Precht | Die Instrumente des Herrn Jørgensen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

Precht Die Instrumente des Herrn Jørgensen

Roman

E-Book, Deutsch, 576 Seiten

ISBN: 978-3-641-19763-6
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein Buch über die Ordnung der Welt, die Macht der Phantasie und die Tragikomik des Lebens
Lilleø, eine kleine dänische Insel in der Ostsee: Für einen Sommer ist Kriminalassistent Ansgar Jørgensen auf das idyllische Eiland versetzt worden, um die Provinz kennenzulernen. Doch bereits am Tag seiner Ankunft wird er mit einem mysteriösen Todesfall konfrontiert - und der ist nicht das einzige Rätsel, das die malerische Kulisse verbirgt. Je tiefer Jørgensen in die dunkle Geschichte der Insel eindringt, desto verstörender ist das, was er entdeckt ...Ursprünglich unter dem Titel 'Das Schiff im Noor' erschienen, jetzt in überarbeiteter Neuausgabe.

Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.
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Kalle Erik Karlsson war ein alter Bekannter der Polizei in Grølleborg. Schwedischer Abstammung und somit dem Erbe verfallen, alkoholischen Getränken gegenüber noch ein wenig aufgeschlossener zu sein als der Rest der skandinavischen Welt, klaute, trickste und trank sich Karlsson, wie amtlich vermerkt wurde, seit seinem 16. Lebensjahr – und das lag immerhin schon 30 Jahre zurück – durch Grølleborg und Umgebung. Sein Vorstrafenregister war entsprechend umfangreich, aber seiner Ansicht nach wohl noch unvollständig, und so hatte er am Morgen dieses herrlichen Maitages beschlossen, seinen Radius auszudehnen und endlich mit der Umsetzung einer lang geplanten Tour de Danemark zu beginnen. Doch ähnlich wie beim Brettspiel, hatten die Falschen die richtige Zahl gewürfelt und ihn kurz nach Erreichen des ersten Abschnitts auf seine Startposition zurückgeworfen. Kalle Karlsson ärgerte sich nicht und ergab sich widerstandslos den beiden Wikingern Lars und Erik, die ihren Gefangenen noch am selben Abend nach Grølleborg überführen wollten. Malte schlug den dreien aus dem 112. Distrikt vor, doch erst morgen früh zu fahren und statt dessen dieses köstliche Ereignis hier im Polizeihaus zu feiern, mit Bier und Fleischbällchen. So verlängerte sich Kalle Erik Karlssons Odyssee um einen gemütlichen Abend im roten Backsteinhaus an der Brogade. Und dann saß man zusammen, bei Pfeifenqualm und Bier, während Jørgensen in Schürze mit brutzelnder Pfanne ins Zimmer kam, Malte das Brot brach, Erik und Lars sich zuprosteten und Kalle Karlsson in das Waschbecken seiner gemütlichen kleinen Zelle kotzte. Es wurde viel gesungen an diesem Abend, viel gelacht und noch mehr gegessen und getrunken. Gegen zwei suchte Malte schwankend und vergeblich nach dem Zellenschlüssel, schickte dann achselzuckend Kalle mit dem Gebot ins Bett, die Tür doch bitte bis morgen zehn Uhr geschlossen zu halten. Kalle, schon weit jenseits davon, mit dem Wort ›Tür‹ oder den verschwommenen Gestalten, die ihn umgeisterten, etwas anfangen zu können, seufzte tief durch, sackte auf die Pritsche und schlief bereits. Gegen drei gingen die Lieder zur Neige, das Bier floß nur noch stoßweise. Gegen vier war Malte als einziger noch ein wenig Herr über seine Sinne. Er raffte sich mühsam auf, bastelte aus Teppichen und Wolldecken ein Nachtlager und verschob die willenlosen Gestalten über den Boden wie Schachfiguren, bis sie strategisch vernünftig positioniert waren. Er deckte Jørgensen