Hildenbrand | Einführung in die Genogrammarbeit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 122 Seiten

Reihe: Carl-Auer Compact

Hildenbrand Einführung in die Genogrammarbeit

E-Book, Deutsch, 122 Seiten

Reihe: Carl-Auer Compact

ISBN: 978-3-8497-8226-9
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Bruno Hildenbrand demonstriert in diesem Buch den Einsatz von Genogrammen zur Erfassung und Darstellung von Fakten, kritischen Ereignissen und Entscheidungsprozessen, die das Leben von Individuen, Paaren und Familien prägen. Der Autor zeigt, wie sich anhand von Genogrammen konkrete Entscheidungen in der Familiengeschichte rekonstruieren und analysieren lassen. Der Vergleich der getroffenen mit den denkbaren Entscheidungen macht Muster sichtbar, an denen im Beratungs- oder Therapieprozess mit dem Ziel von Veränderung gearbeitet werden kann.

Das Buch vermittelt handwerkliches und theoretisches Basiswissen für die Arbeit mit Genogrammen in Beratung, Therapie, Supervision und Selbsterfahrung.
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1. Theoretische Grundlagen der Genogrammarbeit als Sequenzanalyse
Genogrammarbeit: Die Frage der Definition
In dem einschlägigen Handbuch Die Sprache der Familientherapie (Simon, Clement u. Stierlin 2004) wird das Genogramm in Anlehnung an Monica McGoldricks Ansatz wie folgt definiert (S. 121): „Die grafische Darstellung einer über mehrere Generationen reichenden Familienkonstellation. Sie zeigt die Positionen in der Geschwisterreihe, welche die Eltern in ihren eigenen Herkunftsfamilien hatten, sowie die, welche der Indexpatient in seiner Familie einnimmt. Todesfälle, Krankheiten, Symptome usw. lassen sich jeweils übersichtlich einordnen.“ Das Genogramm dient dieser Definition zufolge als Rahmen, „um Informationen zu Koalitionen, Grenzen und zum familiären Lebenszyklus zu gewinnen“ (ebd.). Üblicherweise werden mindestens drei Generationen berücksichtigt. Dagegen dienen Genogramme unserer Auffassung nach lediglich als Grundlage für die Genogrammarbeit, die darin besteht, Schritt für Schritt Entscheidungsmöglichkeiten der infrage stehenden Akteure zu rekonstruieren und mit ihren tatsächlich getroffenen Entscheidungen zu vergleichen. Auf diese Weise ist es möglich, Muster zu rekonstruieren, die die Lebenspraxis der Akteure in ihrer spezifischen Logik immer wieder hervorbringen. Die Unterschiede zwischen beiden Definitionen sind folgende: • Wir nutzen das Genogramm in seiner grafischen Darstellung nicht dazu, um uns eine Übersicht über ein Familiensystem zu verschaffen. Uns dient es dazu, Schritt für Schritt, d. h. sequenziell, zu rekonstruieren, wie sich die autonome Lebenspraxis von Individuen, Paaren und Familien in konkreten, objektivierten Entscheidungen individuiert hat. • Die im Genogramm hervortretenden Familienbeziehungen betrachten wir als einen offenen Rahmen von Möglichkeiten, die die Akteure je individuell gestalten. Schlüsse von spezifischen Familienkonstellationen auf spezifische Handlungs- und Individuierungsprozesse sind daher nur insofern möglich, als sie in Form von Hypothesen formuliert und in einer sequenziellen Betrachtung überprüft werden. • Koalitionen und Grenzen können aus den objektiven Daten eines Genogramms nicht herausgelesen werden (auch keine repetitiven Muster). Allenfalls gibt die Arbeit mit Genogrammen Hinweise auf mögliche Gestaltungen von Koalitionen und Grenzen. • Zusammenfassend: In diesem Buch wird die Auffassung vertreten, dass Genogramme mehr sind als einfache Informationsträger. Einen Überblick über Familienstrukturen geben sie aber nicht. Dieser muss anhand der Daten sequenziell erarbeitet werden. Die theoretischen Annahmen, die dieser Einführung in die Genogrammarbeit zugrunde liegen, sollen nun erläutert werden. Lebenspraxis als Prozess der Krisenbewältigung
