Shalicar | »Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude« | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Shalicar »Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude«

Die Geschichte eines Deutsch-Iraners, der Israeli wurde Autobiografie

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

ISBN: 978-3-423-43898-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Demnächst im Kino: Eine Jugend in Berlin, geprägt von Hip-Hop, Graffiti und Gewalt
Arye Sharuz Shalicar erzählt von seinem Leben im Wedding. Dort ist der Jugendliche mit iranisch-jüdischen Wurzeln konfrontiert mit dem krassen Antisemitismus seiner Mitschüler. Durch Zufall freundet er sich mit Husseyin an, der in der Gang-Hierarchie der Kolonie-Boys weit oben steht. Von nun an hat Shalicar wenig zu befürchten. Er mischt mit bei allem, was in dieser Welt dazugehört: Graffiti sprühen, Schlägereien, Diebstahl und Raub. Nachdem sein Freund Husseyin das Viertel verlassen hat, ist Shalicar wieder ständig antisemitischen Schmähungen und Angriffen ausgesetzt. Er will sich aus der Welt der Gangs befreien, einen anderen Weg einschlagen. Das ist nicht leicht …
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EIN GANZ NORMALER BERLINER JUNGE
Keine noch so brutale Unterdrückung und keine noch so raffinierte Verleumdung wird die Sehenden darüber täuschen, was für geistige und moralische Werte in dem Volk der Juden stecken. Albert Einstein Spandau ist der westlichste Bezirk Berlins. Dort habe ich meine Kindheit verbracht. Es ist eine Stadt für sich. Mit verschiedenen Siedlungsgebieten, riesigen Parkanlagen, langen Wasserstraßen, einem großen Fußballstadion, in dem auch internationale Spiele ausgetragen werden, vielen Schulen und Freizeitheimen und einer netten Mischung von Menschen, die von überall her nach Spandau gezogen sind, um in diesem Bezirk glücklich zu werden. Während der sechs Jahre meiner Grundschulzeit war ich am engsten befreundet mit Erdal, einem Türken, wie ich in Deutschland geboren. Und mit Tim, einem Jungen, dessen Mutter es irgendwie geschafft hatte aus Jena nach Westberlin zu ziehen. Bis heute ist mir nicht wirklich klar, wie ihr das Anfang der 80er-Jahre gelungen war. Tim wohnte nur einige Häuser weiter. In der Grundschule waren wir in derselben Klasse und dort noch mit einigen anderen Jungs, einem Kurden namens Asif, einem Tschechen namens Janos und einem Kroaten, der Mirko hieß, befreundet. Manchmal rief man sich statt mit dem Namen mit dem Land, aus dem die Eltern oder man selbst gekommen waren. Dann hieß Tim Ossi, Mirko wurde Jugo genannt und mich nannten alle gerne Perser, weil meine Eltern aus dem Iran stammen. Unser gemeinsames Hauptanliegen während der ganzen Grundschuljahre waren weder die Mathestunden noch die Englischstunden oder sonst irgendwelche Stunden, sondern die Pausen. Wir alle gingen in den Unterricht nur mit dem einen Gedanken »Wann ist endlich Pause?«. Dann rannten wir alle so schnell wie möglich hinaus, um, wenn auch nur für wenige Minuten, Fußball zu spielen. Nach der Schule ging es weiter mit dem Fußballspielen bis spät in den Abend hinein. In der Grundschule war ich ein durchschnittlicher Schüler. Einer von der Sorte, die sich über jede Freistunde freuen. Am besten fand ich deshalb an meinem Wochenstundenplan, dass ich wöchentlich zwei Freistunden mehr hatte als fast alle Anderen aus meiner Klasse. Alle hatten zwei Mal wöchentlich Religionsunterricht. Alle außer Erdal, Asif, drei türkischen Mädchen und mir. Ich habe das mit Freude so hingenommen. Ich habe nie nachgefragt, wieso ich der kleinen Gruppe von glücklichen Schülern angehörte, die mehr Freizeit