Ivanova / Plaggenborg | Entstalinisierung als Wohlfahrt | Buch | 978-3-593-50284-7 | sack.de

Buch, Deutsch, 280 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 213 mm, Gewicht: 356 g

Ivanova / Plaggenborg

Entstalinisierung als Wohlfahrt

Sozialpolitik in der Sowjetunion 1953-1970

Buch, Deutsch, 280 Seiten, Format (B × H): 141 mm x 213 mm, Gewicht: 356 g

ISBN: 978-3-593-50284-7
Verlag: Campus Verlag GmbH


Sozialpolitik war in der Sowjetunion sowohl als Begriff wie als Sache lange Zeit abwesend. Warum sollte ein sozialistisches System Sozialpolitik betreiben, verkörperte es doch die soziale Gerechtigkeit schlechthin? Sozialpolitik galt dem Kreml als Reparaturarbeit an den
Auswüchsen des Kapitalismus. Die Zeiten änderten sich jedoch nach Stalins Tod. Bis 1953 hatte Sozialismus in der UdSSR Massenarmut, Konsumverzicht und miserable Lebensverhältnisse bedeutet. Ab 1956 wurde Sozialpolitik zu einem zentralen Baustein der Entstalinisierung – denn Bedürftigkeit und Armut ließen sich auch in der UdSSR nicht mehr übersehen. In der Breschnew-Zeit erreichte die Sozialpolitik ihren Höhepunkt.
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Inhalt

Entstalinisierung: Auf dem Weg zur Sozialen Planwirtschaft 7

1. Einleitung 20

1.1 Das Thema des Buchs 20

1.2 Historiographie, Quellen und Forschungsmethoden 31

2. Auf dem Weg zum sowjetischen Wohlfahrtsstaat 46

2.1 Die sozialen Folgen des Krieges und der Stalinschen Modernisierung 46

2.2 Die Auswahl der sozialen Strategie und die politischen Diskussionen 59

2.3 Malenkovs 'sozialer Kurs' 69

2.4 Die Entstalinisierung und das Sozialprogramm Chruševs 84

2.5 Die rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen der Sozialpolitik 94

3. Die Sozialpolitik im Kontext der ökonomischen Entwicklung der UdSSR 113

3.1 Der Mechanismus der sozialistischen Wirtschaftstätigkeit 113

3.2 Die finanziellen Aspekte der sozialen und ökonomischen Entwicklung der UdSSR 127

3.3 Probleme der sowjetischen Modernisierung und soziale Risiken 143

3.4 Die soziale Effektivität der gesellschaftlichen Produktion 163

4. Die gesellschaftlichen Verbrauchsfonds – der Kern des sowjetischen Wohlfahrtsstaates 179

4.1 Zweckbestimmung und ökonomischer Gehalt 179

4.2 Finanzierungsquellen und Ausgabenarten 190

4.3 Umfang, Struktur und Dynamik 214

4.4 Die Gewerkschaften und die gesellschaftlichen Verbrauchsfonds 229

5. Das sowjetische Modell der Sozialpolitik 241

6. Fazit 264

Abkürzungsverzeichnis 269

Quellen 273

Literatur 274


Entstalinisierung: Auf dem Weg zur Sozialen Planwirtschaft

Vorwort von Stefan Plaggenborg

Sozialpolitik, der Gegenstand des Buches der Moskauer Historikerin Galina Ivanova, war in der Sowjetunion sowohl als Begriff wie als Sache lange Zeit abwesend. Warum sollte ein sozialistisches System Sozialpolitik betreiben, verkörperte es doch als solches die soziale Gerechtigkeit schlechthin. Sozialpolitik war Reparaturarbeit an den Auswüchsen des Kapitalismus. In der Sowjetunion bedurfte es solcher Tätigkeiten nicht.

Eine derartige Sichtweise hat sich als Selbsttäuschung herausgestellt. Die Probleme sozialer Ungleichheit, Bedürftigkeit, Armut sowie viele andere Fälle von notwendiger Unterstützung infolge von Lebensrisiken ließen sich auch in der Sowjetunion nicht übersehen. Sie veranlassten die Regierung in Moskau, in der Sache Dinge zu tun, die den üblichen Namen nicht tragen durften. Im Vergleich zu westlichen Staaten begann der Kreml spät mit Sozialpolitik. Zwar wurde auch schon zuvor soziale Fürsorge betrieben, doch erst nach 1956 wurde sie Schritt für Schritt systematisch ausgebaut.