zu, öffnete ein Fenster, wankte zur Tür, drehte den Lichtschalter, taumelte die Treppe hoch und stürzte kopfüber in Jørgensens Bett. Während Erik und Lars sich infantil lächelnd in ihre Lederanzüge kuschelten, glitt Jørgensen, begleitet von ein paar zufriedenen Grunzlauten, langsam ins Reich der Träume. Die Sonne sinkt rasch, und ein lauer Wind aus Nordwest weht den leicht fauligen Geruch der Bucht über den Mühlendamm. Ein roter Wolkenstreifen leuchtet vom Horizont in die Dämmerung; eine Möwe schreit wehklagend und begrüßt auf ihre Art die hereinbrechende Dunkelheit. Die Felder auf der anderen Seite des Deiches sind vom Nebel überzogen, von Zeit zu Zeit brüllt in diesem Zwielicht eine Kuh und verkündet damit eine unendliche Stille. Viele hätten diese Einsamkeit gemieden, nicht aber der Mann, der auf dem Damm geht, bisweilen stehenbleibt und über das Meer blickt. Seine Hände sind feucht, und er versucht, sie durch Aneinanderreiben zu trocknen, aber vergeblich, die Luft ist gesättigt mit dem Dunst der Nacht, seine Kleidung klamm und klebt am Körper. Als er etwa die Mitte des Damms erreicht hat, klettert er die Böschung hinunter zum Wasser. Ein wenig nach links noch und der Schlehenbusch steht vor ihm. Geschickt drückt er die Zweige auseinander. Da liegt es, wohlversteckt im Gesträuch. Kurze Zeit später schwimmt das kleine Boot im Wasser, treibt langsam auf das Eiland zu. Stoß um Stoß fährt die große Stange in den schlammigen Meeressand und schiebt das Gefährt vorwärts. Der bleichgesichtige Mond schimmert fahl durchs trübe Wolkenmeer, als der Mann das andere Ufer erreicht, das Boot verankert und auf den Strand springt. Zielstrebig geht er seinen Weg durchs Gestrüpp, an den dunklen Teichen vorbei. Mondlicht spiegelt sich darin, und schwere Dünste erfüllen die Luft. Jetzt steigt der Boden an, und kurz darauf sieht er es vor sich stehen, groß und schön im Abendwind. Er zieht die Flasche mit Wein aus der Manteltasche und setzt sich auf einen Findling. Unter der dunklen Kuppel des Himmels blitzen die Sterne, die Mondgeister hüllen sich in ihre Festgewänder, die Geister des Merkur vertiefen sich in ihre Studien, auf dem Jupiter verlassen sie ihre Betten und wandeln nackt durch die Sphäre der Weisheit. Mit segenduftenden Schwingen zersicheln sie den hellen Tag. Nur auf unserem Erdkörper ist jetzt Nacht. Kein Gequake der Frösche ist mehr zu hören, kein Vogel schreit. Jetzt schläft das Meer, kein Licht glitzert am Horizont. Und während er den Wein in gleichmäßigen langen Zügen trinkt, überfällt auch ihn eine angenehme Müdigkeit. Die Hornhechte
Maren Poulsen hob den Kopf und zwinkerte ihrem Gegenüber freundlich zu. Sie schneuzte in ein großes geblümtes Taschentuch, räusperte sich und fuhr fort, ihre mit monströsen Schnörkeln untermalte Schrift über ein zerknittertes Stück Papier zu ziehen. Jørgensen glaubte nicht richtig verstanden worden zu sein und wiederholte diesmal lauter: »Ich bin Ansgar, Ansgar Jørgensen, ein Kollege von Malte.« Er streckte seine Hand aus. Maren betrachtete sie einen Moment nachdenklich, griff aber dann mit beiden Händen zu und schüttelte sie herzlich. »Du kennst also Malte. Ich bin Maren. Wie geht es Malte, hat er denn keine Lust, mal selbst herzukommen. Was kann ich für dich tun, Ansgar?« Sie tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Tja, also ich …« Maren unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Sag mal, du bist doch …, ja natürlich, wo hab ich denn meine Gedanken? Du bist doch der Kommissar aus Kopenhagen! Willkommen, willkommen.