Michaelis | »Die Zukunft der Juden« | Buch | 978-3-593-51126-9 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 7, 340 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 213 mm, Gewicht: 433 g

Reihe: Kontingenzgeschichten

Michaelis

»Die Zukunft der Juden«

Strategien zur Absicherung jüdischer Existenz in Deutschland (1890-1917)

Buch, Deutsch, Band 7, 340 Seiten, Format (B × H): 140 mm x 213 mm, Gewicht: 433 g

Reihe: Kontingenzgeschichten

ISBN: 978-3-593-51126-9
Verlag: Campus Verlag GmbH


Die Geschichte des deutschen Judentums um 1900 wird häufig als die einer Dualität zwischen Tradition und Moderne erzählt. Betrachtet man jedoch die jüdische Gemeinschaft nicht nur in ihrer zeitgenössischen Verfasstheit, sondern auch in ihren vergangenen Zukunftsperspektiven, so wird das Bild komplexer: Um sich angesichts sinkender Geburtenraten, der jüdischen Einwanderung aus Osteuropa und des erstarkenden Antisemitismus abzusichern, nutzten liberale Jüdinnen und Juden neuartige Instrumentarien. Anna Michaelis zeichnet entlang von Demografie, Medizin und Wohltätigkeitsorganisationen nach, wie das jüdische Bürgertum die Zukunft seiner Gemeinschaft konstruierte und bearbeitete.
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Vorwort 9
1. Einleitung 13
1.1 Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Zur Situation des jüdischen Bürgertums um 1900 15
1.2 Fragestellung und theoretische Überlegungen 19
1.3 Forschungsstand 34
1.4 Quellen und Quellenzugriff 39
1.5 Aufbau und Forschungsdesign 42
2. Dimensionen jüdischer Sozialpolitik – Geschichte und Räume 45
2.1 Wohltätigkeit im Judentum von Zedaka bis zentralisierter Wohlfahrt 45
2.2 Wohlfahrtspraktiken im Raum – Shtot, Hafen und Zentralität 53
2.3 Drei Zentren jüdisch-sozialen Engagements 56
2.3.1 Berlin – Urbanität und soziale Herausforderungen 56
2.3.2 Frankfurt am Main – Tradition, Wandel und Stiftungswesen 66
2.3.3 Hamburg – Bürgerliches Selbstbewusstsein und Transitmigration 75
3. Koordinaten des wissenschaftlichen Diskurses
über die Zukunft der Juden 84
3.1 'Jüdische' Wege in die akademische Bildung 84
3.2 Die Genese des jüdisch-wissenschaftlichen Diskurses
über die 'jüdische' Rasse, Pathologien und Demografie 88
3.3 Jüdische Wissenschaftler und Rassenbiologie – Probleme um Backshadowing und Pseudowissenschaft 93
3.4 Die zionistische Prägung der jüdischen Bio- und Sozialwissenschaften 98
3.5 Drei Schlüsselpersonen der Forschung
über die Zukunft der Juden 100
3.6 Der diskursive Hintergrund – Rasse, Degeneration und Vererbung 107
4. Zukunft als 'Schwächlinge' oder 'Normalmenschen'? – Jüdische Sozialpolitik und Wissenschaft über jüdische Psyche und Körper 112
4.1 Zur Geschichte von jüdischer Gesundheitspolitik und Medizin 112
4.2 Theoretische Überlegungen zu jüdischer Gesundheitspolitik und Medizin 120
4.3 Vom Beginn und vom Ende des Lebens – Nachkommenschaft als Garantin für die jüdische Zukunft? 123
4.4 Erzählungen über physiologische Stärke und Schwäche – 'Jüdische' Körper als Arbeitsfeld von jüdischer Fürsorge und Forschung 136
4.5 Tatkräftige und wehrhafte Männer – Jüdische Interventionen
zur Stärkung von jüdischer Arbeitskraft und Militärfähigkeit 149
4.6 Konstruktionen psychischer Stärke und Schwäche zwischen wissenschaftlicher Fixierung und sozialpolitischem Tabu 160
4.7 Zwischenfazit 169
5. Platzierung in Gemeinschaft, Positionierung in Gesellschaft – Jüdische Berufsstatistik, Berufsfürsorge und Zukunft 172
5.1 Zur Geschichte der jüdischen Berufsfürsorge und Berufsstatistik 172
5.2 Theoretische Überlegungen zur jüdischen Berufsfürsorge und Berufsstatistik 181
5.3 Berufsfürsorge auf Abwegen – Die Ausbildung jüdischer Mädchen zwischen Monetarisierung und Gemeinschaftsstärkung 183
5.4 Distanz und Nähe – Verortungen jüdischer Berufsfürsorge in der Gesellschaftshierarchie 198
5.5 Bekämpfung der Arbeitslosigkeit oder der Judenfeindschaft? – Jüdische Berufsfürsorge und Antisemitismus 209
5.6 Ein neues 'Dorfjudentum'? – Jüdische Wissenschaftler über den Sinn der Berufsumschichtung in Zeiten von Industrialisierung und Urbanisierung 218
5.7 Zwischenfazit 229
6. Jüdische Gemeinschaft in Zukunft – Demografische Observation und Community building 233
6.1 Zur Geschichte von jüdischer Demografie und Wandererfürsorge 233
6.2 Theoretische Überlegungen zu jüdischer Demografie und Wandererfürsorge 239
6.3 Die 'Fundamente unserer Zukunft erschüttert' – Mischehe und Konversion als Bedrohung jüdischer Gemeinschaft 242
6.4 'Untergang der deutschen Juden'? – Jüdische Wissenschaftler über demografische Tendenzen in der jüdischen Bevölkerung 253
6.5 'Zuzug hemmen' und 'Durchzug fördern' – Die Fürsorge für die durchwandernden Jüdinnen und Juden aus Osteuropa 263
6.6 Die Verstetigung des Transits – Umgangsweisen jüdischer Sozialpolitik mit dauerhafter Einwanderung 272
6.7 Zwischenfazit 284
7. Fazit 287
7.1 Moderne, Tradition und Strategie –
Ergebnisse in drei Kernthesen 290
7.2 Erstes Szenario: Keine jüdische Zukunft in Deutschland 292
7.3 Zweites Szenario: Keine Zukunft in jüdischer Eigenheit 295
7.4 Drittes Szenario: Erhaltung der jüdischen Eigenheit
in Deutschland 298
7.5 Jüdische Zukunft im Kontext –
Forschungsbeitrag und Relevanz 302
8. Quellen und Literatur 308
8.1 Archivalien 308
8.2 Publizierte Quellen 315
8.3 Forschungsliteratur 323
9. Anhang 340
9.1 Abkürzungen 340
9.2 Abbildungen 340


