Incardona | Striptease | Buch | 978-3-9524752-2-5 | sack.de

Buch, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 222 mm, Gewicht: 330 g

Incardona

Striptease

Buch, Deutsch, 160 Seiten, Format (B × H): 138 mm x 222 mm, Gewicht: 330 g

ISBN: 978-3-9524752-2-5
Verlag: PEARLBOOKSEDITION


André Pastrella vertrödelt sein Leben zwischen miesen Jobs, Alkohol und unerreichbaren Frauen. Eben noch verbrennt der sympathische junge Taugenichts seinen Romananfang mit einem Schuss Smirnoff im Waschbecken seiner Genfer Sozialwohnung, da macht er eine folgenreiche Entdeckung: die Romane von John Fante, in dem der Möchtegern-Autor sein Alter Ego findet. Zum Schriftsteller aber taugt André nicht. Zum Geschäftemacher oder Ganoven ebenso wenig. Überall wird der Sohn sizilianischer Gastarbeiter zum Außenseiter gestempelt. Nicht einmal bei den Prostituierten findet er
sein Glück. Eine unsägliche Existenz, wären da nicht die sterbende alte Dame von nebenan, die rätselhafte, schöne Polin Karla oder Bébert, der völlig durchgeknallte Nachbar, dessen dickes Päckchen voller Kokain André zu süßen Träumen von Südseeinseln und Steuerparadiesen verleitet.
Incardona Striptease jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Es war Mitte Februar, ich war gerade zweiundzwanzig geworden. Seit drei Monaten arbeitete ich als Kurierfahrer für eine Frauen­ klinik. Ich benutzte meinen eigenen Wagen, und man erstattete mir die Kosten fürs Benzin. Von Montag bis Freitag lieferte ich knapp tausend Röntgenaufnahmen an Arztpraxen. Auf der Rück­ bank meines Fiat 126 Bambino transportierte ich Tag für Tag die intimsten Details von Hunderten unbekannter Frauen. Das war weit mehr als ein bloßer Kurierjob: Ich war die moderne Inkarna­ tion des Erzengels Gabriel. Ich trug Verantwortung. Ich klotzte richtig ran.
Der Klinikchef war eigentlich ein netter Kerl. Anfangs war es vorgekommen, dass ich etwas verschlamperte und ein Röntgen­ bild diesem statt jenem Arzt überbrachte, trotzdem machte der Boss mir daraus nie den leisesten Vorwurf. Ehrlich, ich glaube, der Typ war in Ordnung, aber kaum hatte ich an dem Morgen die Eingangshalle betreten, erklärte mir die Empfangsdame, ich solle mich auf der Stelle in sein Büro begeben.
Ich ging zu Fuß in den dritten Stock, vorbei an Krankenschwes­tern, die in knackig anliegenden, apfelgrünen Kasacks steckten, und klopfte an seine Tür. Er begrüßte mich und ließ mich Platz nehmen. Ich wusste genau, was mich erwartete. Ich war schon dutzendmal aus Dutzenden verschiedener Gründe gefeuert wor­ den, aber das Prozedere blieb das gleiche.
Er räusperte sich, zögerte und entschloss sich endlich, mit der Sprache herauszurücken:
«Monsieur Pastrella, haben Sie eine Ahnung, warum ich Sie heute Morgen zu mir bestellt habe?»
«Nicht wirklich, Herr Doktor.»
Er rieb sich das Kinn. Einen Angestellten zu schassen, erfordert besonderes Know­how.
«Nun gut, wie Sie feststellen können, werden die Dienste unse­ rer Röntgenabteilung immer stärker in Anspruch genommen. Die Lieferzeiten werden nicht immer eingehalten, die Kunden beschweren sich. In gewisser Weise sind wir das Opfer unseres eigenen Erfolges, Monsieur Pastrella.»
Die Chefs, die einen in der Regel mit Lautmalereien kurz an­ bellten, waren auf einen Schlag Meister, wenn es darum ging, Phrasen zu dreschen und um den heißen Brei herumzureden. Eine unglaubliche Metamorphose, ein fast wundersames Wieder­ erlangen der Sprache. Die neuropsychiatrische Fakultät im kali­ fornischen Palo Alto führte eine Studie zu dem Phänomen durch. Das muss man gehört haben:
«Unsere Abteilung benötigt eine Restrukturierung, sie muss ihre Ziele neu ausrichten, eine neue Marketingstrategie entwickeln.» Mit dem Hintern ganz vorne auf der Stuhlkante, versuchte ich, an etwas anderes zu denken und mich zum Beispiel in den Vogel zu versenken, der sich eben ans Fenster gesetzt hatte.