« Maren stand auf und drückte Jørgensen noch einmal herzlich die Hand. »Ich mach uns schnell einen Kaffee.« Jørgensen beobachtete verblüfft, wie die quirlige alte Frau in die andere Ecke des Raumes fegte und eine Kaffeemaschine in Gang setzte. »Weißt du, Ansgar, ich will ja nichts sagen, aber du bist hier schon so was wie eine Berühmtheit.« »Tatsächlich?« »Na ja, also ein echter Kommissar hier auf Lilleø, da machen sich die Leute schon so ihre Gedanken, weißt du. Wieso kommt ein Kommissar nach Lilleø?« »Es kommt kein Kommissar nach Lilleø, sondern nur ein Kriminalassistent, versetzt für fünf Monate.« »Du bist aber bescheiden, Ansgar – möchtest du Milch und Zucker?« »Ja, gerne.« Jørgensen nahm einen tiefen Schluck aus der Tasse. Der Kaffee, den Maren gebrüht hatte, war stark, und das war, angesichts der Zecherei von gestern abend, gut so. Als er am Morgen aufgewacht war, waren Lars, Erik und Kalle schon unterwegs gewesen, und Malte hatte wild gestikulierend vor ihm gestanden, ihm zu erklären versucht, daß vor der Tür im Flur Touristen und Bürger dieser Stadt mit wichtigen Beweggründen ständen und Einlaß begehrten. Es sei nun mal Maltes Beruf, sich um diese Menschen zu kümmern. Mit zwei, drei Handgriffen hatte er die Teppiche wieder verlegt, mit einem vierten Jørgensen und die zerwühlten Wolldecken in die frei gewordene Arrestzelle gestopft. Und da hatte er wie ein krankes Sünderlein mit zerknautschtem, stoppeligen Gesicht gehockt, während Malte die Sorgen und Nöte der Menschen kurierte. Nie war so viel passiert auf Lilleø. Geldbörse und Handtasche geklaut, Fahrrad weg, Schlägerei in der Hafenkneipe, Kinder hatten einen angefahrenen Igel gefunden und so weiter. Die Luft in der Zelle stank nach Schweiß, Urin und Kalles leicht angetrockneter Kotze im Waschbecken. Verzweifelt hatte Jørgensen versucht, das kleine Fenster zu öffnen, hatte es dann nur auf Kipp stellen können, und auf einem Hocker stehend und mit den Händen die Gitterstäbe umkrallend, hatte er wohl eine Stunde lang seine Nase durch den Spalt gesteckt, bis Malte schließlich die Tür wieder geöffnet und ihm mitgeteilt hatte, daß die Luft nun rein sei. Beim Frühstück hatte er ihm dann von dem Schiffahrtsmuseum in Torsdal erzählt und für den Rest des Tages frei gegeben. Jørgensen musterte Marens völlig überfüllten Schreibtisch; sein Blick blieb auf einem eigentümlichen Gegenstand haften, dessen Funktion ihm nicht klar war. »Was ist denn das hier?« »Oh das, das ist ein Sextant. Ist dir der Kaffee stark genug? Ein bemerkenswertes Exemplar. Ich habe nachgeguckt, er könnte tatsächlich noch aus dem 18. Jahrhundert stammen.« Jørgensen trank einen Schluck und strich mit der Hand über das korrodierte Messing; an einigen Stellen klebten Sandreste. »Und wozu braucht man so was?« »Der Sextant ist ein Instrument für die Seefahrt. Man braucht ihn zur Navigation. Du peilst zwei Punkte an, zum Beispiel Sonne und Horizont und kannst so aus dem Winkel, der Uhrzeit und den Tabellen der nautischen Jahrbücher deine eigene Position bestimmen.« Maren hob den Sextanten vors Gesicht. »Ich peile zum Beispiel die beiden Masten da draußen an, schau her, da drüben durchs Fenster …« Sie drehte sich ruckartig im Kreis. Jørgensen wich zurück und stieß sich dabei den Kopf an...


Precht, Richard David
Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.


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