Erstmals liegen nun zwei umfassende Studien zu diesem Gebiet der sowjetischen Geschichte nach Stalin vor, die auf umfangreichen Archivalien beruhen. Neben Ivanovas Buch ist die grundlegende Untersuchung zur Altersversorgung von Lukas Mücke zu nennen. Grundlegend deshalb, weil in ihr nicht nur der Gegenstand mustergültig erforscht worden ist, sondern auch, weil an der Art und Weise, wie ein Regime mit den Alten umgeht, die soziale Verfassung einer Gesellschaft erkennbar wird. Beide Arbeiten sind in einem gemeinsamen Forschungsprojekt an der Ruhr-Universität Bochum entstanden. Sie können unser Wissen sowie unseren Blick und die Interpretation der Jahre nach Stalin erheblich verändern.

Den Lesern, die sich in die einzelnen Kapitel des vorliegenden Buches von Galina Ivanova vertiefen, sei mit einer kurzen Einführung geholfen, die, erstens, den historischen Kontext der sowjetischen Sozialpolitik erläutert, zweitens die wichtigsten Ergebnisse des Buches zusammenfasst und offene Fragen anschließt und drittens die Resultate der Untersuchung in eine knapp skizzierte Diskussion über vergleichende und theoretische Aspekte von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaat einführt.

Historisch ist die sowjetische Sozialpolitik in den Zusammenhang der Entstalinisierung einzuordnen. Für die sowjetische Geschichte liegt hier eine tiefgreifende Zäsur vor, welche die poststalinistische UdSSR deutlich von den Jahren der stalinistischen Herrschaft abhebt. Bisher haben wir uns an eine bestimmte Sicht dieser neuen Phase der sowjetischen Geschichte gewöhnt. Entstalinisierung, das war die Abkehr des Regimes von der massenhaften Gewalt, der in den Jahren des Stalinismus Millionen Menschen zum Opfer gefallen waren. Wir denken an die "Geheimrede" des Ersten Sekretärs Nikita Chruš?ev auf dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, in der er mit Stalin abrechnete, ihn als Verbrecher bezeichnete, zahlreiche Terrormaßnahmen beschrieb und ebenso viele nicht erwähnte und das riesige Problem des massenmörderischen Stalinismus unter dem Begriff des Personenkultes zusammenfasste, das heißt verkleinerte. Entstalinisierung bedeutete - wie sich herausstellte: vorübergehende - Liberalisierungen in den Wissenschaften, sogar in der ideologisch gebundenen Geschichtswissenschaft, vor allem aber in der Kunst. Das "Tauwetter", der Titel eines Romans von Ilja ?renburg, gab diesen neuen Tendenzen den Namen. Erstmals durfte die literarische Verarbeitung von Lagererfahrungen erscheinen: Aleksandr Solženicyns Ein Tag im Leben des Ivan Denisovi?. Nach der ersten großen Amnestie von Lagerhäftlingen 1953 wurden die Lager des Gulag schrittweise aufgelöst. Rehabilitierungen der Opfer des Stalinismus kamen auf die politische Tagesordnung, wurden aber nur halbherzig betrieben. Rechtsreformen führten 1957/58 zu einer Demilitarisierung der Rechtsprechung. Ein formeller Verbrechensbegriff, der Tatbestand und nachweisbare Schuld einbezog, hielt Einzug in die reformierte sowjetische Strafprozessordnung; im Stalinismus hatte sich die ohnehin amateurisierte Justiz nicht um derlei juristische Feinheiten gekümmert.

All dies war von großer Bedeutung, auch für den einzelnen Sowjetbürger. Es blieb aber ein zentrales Problem ungelöst: Wie sollte das Regime die Bevölkerung an sich binden, wie Loyalitäten erzeugen, wie die Gesellschaft nach den Verheerungen des Stalinismus befrieden? Dass die Kommunistische Partei die Bevölkerung verloren hatte, ließ sich nicht übersehen. Zwar lieferte der Triumph im "Großen Vaterländischen Krieg" eine neue Legitimationsbasis, aber erst Chruš?evs Nachfolger Leonid Brežnev instrumentalisierte den Sieg systematisch zugunsten des sozialistischen Systems. Während der Entstalinisierung suchte das Regime noch die "lebendige Verbindung zu den Massen": Dadurch sollte der Gegensatz von Regime und Gesellschaft abgemildert werden, der auch unter Stalin nicht in der scharfen dichotomischen Form existiert hatte, weil es viele Sympathisanten, Mitläufer und Unterstützer gab. Nun wurden Brücken gebaut, und zwar - davon berichtet dieses Buch unter anderem - von beiden Seiten.

