Buch, Deutsch, 80 Seiten, GB, Format (B × H): 138 mm x 222 mm, Gewicht: 245 g
Buch, Deutsch, 80 Seiten, GB, Format (B × H): 138 mm x 222 mm, Gewicht: 245 g
ISBN: 978-3-9523550-2-2
Verlag: PEARLBOOKSEDITION
Hélène Rumer gewährt uns einen diskreten Einblick in die Intimität eines Paares, bei dem Schweigen und Schläge seit langem Einzug gehalten haben. Mit klaren, treffenden Worten schildert die Autorin die Gefühlswelt der Beteiligten und beschreibt das komplexe Universum der ehelichen Gewalt, in dem sich Unausgesprochenes und still Erduldetes zu einer zerstörerischen Mixtur verquicken.
Zielgruppe
Frauen allgemein. Mitarbeitende Frauenzentren. Betroffene Männer.
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Sie hatte die Tür hinter sich zugeschlagen, als wäre es ein neuer Reflex. Gelassen ging sie mit sicheren, entschlossenen Schritten Richtung Innenstadt und gelangte zum Park, durch die Wohnviertel mit ihren großen, prächtigen Bauten aus dem neunzehnten Jahrhundert, die bald hinter hohen, grauen Mauern, bald hinter bedrohlich düsteren Torgittern emporragten. Sie schob den Kinderwagen ungestüm vor sich her, ohne auf die Unebenheiten des Bodens zu achten. Das holprige Pflaster versetzte ihrer kleinen Tochter heftige Stöße. Die arme Marie war von ihrer Mutter fast schon in den Wagen geworfen worden.
Ueber den jahrhundertealten, majestätischen Bäumen des Parks trieb ein heimtückischer Wind dicke, blaugraue Regenwolken vor sich her. Die Äste gaben der unsichtbaren Kraft nach, und das Grün der Blätter wurde plötzlich zu diesem silbrigen Weiß, das einen Wolkenbruch ankündigt. Doch der Regen blieb aus. In diesem Augenblick konnten Marie und ihre Mutter wieder ungehindert atmen, ihre Lungen weit werden lassen und mit einer wohltuenden, befreienden Luft füllen. Was kümmerte sie der Wind, der ihnen das Haar zerzauste und ins Gesicht schlug? Sie waren frei! Fernab von den Stürmen der Welt. Sicher vor dem Unaussprechlichen. Die Schreie, die erstickten Tränen, die schweren Seufzer. Einem unbewussten und doch deutlichen Impuls folgend, setzte Flore ihren Weg ins Stadtzentrum fort. Sie wusste genau, wo sich das Gebäude be- fand, obwohl sie es noch nie zuvor betreten hatte. Was hätte sie dort auch gewollt?Es war bald Mittag, sie musste sich beeilen. Flore nahm sich dennoch die Zeit, in einer Bäckerei ein Bauernbrot und drei Schokoladen-Eclairs zu kaufen. Das würde, so dachte sie, ihrer ungeschickten und nicht ganz ungewollten Geste von heute Morgen, der so heftig zugeknallten Tür, die nichts anderes als der Ausdruck ihrer dumpfen Wut war, die Schärfe nehmen.Kurz darauf stand sie vor dem Gebäude, dem Symbol der Ordnung, der Amtsgewalt, der Republik. Sie musste eine mäch- tige, weiße Steintreppe hinaufsteigen, bevor sie zu einem Portal gelangte, vor dem ein wie leblos vor sich hinstarrender Wach- mann postiert war. Mit einer unglaublich kraftvollen Bewegung hob sie den Kinderwagen hoch und erklomm, ohne außerAtem zu geraten, die Stufen, die sie noch vom Eingang trennten. Sie hatte soeben eine unsichtbare Mauer überwunden, einen ersten Schritt getan. Einen Schritt, der lange undenkbar gewesen, nun aber eine Tatsache war. Einen Schritt, der den schwerfälligen Mechanismus eines langwierigen Verfahrens voller unvermeidbarer Fallstricke in Gang setzen würde, an dessen Ausgang jedoch die Rückeroberung einer verlorenen, vergessenen Freiheit stand. Ein Neubeginn zeichnete sich ab.Sie trat ein.Draußen verwehte der Wind das Laub und wirbelte die Blätter in einem sehnsuchtsvollen Reigen umher.