Vorwort
In einer historiografischen Arbeit über Zukunftskonzeptionen und -bearbeitungen deutscher Jüdinnen und Juden im Kaiserreich ausgerechnet die jüdische Demografie, jedoch auch Aspekte der 'jüdischen' Eugenik und 'Rassenbiologie' mit den Maßnahmen jüdischer Sozialpolitik in Verbindung zu setzen, ist mit Einschränkungen ein gewagtes Unternehmen. Ohne hier weiter auf die Erwägungen bei der Wahl dieser Akteursgruppen eingehen zu wollen – das tue ich bereits in der Einleitung – möchte ich meiner Untersuchung daher in aller Kürze ein paar allgemeine Bemerkungen voranstellen. Im Rahmen von Vorträgen auf Konferenzen und bei Kolloquia bin ich häufig auf Erstaunen darüber gestoßen, dass jüdische Wissenschaftler sich an Debatten über Rassenbiologie und Eugenik beteiligt haben. Der Umstand, dass sich Mediziner und Demografen jüdischer Herkunft innerhalb eines diskursiven Rahmens, der später unter anderem die Schoah mitermöglicht hat, bewegt haben, erschien meinen Gesprächspartnerinnen und -partnern oft schwer nachvollziehbar.
Gleichzeitig wurde mir auch immer wieder angetragen, dass doch der Antisemitismus die wesentliche Koordinate gewesen sein müsste, an dem die jüdischen Akteurinnen und Akteure in Wissenschaft wie Sozialpolitik ihr Handeln ausgerichtet hätten.
Beide Einwände haben selbstredend ihre Berechtigung und ich habe dahingehende Gespräche als Möglichkeit begriffen, das Forschungskonzept meiner Arbeit zu schärfen und auszubauen. Am Ende meines Forschungsprozesses bin ich zuversichtlich, gezeigt zu haben, dass es unabdingbar ist, das jüdische Bürgertum des deutschen Kaiserreiches in den aus seiner Perspektive prinzipiell offenen Zukunftsperspektiven ernstzunehmen. Der Antisemitismus und in heutigen Begriffen rassistische Denkstile waren dabei sicherlich bedeutende Faktoren, die das Handeln der jüdischen Akteurinnen und Akteure beeinflusst haben und auch die Geschichte des europäischen Judentums in katastrophaler Weise geprägt haben. Doch ist es im Sinne der Empathie und einer nicht teleologischen verengten Geschichtsschreibung geboten, mit den Akteurinnen und Akteuren gemeinsam ein Wagnis einzugehen: Einen möglichst unverstellten Blick in die vergangene Zukunft.