Um die "lebendige Verbindung zu den Massen" erfolgreich herstellen zu können, musste die Führung nach Stalin die dunkelsten Kapitel beseitigen, die sie vom Despoten geerbt hatte, und das hieß, namentlich zwei Probleme zu lösen. Sie musste Terror und Gewalt beenden. Das vermochte sie gleichsam per Dekret herbeizuführen, eine relativ einfache Angelegenheit, denn die Nachfolger Stalins brauchten nur den Entschluss zu fassen. Das zweite Problem ließ sich nicht wegdekretieren: die katastrophale materielle Lage der Bevölkerung und ihr fehlender Schutz gegen die Risiken des Lebens.

Vor diesem Hintergrund ist die Sozialpolitik zu sehen, deren Geschichte 1956 begann. Sie steht nicht nur im Zusammenhang mit Entstalinisierung, sie ist Entstalinisierung. Sie ging über das Jahr 1964, als Chruš?ev gestürzt wurde, hinaus und erlebte eine Blüte unter Brežnev. Das ist umso bemerkenswerter, als diejenigen, die Chruš?ev die Ämter nahmen, vieles von dem rückgängig machten, was er eingeleitet hatte. Die Sozialpolitik aber blieb nicht nur, sie wurde zu ihrem Höhepunkt geführt. Nun hieß es, es sei das Grundanliegen des sozialistischen Staates, die sozialen Garantien entsprechend der Verfassung von 1936 zu gewährleisten und sie besonders in der Zeit des "entwickelten Sozialismus" allen Sowjetbürgern ungeachtet ihrer Klassenzugehörigkeit zukommen zu lassen. Integration und Loyalität der Bevölkerung, das hatte auch die Führung um Brežnev verstanden, ließ sich mit Hilfe verbesserter Einkommen, ausgeweiteter Sozialleistungen und höherer Lebensstandards erreichen. Seit 1956, besonders aber während der Brežnev-Ära seit 1965, stand die "Erhöhung des Wohlstands der Sowjetbürger" auf der Tagesordnung und wurde zu einer gängigen Formel auf den Parteitagen dieser Zeit. Der Ausdruck "soziale Gerechtigkeit" fand Eingang in die politische Sprache, ja selbst der Begriff Sozialpolitik war nicht länger verpönt.

Die Sowjetunion lebte nicht isoliert in ihrem sozialistischen Kosmos. Die Systemkonkurrenz zum Kapitalismus bildete einen wichtigen Bezugspunkt für Sozialpolitik. Die sowjetischen zeitgenössischen Verlautbarungen bemühten gern und häufig den Vergleich und hoben in Fragen des Lebensstandards und der sozialen Versorgung die Leistungen des Sozialismus hervor, die denen der meisten kapitalistischen Länder, darunter der USA, überlegen seien. Dem Kapitalismus entgegen stand die "sozialistische Lebensweise" (socialisti?eskij obraz žizni), die sich in den Augen der sowjetischen Führung immer mehr zur nichtkapitalistischen zivilisatorischen Alternative entwickelte. Begrifflich gingen die sowjetische Sozialpolitik und die "sozialistische Lebensweise" eine enge Verbindung in der Sprache der Zeit ein, sodass im sowjetischen Verständnis mehr mitschwang als die schlichte Beseitigung von sozialen Missständen. Es ging immer auch um Gesellschaftspolitik. Sowjetische Politiker, aber auch die einschlägige Literatur jener Jahre verwiesen auf die krassen Einkommens- und Sozialdifferenzierungen, den sehr niedrigen Lebensstandard einiger Bevölkerungsgruppen und das wenig entwickelte Sozialsystem in den USA. In der Systemkonkurrenz auf sozialem Gebiet wähnte sich die Sowjetunion nicht nur auf dem Vormarsch, sondern meinte, den Hauptgegner bereits überholt zu haben.

