Noël / Noe¨l | Noël, J: Was für ein Wunder | Buch | 978-3-940435-32-3 | sack.de

Buch, Deutsch, 119 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm

Noël / Noe¨l

Noël, J: Was für ein Wunder

Buch, Deutsch, 119 Seiten, Format (B × H): 135 mm x 215 mm

ISBN: 978-3-940435-32-3
Verlag: litradukt


Port-au-Prince, 12. Januar 2010, Tag des verheerenden Erdbebens in Haiti, das sich dieses Jahr zum zehnten Mal jährt. Ein Überlebender, der sich Bernard nennt, begegnet Amore, einer Neapolitanerin, die für eine NGO arbeitet. Liebe auf den ersten Blick. Um dem Chaos der zerstörten Stadt zu entkommen und um Bernard zu helfen, schlägt Amore ihm eine Reise nach Rom vor. Ein poetischer Roman voll bissigem Humor über Liebe, Sex, Verwirrung, Irrsinn und die absurden Seiten der internationalen Hilfe in einer rhythmischen, magisch-kreativen Sprache, der seinen Titel zu Recht trägt.
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Zielgruppe


Leser mit Interesse an Haiti, Karibik, internationaler Hilfe

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[AUF DEM ROLLFELD]
Damals war ich völlig verstimmt. Ich war so dermaßen verstimmt, dass ich nicht einmal wusste, welcher Tag war, welcher Monat, welches Jahr oder welches Jahr in welchem Monat. Wo befinden wir uns?
»Im Irrenhaus des Jahrhunderts. Deine Eier haben noch lange nicht alle Glocken, geschweige denn das letzte Stündlein geschlagen, du Wichser …«, knallte mir ein Unbekannter, dem ich auf dem Rollfeld des Flughafens Toussaint-Louverture über den Weg lief, an den Kopf. Ein Unbekannter, der einen Schnauzbart trug wie einen schwarzen Urteilsspruch, wie eine
schonungslose Wahrheit. Ich kenne den Mann doch gar nicht. Wieso beleidigt er mich, ich habe mich doch eben nur gefragt, wo ich eigentlich bin, beziehungsweise habe versucht, meine eigene Stimme in dem ganzen Gewirr hier ausfindig zu machen? Wo sind wir gerade?
Der Himmel über dem Flughafen Toussaint-Louverture ist von Flugzeugen zerschrammt. Seit einem Monat und ein paar
Gequetschten landen hier ohne Unterlass Maschinen und fliegen wieder ab. Da die Dinger aus allen vier Ecken der Welt kommen, um Hilfe für die Millionen von der Katastrophe Heimgesuchten einzufliegen, ergibt das einen wahren Geräuschmix aus dem Klang sanft abhebender Maschinen und dem Lärm so manch notlandenden Fliegers. Ein Lautgewuchere, in das sich das Kommen und Gehen der Reisenden mischt, die von einem Ende der Welt zum nächsten eintreffen, eine sich aus der Luft lösende Lautlawine: »Das große Konzert der Nationen«.
Eins ist sicher: Ich wusste weder, welcher Tag, noch welcher Monat, noch welches Jahr in welchem Monat war. Böse Zungen behaupteten, ich hätte meinen Kalender verschludert, die Jungs meinten, ich hätte die Orientierung verloren. Sieben Jahre schon! Der Raum eines in der Erinnerung versunkenen Schmetterlingflügelschlags, der im Ohr rauschte. Verdammte sieben Jahre! Die zu Staub zerfallene Zeit, verpulvert unter dem Flügelabdruck eines im Kalender zerdrückten Viechs.
Das große Beben, der fiese Feinschmecker, das Vieh Vieh Vieh Vielfraß, der Goudougoudou Gourmand, er hat in mir wohl alles durcheinandergebracht, ich verwechsle alles, heule, obwohl es in dieser Stadt gar nicht gern gesehen ist, dass ein Mann heult. Ich heule ohne jeden Grund los, maule ohne jeden Grund. Belle ganz grundlos los, wie ein Hund. Gleichzeitig und im Gegenzug bin ich geil, bin völlig geil auf diesem Flughafen unterwegs, ohne jeden Grund. Persönlich gesehen wollte ich gar nicht weg, ich wollte diese Reise selbst gar nicht. Doch mein bestes Stück schien seit Monaten schon ganz unabhängig von mir reiselustig zu sein. Wie besessen schwingen Lust und Elend des Körpers im Chaos mit.