Ein paar Worte noch zur Sprache dieser Arbeit: Die Ausdrucksweise, in der sich die hier untersuchten Wissenschaftler und zum Teil auch die sozialpolitisch Engagierten geäußert haben, erscheint aus heutiger Perspektive höchst befremdlich, ist aber im Kontext wissenschaftlicher und sozialpolitischer Diskurse um die Jahrhundertwende zu lesen und zu analysieren. Die Tatsache, dass Menschen jüdischer Herkunft den Sprachstil dieser zeitgenössischen Diskurse verwendeten und sogar gezielt nutzten, um ihre Zukunftsperspektiven zu konzipieren, ist erwartbar, wenn man zeitgenössische Diskurse in ihren zahlreichen politischen und forschungsbezogenen Facetten anerkennt und analysiert.
Wie es die methodologische Lauterkeit historiografischer Forschung gebietet, habe ich in der Arbeit darauf geachtet, Distanz zur Quellensprache zu wahren. Denn insbesondere wenn es darum geht, eine wissenschaftliche Debatte nachzuvollziehen, die nach heutigen Kriterien ausgesprochen problematisch ist, ist ein bewusster Umgang mit dem eigenen wissenschaftlichen Duktus unabdingbar. In der Praxis bedeutete dies oftmals, einen Kompromiss zwischen guter Lesbarkeit und klarer Abgrenzung zu finden. An den Stellen, an denen dies weniger gut gelungen sein mag, bitte ich um Nachsicht.