Bildete Sozialpolitik aber ein Geschenk des poststalinistischen Staates an seine Bürger? Das Buch spricht von anderen Verhältnissen gefordert. In tausenden Briefen wurde eine Besserstellung gefordert. Die Botschaft der Autorinnen und Autoren lautete: ›Wir haben uns für den Aufbau des Sozialismus den Buckel krumm gearbeitet, nun soll der Staat etwas für uns tun, wenn die Kräfte nachlassen.‹ Nicht zufällig stand die grundlegende Reform des staatlichen Rentensystems ganz oben auf der sozialpolitischen Tagesordnung. War es denn nicht ein Skandal, besonders auch mit Blick auf die kapitalistischen Länder Westeuropas, dass die Sowjetunion bis 1956 keine allgemeine Altersversorgung für Arbeiter und Angestellte kannte? Wer alt und arbeitsunfähig wurde, musste in der Regel sehen, wie er sich durchschlug. Und war es nicht ein noch größerer Skandal, dass die ländliche Bevölkerung in den Kolchosen erst seit 1964 in den Genuss einer - wenn auch kärglichen - Rente kam? Stalin hatte 1936 das Stadium des Sozialismus ausgerufen. Selbst wenn man vom Terror absehen wollte, was schlechterdings nicht möglich ist, so musste diese Proklamation auch unter Gesichtspunkten sozialer Fürsorge als reiner Zynismus durchgehen. Sozialismus bedeutete bis in die Phase der Entstalinisierung extremer Konsumverzicht, niedrigste Lebensverhältnisse, Schutzlosigkeit gegen die Lebensrisiken, kurz: eine erbärmliche materielle Existenz.

Fragen wir uns, ob diese neue Politik erfolgreich war, so fällt die Antwort ambivalent aus. Auf der einen Seite: Ja, denn der Lebensstandard der Bevölkerung hat sich nach 1956 de facto verbessert, wobei jedoch das äußerst niedrige Ausgangsniveau zu berücksichtigen ist. Aber es ist kein Wunder, wenn noch nach dem Zusammenbruch des Sozialismus 1991 und während der Regierungsjahre des russischen Präsidenten Boris El'cin, als der soziale Absturz weite Teile der Bevölkerung erfasste, die Sehnsucht nach den guten Verhältnissen früherer Jahre ausbrach. Darüber hinaus lässt sich der Erfolg messen. Eine russische Untersuchung hat festgestellt, dass es nach 1964, das heißt während der Periode der intensivierten Sozialpolitik, keine so genannten "Massenunruhen" gegeben hat. Unter Chruš?ev hingegen musste 1962 in Novo?erkassk sogar das Militär ausrücken, um der Revolte Herr zu werden. Im Großen und Ganzen hat das Kalkül des Regimes, die Loyalität der Bevölkerung mittels Sozialpolitik zu erkaufen, funktioniert. Auf der anderen Seite: Nein, lautet die Antwort, weil längst nicht alle Bedürftigen ein ausreichendes Auskommen fanden, das Niveau der sozialen Sicherung insgesamt niedrig blieb, Sozialpolitik auch zu neuen Problemen führte und einige Individuen und soziale Gruppen, besonders die Nomenklatura, wegen ihrer unübersehbaren Privilegien den Volkszorn auf sich zogen.

Galina Ivanovas Buch gibt aber noch viel mehr Auskünfte über die poststalinistische Sowjetunion. In vielen Punkten müssen wir unser Bild korrigieren. Eine erschütternde Zahl vermittelt ihr Buch gleich zu Beginn: 43 Prozent der sowjetischen Beschäftigten lebten 1954 unter dem staatlich festgelegten Existenzminimum, das weit davon entfernt war, als üppig zu gelten. Der unter Stalin eingerichtete Sozialismus forderte infolgedessen dringend Sozialpolitik.

