Gahleitner | Professionelle Beziehungsgestaltung in der psychosozialen Arbeit und Beratung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 17, 124 Seiten

Reihe: Beratung

Gahleitner Professionelle Beziehungsgestaltung in der psychosozialen Arbeit und Beratung

E-Book, Deutsch, Band 17, 124 Seiten

Reihe: Beratung

ISBN: 978-3-87159-417-5
Verlag: dgvt-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)



Die Qualität psychosozialer Arbeit und Beratung ist eng an das Gelingen der helfenden Beziehung gebunden. Dennoch ist nach wie vor nicht geklärt, wie – im Detail – sich eine professionelle Beziehung gestaltet bzw. gestalten sollte. Vor allem wird diese Beziehung stets nur als Dyade gedacht. Der vorliegende Band legt seinen Schwerpunkt auf die theoretische wie praxisnahe Detailerarbeitung dieser zentralen Schlüsselqualität für die psychosoziale Arbeit und Beratung: auf eine professionelle Beziehungs- und Umfeldgestaltung – insbesondere für jene KlientInnen, die bereits mehrfach Vertrauensmissbrauch und Beziehungsabbrüche erlebt haben. Denn dabei zählt jeder einzelne Begegnungsmoment.
Gahleitner Professionelle Beziehungsgestaltung in der psychosozialen Arbeit und Beratung jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