Diese Arbeit wäre ohne die inhaltliche, finanzielle, moralische und emotionale Unterstützung einer Reihe von Personen und Institutionen nicht zustande gekommen, so dass eine Danksagung nur lückenhaft bleiben kann. Am Ende des Prozesses kann ich auf eine schier unübersehbare Zahl vieler Momente der Inspiration, kleiner hilfreicher Bemerkungen und ermutigender Worte zurückblicken – sei es in abendlicher Runde mit Freundinnen und Familie, beim Mittagessen in der Mensa oder beim Spaziergang im Park.
Einigen Menschen und Einrichtungen gilt selbstredend besonderer Dank: Zunächst möchte ich meinen beiden Promotionsbetreuern Achim Landwehr und Frank Becker sehr herzlich danken, die mein Projekt mit wertvollem Rat und stetem Interesse in zugewandter Weise begleitet haben.
Für bereichernden und konstruktiven Austausch danke ich ferner Nicolas Berg, Verena Dohrn, Philipp Lehnhard, Stefan Rohrbacher, Ann-Christin Saß, Ute Schneider, Falk Wiesemann, und schließlich Anke Hilbrenner für ihre Beratung rund um die Promotion in allen Lebenslagen.
Diese Arbeit ist mitgeprägt durch die theoretisch-methodologischen Debatten im Graduiertenkolleg 1919 Vorsicht – Voraussicht – Vorhersage – Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln, in dem ich seit 2013 assoziiert bin. Allen Mitgliedern des Kollegs möchte ich für den intensiven Austausch, die Kritik und die Anregungen danken, die dem Projekt einen wesentlichen Anstrich verliehen haben. Nicht zuletzt wurden durch die finanzielle Förderung des Graduiertenkolleg auch Forschungsaufenthalte in Jerusalem, Berlin und Potsdam ermöglicht, wofür ich mich an dieser Stelle bedanken möchte.
Irmtraud Götz von Olenhusen und Stefan Rohrbacher werde ich mich für die Möglichkeit mit der Arbeit an ihren jeweiligen Instituten nicht nur wertvolle wissenschaftliche und lehrpraktische Erfahrungen zu sammeln, sondern auch die Promotion in einem ökonomisch gesicherten Rahmen voranzutreiben, immer verbunden fühlen.
Danken möchte ich außerdem meinen Kolleginnen und Kollegen insbesondere des Institute für Geschichtswissenschaften und für Jüdische Studien an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, die mich auf dem Weg durch die Promotion unterstützt haben durch wissenschaftlichen Austausch, moralische Unterstützung und eine gute Portion Humor.
Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Archive, in denen ich gearbeitet habe, danke ich für die durchweg hilfsbereite und freundliche Unterstützung. Besonderer Dank gilt Sabine Hank und Barbara Welker vom Archiv Centrum Judaicum (Berlin), für ihre unerschöpfliche Versorgung mit Archivmaterial und netten Gesprächen am Mikrofilmgerät und beim Mittagessen.
Für die Durchsicht der einzelnen Kapitel und die persönliche Unterstützung danke ich Katrin Gillißen, Nina Göddertz, Nicole Grothe, Frank Meier und Helmut Schneider.
Meine Mutter Regine Michaelis war mir besonders in den letzten Monaten der Promotionsphase eine große Hilfe, indem sie mich im Privaten unterstützt und mir den Rücken frei gehalten hat.
Meinem Mann David Schneider danke ich von Herzen für seine vielfältige Unterstützung und seine liebevolle Geduld und seinen großen Humor, aber auch für den alltäglichen inhaltlichen Austausch zwischen Tür und Angel. Mein Sohn Nathan hat mich – wenn auch unbeabsichtigt – in der letzten Phase der Fertigstellung immer wieder daran erinnert, dass es ein Leben jenseits der Doktorarbeit gibt. Die damit verbundenen zahlreichen Unterbrechungen von der Schreibtischarbeit haben die letzten Meter bis zur Abgabe und zur Verteidigung wenn auch gelegentlich verlangsamt, so doch erheblich versüßt.
Dem Graduiertenkolleg 1919 Vorsicht – Voraussicht – Vorhersage – Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen und der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf danke ich für die Unterstützung durch Druckkostenzuschüsse. Dem Campus Verlag, insbesondere Jürgen Hotz, danke ich für die gute Zusammenarbeit.