Lebenspraxis betrachten wir als widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung. Damit ist Folgendes gemeint: Auf der einen Seite stehen ständig lebenspraktische Entscheidungen an („Man kann sich nicht nicht entscheiden“). Auf der anderen Seite lässt sich die Vernünftigkeit der getroffenen Entscheidungen nur im Nachhinein begründen. Denn es gibt kein Kriterium, nach dem die Rationalität einer Handlung im Voraus entschieden werden kann. Zwar kann der Handlungsentwurf in sich rational sein. Ob sich aber der Handlungsverlauf in rückblickender Einschätzung als rationaler erweist, hängt von zahlreichen Einflüssen ab, die zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht kontrollierbar sind. Gleichwohl wird eine Begründung jeweils für erforderlich gehalten (von dem, der sich entscheidet, wie auch von seiner Umgebung). Diese Lücke zwischen Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung wird gefüllt durch die Bereitschaft der Akteure, in eine offene Zukunft hinein Entscheidungen zu treffen. Dabei handeln sie unter der Prämisse, dass es im Zweifelsfall schon gut gehen werde. Im Rahmen dieses Widerspruchs von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung bildet sich die autonome Einheit (man könnte auch sagen: die Identität und Unverwechselbarkeit) von Individuen, Paaren und Familien. Die Widersprüchlichkeit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung verweist auch auf folgenden Gesichtspunkt: Bei Entscheidungssituationen bestehen in der Regel mehrere Optionen des Handelns. Dies ist wertneutral gemeint. Wir sprechen hier nicht normativ von einer Welt unbegrenzter Möglichkeiten, sondern gehen von der Annahme aus, dass die Situation, nur eine Möglichkeit realisieren zu können, strukturell einen Grenzfall darstellt. Individuierung bedeutet demnach wählen zwischen Möglichkeiten: „Sinn ist laufendes Aktualisieren von Möglichkeiten“ (Luhmann 1987, S. 100). Übung: Versuchen Sie, gedankenexperimentell eine biografisch bedeutsame Situation zu entwerfen, in der der Handelnde nur eine einzige Möglichkeit hat. Bei der Genogrammarbeit interessieren uns vor allem drei Entscheidungsbereiche, die für die Identitätsbildung und damit für die Entwicklung einer autonomen Lebenspraxis zentral sind: • die materielle Selbsterhaltung, dokumentiert in der Entscheidung für einen Beruf; • spezifische Partnerwahlen und Entscheidungen für oder gegen Kinder; • die Herstellung eines Bezugs zum Gemeinwesen, d. h. Wahl eines Wohnorts, Beziehungen zu lokalen bis hin zu umfassenden Institutionen, kurz: die Entwicklung zum Bürger i. S. v. citoyen oder citizenship. Die in diesen jeweiligen Entscheidungsprozessen gebildeten Kompetenzen sind dann Grundlage für die Bewältigung von Krisen, die die Routine der Lebenspraxis unterbrechen. Diese Krisenbewältigung ist entscheidend für den Erhalt und die Weiterentwicklung individueller Autonomie. Wir fassen zusammen: Entscheidungen sind Krisenkonstellationen, in denen sich die Autonomie einer konkreten Lebenspraxis herausbildet bzw. erweist. Vom Standpunkt der Autonomie der Lebenspraxis aus gesehen, ist somit der Normalfall die Krise, verstanden als eine Situation, die eine Entscheidung fordert. Hier kann die Lebenspraxis sich individuieren. Demgegenüber stellt die Routine einen Grenzfall dar, ein Übergangsstadium zwischen zwei Krisen. Die Sequenzanalyse als Methode der Rekonstruktion von Krisen und ihrer Bewältigung