Die Dimensionen der sozialen Probleme nach dem Zweiten Weltkrieg waren schier unendlich. Armut, Arbeitslosigkeit, laut Verfassung und dem darin enthaltenen Recht auf Arbeit sowie zahlreichen Verlautbarungen des Regimes zufolge nicht existent, Invalidität, besonders als Folge des Krieges, fehlender Wohnraum und fehlende oder bestenfalls schwache Altersversorgung - das waren nur die wichtigsten Bereiche der katastrophalen sozialen Lage der Bevölkerung; das niedrige Konsumniveau kam hinzu. Wenn das ganze Ausmaß der Lage erst nach 1953 offenkundig wurde, weil es zuvor nicht thematisiert werden durfte, so werden wir uns an eine erweiterte Bestimmung des Stalinismus gewöhnen müssen. Außer dem Terror gehörte flächendeckendes soziales Elend zu seinen konstitutiven Merkmalen.

Die neue Führung nach Stalins Tod hatte keine andere Wahl, als in einen "Dialog" mit der Bevölkerung über die soziale Lage und die Missstände zu treten. Erstmals erkannte sie offen die Existenz ernster sozialer Probleme an. Bestimmte Ereignisse unterstützten diesen Prozess fortschreitender Einsicht bei Männern, die allesamt treue Stalinisten und daher an der sozialen Misere, die Mitte der 1950er Jahre zur Sprache kam, in vollem Umfang beteiligt gewesen waren. Der Aufstand in der Deutschen Demokratischen Republik im Juni 1953 hat dazu beigetragen, dass die Verbesserung der sozialen Lage in der UdSSR zum wichtigen politischen Tagesordnungspunkt wurde. Vor allem aber, das kann Ivanovas Buch deutlich zeigen, lieferten massenweise Briefe an Parteileute und Partei- und Staatsinstitutionen genügend Anlass, das Problem endlich zu beachten. Die Empörung, die Klage über soziale Ungerechtigkeiten, einzelne oder allgemeine Missstände und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ließen sich nicht länger überhören. Die Arbeiterschaft meldete sich entschieden zu Wort und verband dies mit einem kräftigen Schuss proletarischen Anti-Intellektualismus, weil die mit geistiger Arbeit Beschäftigten in der Regel besser dastanden, was dem Gleichheitsideal widersprach. Bürger forderten ihr Recht auf soziale Unterstützung und begannen, sich gegen offenkundige oder empfundene soziale Ungerechtigkeiten zu wehren. Den "Dialog" führte die Regierung keineswegs nur freiwillig. Das Volk murrte. Auf diese Weise wird verständlich, warum soziale Maßnahmen eine zentrale Rolle im innerparteilichen Machtkampf nach Stalin zu spielen vermochten. Man muss sich den Wandel nur deutlich genug vor Augen führen: Gestandene Stalinisten konkurrierten darum, in der Partei und Öffentlichkeit als Sozialpolitiker zu erscheinen. Georgij Malenkovs "Neuer Kurs" bildete den ersten - gescheiterten - Versuch in diese Richtung, bevor ihm Chruš?ev danach den Rang als "bester" Sozialpolitiker ablief.

Ivanovas Buch kann diese Vorgänge verdeutlichen und erlaubt es, daran anschließend Fragen zu stellen. Konnte Chruš?ev die "Geheimrede" auch deshalb wagen, weil er aus Parteikreisen die Zustimmung zu seiner Sozialpolitik erhalten hatte? Brauchte er diesen Rückhalt, um die explosive Rede überhaupt halten zu können? Chruš?ev stellte sich am Morgen des 25. Februar 1956 nicht, wie die ältere Forschung glaubte, allein gegen seine Genossen in der Parteiführung, spielte Vabanque und gewann. Der Auftritt war in der Führung abgesprochen, die Materialien hatte eine Parteikommission erarbeitet, die Überraschung hielt sich in Grenzen, nicht jedoch bei den gewöhnlichen Delegierten, die teilweise schockiert nach Hause fuhren. Zuvor jedoch hatte Chruš?ev die Debatten über den Kurs in der Sozialpolitik schon für sich entschieden. Mit diesem Sieg in der Tasche durfte er den entscheidenden Schritt zur Entstalinisierung tun und Stalin demontieren. Der 20. Parteitag ist historisch geworden durch die "Geheimrede", aber vergessen wir nicht, dass die Delegierten in den Tagen zuvor ein umfassendes Programm zur Sozialpolitik verabschiedet hatten, das im Stalinismus unvorstellbar gewesen wäre.


Galina Ivanova arbeitet am Institut für Russische Geschichte an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. Stefan Plaggenborg
ist Professor für Osteuropäische Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum.


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