Anna Michaelis, Juli 2019

1. Einleitung
Im Juni 1910 gab der jüdische Soziologe Arthur Ruppin in der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (ZDSJ) eine klare Prognose für die Zukunft des deutschen Judentums aus – entweder es realisiere die zionistische Utopie eines jüdischen Staates oder es sei zum Untergang verdammt:
'Die Divination Theodor Herzl’s [!] dürfte zurecht bestehen, daß, wenn es dem Judenvolke gelingen wird, sein Schicksal in der Tendenz des Zionismus zu entscheiden, es kraft seiner hohen Anlagen einer neuen für sich und der gesamten Menschheit wertvollen Ära entgegenblicken darf. Es ist allerdings sehr zweifelhaft, ob der Zionismus und das mit ihm verbundene Streben zur Reinerhaltung der jüdischen Rasse sich durchsetzen werden. Die in der Gegenwart herrschenden Tendenzen deuten vielmehr darauf hin, daß das jüdische Volk durch Taufe und Mischehe unter den anderen Völkern aufgeht und daß damit auch seine hohe Rassenbegabung verloren gehen wird. Die Beweisführung, daß die jüdischen Rasse einen hohen Kulturwert besitze, hat unter diesen Umständen nur den Wert einer Grabschrift, die die Verdienste des Entschlafenen aufzählt.'
Diese vor dem Hintergrund rassenbiologischer Konzepte der Zeit getroffene Einschätzung demonstriert nicht etwa die Tendenz zur Schwarz-malerei eines unverbesserlichen Pessimisten, sondern stammt vielmehr aus der Hochphase eines Diskurses innerhalb des deutschen Judentums, der die Zukunft der Juden im deutschen Kaiserreich problematisierte, sie teilweise sogar zur Disposition stellte. Solcherlei von jüdischen Demografen, Soziologen und Medizinern geführten Debatten standen neben und teilweise in Verbindung mit sozialpolitischen Aktivitäten deutscher Jüdinnen und Juden, die sich ebenfalls durch einen stark zukunftsorientierten Zugriff auszeichneten.
In der vorliegenden Studie wird untersucht, auf welche Weise deutsche Jüdinnen und Juden mit bürgerlichem Hintergrund ihre Zukunft im späten Kaiserreich (1890–1917) konstruierten und bearbeiteten. Dabei werden sozialpolitische Praktiken und wissenschaftliche Diskurse als wesentliche Ansatzpunkte von Zukunftshandeln und -konzeptionen in den Blick genommen und in Beziehung zueinander gesetzt. Damit wird die Blick-richtung weggelenkt von der notorischen Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz einer deutsch-jüdischen Symbiose im Kaiserreich hin zur Untersuchung zeitlicher Bezüge in jüdischen Zugehörigkeitskonstruktionen in Bezug auf die nichtjüdische Umwelt und mit Blick auf nach innen gerichtete Vergemeinschaftungsprozesse.