Wenn sich Autonomie eines Individuums, eines Paares, einer Familie in der Bewältigung von Krisen zeigt, dann ist die sequenzanalytische Rekonstruktion solcher Prozesse das geeignete Verfahren zur Analyse von Individualität einer konkreten Lebenspraxis. Wichtig ist, dass unter einer Abfolge von Sequenzen nicht ein einfaches Nacheinander von Entscheidungen verstanden wird. Sequenzen und ihre Abfolge entfalten sich als sinnstrukturierte Prozesse, die ein Muster erzeugen, reproduzieren oder transformieren, indem Möglichkeiten wahrgenommen, gegeneinander abgewogen, verworfen bzw. gewählt werden. Struktur und Prozess „fallen in eins“, Struktur entsteht und wird verändert im Prozess. Aus dem Bisherigen ergibt sich, dass drei Sequenzabfolgen erforderlich sind, damit ein Entscheidungsprozess vollständig rekonstruiert werden kann: • die vergangene Sequenzstelle, an der sich Möglichkeiten eröffnen; • die aktuelle Sequenzstelle, an der eine Möglichkeit ausgewählt und realisiert und insofern Wirklichkeit vollzogen wird; • eine weitere Sequenzstelle, an der aus den eröffneten neuen Möglichkeiten eine Option realisiert wird. Damit werden gleichzeitig neue Möglichkeiten eröffnet. Wie viele Generationen muss man bei einer Genogrammanalyse überblicken können, um an die Muster heranzukommen? Beantwortet man diese Frage in Bezug auf die Struktur der Paar- und Eltern-Kind-Beziehung, dann lautet die Antwort: Drei Generationen muss man überblicken können. Denn die Eltern müssen, um als kompetente Eltern handeln zu können, selbst die Ablösung von den Eltern erfolgreich bewältigt haben (Oevermann 2001b). Damit kommt die Großelterngeneration (vom Kind aus gesehen) in den Blick, von der sich die Elterngeneration abgelöst hat. Beantwortet man diese Frage in Bezug auf das soziale Milieu der Familie, deren Genogramm man rekonstruiert, dann ist es sinnvoll, eine weitere Generation hinzuzunehmen. Fehlt diese Generation im Genogramm, dann könnte es sein, dass Prozesse sozialen Wandels, die die Familie erlebt hat (z. B. geografische und soziale Mobilität), nicht erfasst werden können. Übung: Denken Sie an den Klienten oder die Klientin, den oder die Sie zuletzt gesehen haben. Wie viele Generationen aus seiner oder ihrer Familiengeschichte können Sie überblicken? Falls Sie keinerlei Informationen zu diesem Klienten oder dieser Klientin haben, ist...


Bruno Hildenbrand, Prof. i. R. Dr.; war bis zum Eintritt in den Ruhestand 2015 Professor für Sozialisationstheorie und Mikrosoziologie am Institut für Soziologie der Friedrich Schiller Universität Jena und bearbeitet jetzt als Gastwissenschaftler an der Universität Kassel ein Projekt über die Bewältigung von Krisen im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen in sozialen Diensten. Bis 2015 war er Dozent und Supervisor am Ausbildungsinstitut für systemische Therapie und Beratung Meilen in Zürich. Er lebt in Marburg.
Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die Genogrammarbeit (5. Aufl. 2020), Unkonventionelle Familien in Beratung und Therapie (zus. mit Dorett Funcke, 2009); gemeinsam mit Rosmarie Welter-Enderlin u. a. Herausgeber von Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände (5. Aufl. 2016), Gefühle und Systeme. Die emotionale Rahmung beraterischer und therapeutischer Prozesse (2. Aufl. 2011), Rituale – Vielfalt in Alltag und Therapie (3. Aufl. 2011); mit Ulrike Borst Herausgeber von Zeit essen Seele auf. Der Faktor Zeit in Therapie und Beratung (2012), Genogrammarbeit für Fortgeschrittene (2018).


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