2
Psychosoziale Arbeit
Versteht man Beziehungskonstellationen, wie soeben angesprochen, als „dynamische Systeme“ (Krappmann, 1993, S. 40) mit dialektischem Bezug zur insbesondere soziokulturellen Ebene, so ist diese auch zu berücksichtigen. Wandlungs- und Veränderungsprozesse gab es immer: „In modernen und postmodernen Gesellschaften sind sie jedoch häufiger, schneller und radikaler geworden – und zwar auf (mikrosozialer) individueller, persönlicher, (mesosozialer) organisatorisch-institutioneller ebenso wie auf (makrosozialer) gesellschaftlich-kultureller Ebene“, stellen Weinhold und Nestmann (2012, S. 52) fest, „und sie beinhalten immer vielfältige Chancen, aber auch Risiken für die beteiligten und betroffenen Personen, Gruppen und Systeme“ (ebd.). Zum Verständnis hilft hier sich zur vergegenwärtigen, wie sehr sich der Alltag in modernen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten verändert hat (Beck, 1986). 2.1 Sozialisation heute
Während in der Vergangenheit stark vorgegebene Sozialisationsverläufe üblich waren, sind lineare Lebensverläufe – im Zuge kultureller Freisetzungsprozesse aus traditionellen Lebensformen – heute selten geworden. Dafür stellt unsere heutige Gesellschaft eine Reihe von Möglichkeiten für individuelle Lebensformen bereit, ohne jedoch „eine institutionell wirksame, sozial verlässliche Garantie für den Erfolg der biografischen Projekte zu übernehmen“ (Böhnisch, Lenz & Schröer, 2009, S. 18). Es gilt daher inzwischen als disziplinübergreifender Konsens, dass Identität von klein auf in einer lebenslangen „aktiven Auseinandersetzung mit der … Umwelt“ (Hurrelmann & Ulich, 1980, S. 7) erworben wird. Diese in den letzten Jahrzehnten fortgeschrittene Pluralisierung von Selbst- und Weltbildern und die Beschleunigung sozialer und kultureller Wandlungsprozesse erfordern von Heranwachsenden und Erwachsenen eine hohe Flexibilität (Sennett, 1998/2000). Die zunehmende Entgrenzung eröffnet durchaus eine Reihe von Freiheiten zu aktiver Identitätsarbeit (Keupp, 2013c): „Während das Sozialisationsregime im Verlauf der Ersten Moderne durch die Spannung von Institution und personaler Autonomie bestimmt war, ist das Sozialisationsregime der Zweiten Moderne durch … die Chance und den Zwang zur Selbstorganisation charakterisiert“ (Böhnisch et al., 2009, S. 10). Wer mit einer guten Ressourcenausstattung schnell wechselnde Bedingungen flexibel zu nutzen weiß, sieht sich einem attraktiven Angebot an Lebenswegen und Gestaltungsmöglichkeiten gegenüber. Zugleich sind aber auch vielfältige Übergänge und Brüche dabei zu bewältigen (Gahleitner & Hahn, 2012). Resultat ist ein zunehmender Verlust sozialer Einbindung und kultureller Einbettung mit positiven wie negativen Konsequenzen für Entwicklungs-, Sozialisations- und Identitätsprozesse (Keupp, 2012). Benachteiligte und beeinträchtigte Menschen geraten auf diese Weise nicht selten ins Abseits. Dazu gibt es inzwischen tragfähige epidemiologische Untersuchungen (WHO, 2001). Demnach nehmen soziale und gesundheitliche Probleme nicht etwa nur in ‚armen‘ Ländern zu, sondern insbesondere in Gesellschaften, die eine starke Ungleichheitsverteilung aufweisen (Wilkinson & Pickett, 2010). Das „abgehängte Prekariat“ (Keupp, 2010, S. 9) leidet unter der Exklusion nicht nur durch Armut, sondern diese geht mit gravierenden gesundheitlichen Risiken einher, denen das aktuelle Gesundheitssystem nicht gewachsen ist. Dies führt zur demografischen, kulturellen oder strukturellen Benachteiligung von KlientInnen, die multiproblembelastet sind und vom Versorgungssystem schlecht erfasst werden. Brackertz (2007) bezeichnet diese Zielgruppe als ‚Hard to reach‘-Klientel (vgl. auch Labonté-Roset, Hoefert & Cornel, 2010; aktuell Giertz, Große, Gahleitner & Steckelberg, i. V.). 2.2 Das biopsychosoziale Modell
Die Versorgungssysteme sind jedoch maßgeblich an der schweren Erreichbarkeit der ‚Hard to reach‘-Klientel beteiligt. Um psychosoziale Versorgung im Sozial- wie Gesundheitswesen am aktuellen Bedarf zu orientieren, muss neben einer Reihe anderer Aufgaben daher auch eine adäquate professionelle Antwort auf die Überforderungen durch psychosoziale Verarbeitungsprozesse aktueller Lebensverhältnisse bereitgestellt werden – und zwar für alle darin lebenden Menschen. Dafür bedarf es der Entwicklung geeigneter Konzepte (Gahleitner & Pauls, 2010), die als Orientierungsangebote „zwischen den Anforderungen der gesellschaftlichen Funktionssysteme und den Verarbeitungsmöglichkeiten der individuellen Psyche … helfen, die Exklusion … möglichst niedrig zu halten“ (Großmaß, 2006, S. 5). „Beratung als ein emanzipatorisches Programm zur Entwicklung weitestgehender Selbstbestimmtheit und Freiheit von Subjekten oder Akteur*innen“, so Engel und Nestmann (2020, S. 30), wird im Gegensatz zur heutigen Psychotherapie „ergänzt um die Kritik an eben diesen mitverursachenden und krankmachenden Verhältnissen“ (ebd.). Solche und verwandte Überlegungen haben bereits im 20. Jahrhundert zu biopsychosozialen Konzeptbildungen geführt (ursprünglich Engel, 1977; aktuell im