1.1 Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Zur Situation des jüdischen Bürgertums um 1900
Die deutschen Jüdinnen und Juden des Kaiserreichs und die ihnen unmittelbar vorhergehenden Generationen hatten infolge der jüdischen Aufklärung (Haskala ) und ihrer gesetzlichen Emanzipation 1871 sowohl einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg als auch eine beträchtliche soziale Aufwertung erfahren. Während die Haskala mit ihrem wichtigen Zentrum Berlin zunächst ein Phänomen der jüdischen Oberschicht blieb, so betraf die 1871 weitgehend abgeschlossene gesetzliche Emanzipation die jüdische Bevölkerung in ihrer Gesamtheit.
Im Kaiserreich erlebten bedeutende Teile des deutschen Judentums also eine Phase, wenn nicht absoluter, so doch nie gekannter rechtlicher Sicherheit und wirtschaftlicher Prosperität. Dessen Akkulturationsprozesse wurden innerhalb der deutsch-jüdischen Bevölkerung in mancher Hinsicht problematisiert, in anderer Hinsicht als positives Indiz für eine zunehmende Selbstverständlichkeit und Sicherheit jüdischer Existenz in Deutschland gewertet. Die jüdische Existenz im Kaiserreich war somit eine zutiefst ambivalente Erfahrung, die Jakob Toury als das Schwanken zwischen 'Integrationshoffnung und Isolationsfurcht' beschreibt, und die sich maßgeblich in den Diskursen und Praktiken in jüdischer Wissenschaft und Sozialpolitik niederschlug.
Der massive Wandel in der Alltagswelt der deutsch-jüdischen Gemeinschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts ging einher mit neuen Gefahren: Zum einen sanken seit den 1870er Jahren die Geburtenraten der jüdischen Bevölkerung signifikant von im Schnitt 4,3 Kinder pro jüdischer Familie zu Beginn der 1870er Jahre auf 2,4 Kinder pro Familie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig gingen Jüdinnen und zuvörderst Juden immer häufiger jüdisch-christliche 'Mischehen' ein, was von jüdischen Beobachtern als demografische Bedrohung eingeordnet und als Verunsicherung der deutsch-jüdischen Gemeinschaft wahrgenommen wurde. Der Anteil der interreligiösen Ehen an der Gesamtzahl der Ehen, die preußische Jüdinnen und Juden schlossen, stieg zwischen 1876 und 1910 von 4,4 auf 13,2, bis 1920 sogar auf 20,8 Prozent.
Nicht zuletzt trug auch die Ein- und Durchwanderung (nach Übersee) von insgesamt etwa zwei Millionen osteuropäischen Juden in der Zeit von 1880 bis 1914 zu einer sozio-kulturellen Verunsicherung innerhalb der deutsch-jüdischen Bevölkerung bei. Insgesamt ließen sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs etwa 78.000 osteuropäische Jüdinnen und Juden, die aufgrund mehrerer antijüdischer Pogromwellen in Osteuropa zu Beginn der 1880er Jahre bzw. um das Jahr 1905 und aufgrund allgemeiner wirtschaftlicher Not aus ihren Heimatländern ausgewandert waren, dauerhaft in Deutschland nieder. Angesichts dieses geringen Anteils langfristiger Ansiedlung an der gesamten osteuropäisch-jüdischen Migration wird deutlich, dass die hohe Aufmerksamkeit, die sozial engagierte Jüdinnen und Juden ihr zukommen ließen, nicht nur philanthropische Wurzeln hatte: Der moderne Antisemitismus bedeutete eine neue Qualität der Judenfeindschaft, die mit ihrer rassistisch-biologistisch begründeten Ablehnung viel weitreichendere Implikationen hatte als der religiös-xenophob motivierte Antijudaismus.
Der demografische Wandel, die jüdische Migrationsbewegung aus Osteuropa und der Antisemitismus trugen also dazu bei, dass breite Teile der jüdischen Bevölkerung ihre Zukunft zur Disposition gestellt sahen. Der Umstand, dass deutsche Jüdinnen und Juden Veränderungen in ihrer Bevölkerungsstruktur überhaupt als Problem wahrnahmen und in demografische und eugenische Bedrohungsszenerien transformierten, wurde maßgeblich ermöglicht durch den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs im 'nervösen Zeitalter' um die Jahrhundertwende. Vorstellungen über einen drohenden demografischen und kulturellen Niedergang waren freilich geprägt einerseits durch Verwissenschaftlichungsprozesse und die Weiterentwicklung der Statistik und andererseits durch kulturpessimistische Tendenzen. Diese Wissensproduktion fand seit den 1890er Jahren des Deutschen Kaiserreiches auch in Bezug auf die jüdische Minderheit statt und erreichte in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Sie befasste sich mit Fragen der Rassenhygiene und Sexualität, Degenerationsszenarien und vorgeblichen zeit- und gruppenspezifischen Pathologien.
An diesem Diskurs waren sowohl jüdische als auch nichtjüdische Wissenschaftler beteiligt, obgleich nicht stets als Kontrahenten, entstanden allerdings häufig Konstellationen, in denen letztere antisemitische Positionen vertraten, die erstere zu widerlegen suchten. Allerdings hatten das wissenschaftliche und öffentliche Reden und Schreiben über Rasse, Sexualität und Pathologien auch spezifisch jüdische Dimensionen, die sich nicht unter den allgemeinen Diskurs subsumieren lassen. In diesem innerjüdisch orientierten Diskursstrang beschäftigten sich jüdische Eugeniker, Rassenforscher, Soziologen und Demografen letztendlich mit der Frage, wie die Zukunft der jüdischen Bevölkerung, in oder außerhalb Deutschlands aussehen würde.
Neben den wissenschaftlichen Konstruktionen von Zukunftsszenarien und entsprechenden Handlungsempfehlungen für die Absicherung der Zukunft versteht diese Untersuchung auch sozialpolitische Interventionen in die Lebensgestaltung in Deutschland lebender Jüdinnen und Juden als Strategien zur Zukunftsgestaltung. Wohltätiges Engagement, insbesondere im sozialen Bereich, hat eine lange Tradition im Judentum und erstreckte sich in Europa seit der Emanzipationszeit sowohl auf die jüdische Gemeinschaft als auch auf die Gesamtgesellschaft.


Anna Michaelis ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jüdische Studien der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.


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