Entregelung aller Sinne. Die Verleumdungs- und Sturmlosbrecher bezeichnen mich als Wortwichser. Es ist immer das
Gleiche, wenn man versucht, seinen eigenen Weg zu gehen. Da in meiner Nähe nie eine Frau zu sichten ist, bezeichnet man mich als Wortwichser, als einen Nachtmalocher, der seltsamer Handarbeit nachgeht und dann Spuren auf dem Laken hinterlässt. Jetzt aber, wo die bösen Zungen schließlich doch eine Frau erblicken, und dazu noch eine gertenlange Schönheit mit Beinen, die nur so auf die Stadt herunterschauten, jetzt, wo diese Schlangen die Anwesenheit von Amore gewittert haben, ja, da träumen sie nur noch davon, ihre Schlangenzunge in ihr Ohr zu züngeln, um sie zu Fall zu bringen oder schlicht umzulegen und mit ihrem Drecksschlangengift zu vergiften.
Ich habe mit der Entregelung aller Sinne zu tun gehabt. Hör-, Seh-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Amore, die ich
eben erst kennengelernt habe, legt mir nahe, sie nach Italien zu begleiten. Italien aber ist, soweit ich weiß, ein Land, das wegen nichts und wieder nichts zu beben beginnt. Ich halte dieses Land für ein schreckhaftes Pferd, das hier einen Fußtritt setzt, dort mit dem Huf ausschlägt. Ein Pferd mit den Komplexen eines miesen Fußballspielers …
Du bist dran. Amore geht in sich.
»Ich gebe zu, dass wir auf Fußball stehen, Bernard. Wenn du so willst, stehen wir auf ziemlich viel Zeug. Und manchmal kommen wir eben ins Beben, ja, wirklich, Italien versteht sich aufs Beben.«
Die Worte von Amore laden mich nicht gerade zum Träumen ein. Nicht einmal eine Kopfreise bescheren sie mir. Sie bestätigen bislang bloß meine gesamten Alpträume.
»Was meinst du, wie das wohl rüberkommt, wenn ein Mensch ein Erdbeben in seinem Land überlebt, um dann im Ausland an einer ähnlichen Katastrophe zu verenden. Ich wäre der hinterallerletzte Trottel. So ein Ende würde auf der ganzen Welt tosenden Beifall auslösen, meine Landsleute selbst im allerletzten Winkel, im hinterallerletzten Loch, würden sich in die Hosen machen vor Lachen. Sie würden sich von Nord bis Süd, von Ost bis West in die Hosen machen. Ich bin doch nicht auf die Welt gekommen, damit ein dahergelaufener Buckel sich über mich totlacht. Das wirst du bestimmt verstehen,
Amore …«
»Lass es dir in Ruhe durch den Kopf gehen, Bernard. Bestimmt täte es dir gut, rauszukommen … Deine Freunde sind übrigens alle weg, zack auf die andere Seite, Zeilensprung, Friede ihrer Seele. Es ist Zeit zu gehen, Luft holen ist angesagt. Lass uns morgen nochmal sprechen, Bernard.«
»Abgemacht. Morgen ist ein neuer Tag.«


James Noël, geboren 1978 in Hinche, Haiti, wurde durch das kreolische Gedicht "Bon nouvèl", ins Französische übertragen von Georges Castera und vertont von Wooly Saint-Louis Jean, praktisch über Nacht berühmt. Dank Gedichtbänden wie "Poèmes à double tranchant" (2005), "Le sang visible du vitrier" (2009) oder "Le Pyromane adolescent" (2013) gehört er heute zu den wichtigsten haitianischen Gegenwartslyrikern. Im Januar 2018 schrieb er einen vielbeachteten offenen Brief an Donald Trump, nachdem dieser mehrere Länder, darunter Haiti, als "shithole countries" bezeichnet hatte. Im selben Jahr erschien bei Litradukt unter dem Titel "Die größte der Raubkatzen?/?Le plus grand des félins" eine Auswahl seiner Gedichte in einer zweisprachigen Ausgabe. Was für ein Wunder ist James Noëls erster Roman.


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