Überblick Gahleitner, Hintenberger & Leitner, 2013). Krankheit und Gesundheit werden dabei – entsprechend salutogenetischer Überlegungen (Antonovsky, 1979) – als nicht lineares, komplexes Geschehen verstanden und weder in einzelne, disziplinär fixierte Bestandteile zerlegt, noch als rein biologisches Geschehen konzeptualisiert. Konzepte und theoretische Ansätze aus Medizin, Soziologie, Pädagogik, Sozialer Arbeit, Pflege, Psychologie und Psychotherapie werden interdisziplinär zu verknüpfen versucht (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Das erweiterte biopsychosoziale Modell (Quelle: Egger, 2017, S. 26) Aus dieser Perspektive muss Krankheitsentstehung als ein multikausaler, nonlinearer Prozess begriffen werden, der sich im Zusammenwirken von biologischen, psychologischen, sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Verhältnissen vollzieht (Gahleitner & Pauls, 2011; Sommerfeld, Dällenbach & Rüegger, 2010). Daher „mutet es herausfordernd an, eine sinnvolle und begründbare Grenze zwischen ‚krank‘ und ‚gesund‘ zu ziehen, die sowohl dem Erleben der Betroffenen als auch dem ihres sozialen Umfelds gerecht wird und dabei die Vielfalt menschlicher Lebensentwürfe und -orientierungen zu berücksichtigen vermag“ (Kröger, 2016, S. 3). Die Gedanken existierten bereits lange vor der Etablierung des biopsychosozialen Modells, dem Erfolg von Engels Publikationen (1977, 1980) jedoch ist es zu verdanken, dass „dialogisches und beziehungsorientiertes Vorgehen und die Beachtung des sozialen Milieus“ (Pauls, 2013b, S. 18) im medizinischen und allgemeinen Fachdiskurs unter dieser Begrifflichkeit Fuß fassen konnte. 2.3 Chancen und Grenzen des biopsychosozialen Modells
Das biopsychosoziale Modell wirft forschungsmethodologisch eine Reihe von Problemen auf: „Die Notwendigkeit ganzheitlicher Ansätze und Perspektiven wird forschungsstrategisch zum Fluch“, konstatiert Hanses (2005, S. 189). In der klassischen evidenzbasierten Forschung lässt sich die biopsychosoziale Perspektive bisher nur teilweise abbilden (detailliert Pauls, 2013b), obwohl eine Reihe von Teilbelegen existiert (im Überblick inkl. kritischer Betrachtung Gahleitner, 2017b). Auch die Bindungsforschung (siehe unten) hat bereits die Anlage-Umwelt-Beziehung biopsychosozial begriffen, damals ähnlich revolutionär wie heute aktuelle Forschung aus der Neurobiologie (u. a. Damasio, 1994). Und ausgerechnet die Genforschung hat in den letzten Jahren ebenfalls Ergebnisse hervorgebracht, die das Verhältnis Anlage-Umwelt aus seiner Polarität befreit. Inzwischen existiert daher eine Reihe fundierter Studien zur gesundheitssoziologischen Forschung (u. a. Hurrelmann, 2006/2010; Kolip & Hurrelmann, 2002), Kinder- und Jugendgesundheitsforschung (u. a. Ravens-Sieberer, Will, Bettge & Erhart, 2007), Forschung sozioökonomischer Merkmale und Gesundheit (u. a. Franzkowiak, Homfeldt & Mühlum, 2011; Mielck, 2005), Forschung zu sozialer Integration (u. a. Sommerfeld, Hollenstein & Calzaferri, 2011), Resilienzforschung (u. a. Rutter, 2012; Wustmann, 2004), Forschung zu sozialer Unterstützung (Übersicht Nestmann, 2010) und Forschung zur Stressbewältigung (u. a. Antonovsky, 1979; Lazarus & Folkman, 1984). Das Zusammenwirken des biopsychosozialen Modells in seiner Komplexität in einem Heilungsprozess zu analysieren, gelingt jedoch nach wie vor nur bedingt. Dennoch ist hinreichend bekannt: „Die Prozesse der sozialen und der psychischen Systemebene existieren nicht ohne biologische Prozesse und sind auf deren Funktion angewiesen“, so Pauls (Pauls, 2013a, S. 38f.). Umgekehrt prägen die psychosozialen Vorgänge, einschließlich gesellschaftlicher Lebensverhältnisse, nicht nur funktionale biologische Abläufe, sondern auch strukturelle wie das Zentralnervensystem und das Gehirn (Stichwort ‚Neuroplastizität‘) sowie genetische Prozesse (Stichwort ‚Epigenetik‘) (O’Donnell & Meaney, 2020). Und umgekehrt werden unsere „sozialen Einbindungen in ein soziales Netzwerk … über soziale Regulation, soziale Kontrolle und vor allem soziale Unterstützung zu so etwas wie einem ‚sozialen Immunsystem‘“ (Weinhold & Nestmann, 2012, S. 65; vgl. auch bereits Caplan, 1974). Diese grundlegende Bedeutung des ‚Anderen‘ für die Entwicklung der Identität eines Menschen lässt sich in interaktionistischen Sozialisations- und Interventionsmodellen...


Silke Birgitta Gahleitner, Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin, Prof. Dr. phil. habil., Studium der Sozialen Arbeit, Promotion in Klinischer Psychologie, Habilitation in den Erziehungswissenschaften, langjährig in sozialtherapeutischen Einrichtungen für traumatisierte Frauen und Kinder sowie in eigener Praxis tätig. Seit 2006 lehrt und forscht sie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und betreut dort den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention. Lehr- und Forschungsgebiete sind: Psychosoziale Diagnostik und Intervention, Professionelle Beziehungsgestaltung, Psychosoziale Traumatologie und qualitative Forschungsmethoden.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.