«Daher hat die Geschäftsleitung nach einer gründlichen Markt­analyse und einer außerordentlichen Sitzung einen Vertrag mit
einem professionellen Kurierdienst abgeschlossen.»
Ich sah sie vor mir, die Typen in ihren braunen Uniformen, wie sie in ihren geräumigen Lieferwagen mit dem Walkie­Talkie hinterm Steuer saßen. Ich hatte mit dem Fiat mein Möglichstes getan. Mehr noch, ich konnte, ohne zu übertreiben, von mir be­ haupten, maximale Leistung bei minimalem Gehalt erbracht zu haben. Aber um mit einem Multi mitzuhalten, war mein Zwei­ zylinder nicht stark und waren meine Schultern nicht breit genug.
Der kleine Vogel hinterm Fenster war weggeflogen.
«Mit anderen Worten, Monsieur Pastrella: Wir werden auf Ihre Dienste verzichten müssen.»
Engel Pastrella krachte in eine Hochspannungsleitung. Ich steckte den Knock­out weg, der Doktor dagegen saß fest in sei­ nem Sumpf aus Floskeln und Verlegenheit. Schweigend wartete ich auf die Fortsetzung.
«Allerdings könnte ich, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, bei der Geschäftsleitung ein gutes Wort für Sie einlegen und eine Anstellung in unserem Catering­Team erwirken. Eben ist ein Posten als Küchengehilfe frei geworden und ...»
Er schien wirklich betrübt, der Herr Doktor de Quervain. Mit gekrümmtem Rücken und schmalen Schultern saß er da in sei­ nem viel zu weiten Kittel. Ein Spitzendoktor! Es fehlte nicht viel, und ich hätte ihn beruhigen müssen. Was ich übrigens auch tat:
«Keine Sorge, ich werde schon was anderes finden.»
«Aber nein! Ich bestehe darauf!»
«Das ist nicht nötig, glauben Sie mir.»
Das war dumm von mir, ich brauchte diese Arbeit. So was nannte sich Stolz, aber ich musste unbedingt los. Bis zum Abend hatte ich einen Haufen wichtiger Dinge zu erledigen. Den Öl­ stand meines Wagens überprüfen, einkaufen gehen – ich hatte echt viel zu viel um die Ohren. Ich stand auf.
«Wiedersehen, Herr Doktor.»
«Tja, dann ...»
Die Rollen seines Sessels quietschten über den Marmorboden.
Auf dem Weg zur Tür spürte ich, wie sich seine Hand auf meine Schulter legte. Sacht machte ich mich los.
«Warten Sie, Monsieur Pastrella! Na, kommen Sie! Wir kön­ nen uns doch trotzdem noch die Hand geben, oder?»
Seine Hand war weich und feucht.
«Am Empfang liegt ein Scheck für Sie bereit. Ich habe dafür gesorgt, dass man Sie bis zum Monatsende bezahlt. Sie haben gute Arbeit geleistet. Jedenfalls, wenn Sie Ihre Meinung noch ändern sollten, wegen der Stelle als Küchengehilfe ...»
«Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen, Doktor.»
Ich wartete, bis die Empfangsdame damit fertig war, ihre Wangen mit etwas Rouge aufzufrischen, bevor ich meinen Scheck ver­ langte. Draußen steckte ich mir eine Zigarette an. Feiner Regen legte sich über die Stadt. Der Himmel hing voller Wolken. Bis jetzt hatte ich mir nie Sorgen gemacht, ob ich Arbeit nden würde. In der Hinsicht hatte ich keinerlei Ehrgeiz und leckte daher auch niemandem die Stiefel. Ich war womöglich ein Loser, aber einer mit Stil.
Ich ging über den Parkplatz zu meinem Wagen und fuhr los.


Ott, Thomas
Thomas Ott, geboren 1966, st ein Schweizer Comiczeichner. Seine Comics wurden und werden u. a. in den Vereinigten Staaten, sowie in Spanien, Dänemark und Italien veröffentlicht. 2017 gewann er im Rahmen der Swiss Design Awards den Grand Prix Design für sein Lebenswerk.

Incardona, Joseph
Joseph Incardona, 1969 als Sohn eines Sizilianers und einer Schweizerin geboren, lebt und arbeitet in Genf. Er ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten, Drehbüchern und Comics.

Oesch, Daniel
Seit Abschluss seiner Übersetzerausbildung in Zürich und Paris arbeitet Daniel Oesch, geboren 1960, als freischaffender Übersetzer in Zürich und Locarno.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.