcher jedoch von Ursachen bestimmt wird. Diese Ursachen haben bis zur Unendlichkeit wieder Ursachen zur Grundlage. Deshalb gibt es nichts Zufälliges. Alles existiert aus der Notwendigkeit der göttlichen Natur heraus. Die menschliche Freiheit ist endliche Freiheit, wird aber mit dieser Erkenntnis größer (Wiehl 2007). Hume (1711–1776) war ein Vertreter des Kompatibilismus, d. h. er nahm an, dass der freie Wille mit dem Bild des klassischen Determinismus vereinbar ist. Zum einen konstatierte er, dass wir Menschen unter exakt gleichen inneren wie äußeren Bedingungen stets die gleiche Entscheidung treffen würden. Zum anderen gab es für Hume den freien Willen; ein Mensch kann sich bei Änderung seiner Wünsche, Bedürfnisse und Überzeugungen auch anders entscheiden (Pauen 2010). In seinem Werk »Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral« hält er im Kapitel »Über einige Wortstreitigkeiten« fest, dass alle Eigenschaften, die die Bezeichnung »Tugend« verdienen, und die Eigenschaften des Gleichmuts, der Geduld sowie der Selbstbeherrschung wenig oder gar nicht von der Wahl des Menschen abhängen (Hume 1984). Kant (1724–1804) als akademischer Bürger der königlich preußischen Universität Königsberg interessierte sich vor allem für die eigentliche Bestimmung des Menschen. Er ging davon aus, dass der Mensch sowohl als Individuum als auch als Gattung zur Freiheit, d. h. zur moralischen und rechtlichen Selbstbestimmung bestimmt ist. Er verknüpfte seine Ideen von Freiheit mit moralischen Vorstellungen, die universell gültig sein sollen. So entstand der kategorische Imperativ, welcher lautet: »Handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zu allgemeinem Gesetz machen kann«. Damit ist der Imperativ erstens das einzig mögliche Pflichtprinzip, zweitens ein selbsterzeugter Fakt des Bewusstseins bzw. der praktischen Vernunft und drittens strukturelle Notwendigkeit, die sich aus der Idee einer vollständigen gesetzlichen Ordnung der moralischen Welt ergibt ( Kap. 2.4.2). Hegel (1770–1831) gilt als ein Denker der Notwendigkeit und hat durch ein absolutes System der Philosophie versucht, alles in einem notwendig geschlossenen Ganzen einzufügen. Dennoch hat er sich Gedanken zum Freiheitsbegriff gemacht und ein System der Freiheit entwickelt, indem sich Freiheit und Notwendigkeit wie bei Kant nicht gegenseitig ausschließen, so wie Notwendigkeit und Unfreiheit nicht gleichgesetzt werden sollten. Hegel hat den Willensbegriff ausdifferenziert und hinsichtlich der Freiheit graduell abgestuft. Der Wille ist bei ihm die Intelligenz in ihrer höchsten Form. Der Wille ist an sich frei, wenngleich die verschiedenen Freiheitsgrade definiert werden müssen. Die höchste Form von Freiheit ist so diejenige, die mit der vernünftigen Notwendigkeit des Denkens in Übereinstimmung steht. Während Martin Heidegger (1889–1976) das Wesen der Freiheit als Freisein in der Seinsverfassung des Menschen überhaupt definierte, setzte er es in Bezug zum Wesen der Wahrheit und der Geschichte. Freiheit und Dasein gehen so miteinander einher. Jean-Paul Sartre (1905–1980) befindet hingegen, dass Bewusstsein und Wille eins sind. Freiheit liegt ähnlich wie bei Descartes in der Verneinung. Freiheit ergibt sich als ein kontinuierliches Entwerfen bzw. Wollen. Widerstand ist bei Sartre ein zentrales Element, ohne dass sich kein Wollen ergibt. Wer sich zu einer Widerstandshandlung entscheidet, ist für deren Folgen auch verantwortlich. Indem man wie die Deterministen die Freiheit leugnet, vollzieht sich schon die Freiheit zum Widerstand (Übersicht bei van der Heiden & Schneider 2007). Dass der Mensch dazu verurteilt ist, frei zu sein, thematisiert er in seinem berühmten Essay »Der Existentialismus ist ein Humanismus« aus dem Jahr 1946 (Sartre 2000). Kein Mensch kann sich auf eine wie auch immer geartete Instanz (Gott, Natur, Erziehung etc.) berufen, die er als Erklärung für sein Tun verantwortlich machen könnte. Der Einzelne bleibt immer Architekt seines eigenen Lebens und hat die volle Verantwortung für seine Entscheidungen und Taten zu tragen. Karl Jaspers (1883–1969) war Vertreter der Existenzphilosophie und wollte vom Existentialismus Sartres klar unterschieden werden. In der »Existenzerhellung«, dem mittleren Band seines dreibändigen Hauptwerkes Philosophie, als auch in seinen...


Prof. Dr. med. Manuela Dudeck ist Lehrstuhlinhaberin für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Ulm.


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