hatten als der Großteil der Klasse. Ich vermutete, dass man mich für einen Türken hielt, und aus welchen Gründen auch immer mussten eben Türken diesen Unterricht nicht besuchen. Irgendwann fragte mich meine Klassenlehrerin, wo ich denn eigentlich ursprünglich her sei. Ich war etwas irritiert, doch ich merkte, dass sie wissen wollte, aus welchem Land meine Eltern stammten, und sagte es ihr. Das änderte nichts an meinem Status. Vom Religionsunterricht blieb ich weiterhin ausgeschlossen. Wegen der dunklen Haut, den dunklen Haaren und den dunklen Augen wurde ich anscheinend mit Erdal und Co. in einen Topf geworfen. Dass dieser Unterricht ein christlicher Religionsunterricht war und ich als Nichtchrist davon ausgeschlossen war, wusste ich nicht. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was das Wort Christ bedeutete oder das Wort Religion. Diese beiden Wörter tauchten weder bei mir zu Hause noch auf dem Fußballplatz auf. Vor den Sommerferien war ich immer in Hochstimmung. Mein Ferienprogramm, wenn wir nicht verreisten, bestand darin, jeden einzelnen Tag, egal bei welchem Wetter, den Supersommerferienpass einzustecken und diesen Tag im Gatower Schwimmbad zu verbringen. Dort kannte mich fast jeder. An Weihnachten gab es zu Hause Jahr für Jahr dieselbe merkwürdige Diskussion, aus der ich nie so richtig schlau wurde. Jedes Jahr vor Weihnachten erzählte ich meinen Eltern, dass alle meine Freunde bei sich einen Weihnachtsbaum hatten und Geschenke in Massen bekamen. Das war zumindest der Fall bei Tim, der immer eine lange Liste mit all seinen Wünschen zusammenstellte. Er steckte die Liste in einen Schuh und wartete darauf, vom Weihnachtsmann beschenkt zu werden. Offensichtlich war Tim ein guter Junge, denn er bekam alle Wünsche erfüllt. Das posaunte er jedenfalls herum. Ich war neidisch und ich wollte und konnte nicht verstehen, wieso meine Eltern sich weigerten, auch bei uns zu Hause einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Was war schlimm an einem Tannenbaum mit vielen Lichtern dran? Zu Ostern suchten meine Freunde Eier, was ich sehr lustig fand und auch machen wollte. Also wollte ich, dass meine Eltern ebenfalls bunte Eier versteckten, die wir drei Kinder dann suchen konnten. Es gab jedes Mal ein Riesentheater, weil meine Eltern der Meinung waren, dass das Osterfest, wie auch Weihnachten, nicht unsere Feste seien. Unsere Feste? Ihre Feste? Wenn Weihnachten nicht auch mein Fest ist, fragte ich daraufhin immer, was ist dann unser Fest und was bedeutet das überhaupt, »unser Fest«? Waren wir denn anders als die Anderen? Wenn ja, wie anders? Niemand war bereit, mir meine Fragen richtig zu beantworten. »Gefällt dir dieser Quatsch mit Lichteranzünden und Geschenkekriegen zu Weihnachten wirklich so sehr? Du kriegst auch so genug Geschenke zwischendurch, wieso muss es denn unbedingt zu Weihnachten sein?«, fragte mein Vater. »Weil alle meine Freunde Geschenke zu Weihnachten bekommen und ich nicht einsehe, wieso ich keine bekommen sollte«, antwortete ich. Ganze drei Jahre diskutierte ich mit meinen Eltern – Geschenke zu Weihnachten hin, Geschenke zu Weihnachten her, Weihnachtsbaum hin, Weihnachtsbaum her. Ein schön geschmückter Weihnachtsbaum wie bei allen andern stand nie bei uns zu Hause, doch Geschenke gab es von da ab jedes Jahr und zwar zu Chanukka. Das war anscheinend unser Fest und es fiel auf die Weihnachtszeit. Was genau Chanukka war, wollten sie mir nicht erklären. Tim und Erdal hatten auch keine Ahnung, als ich sie fragte, ob sie wüssten, was Chanukka ist. War mir auch vollkommen egal. Es ging mir eigentlich nur um die Geschenke, die ich von da ab immer bekam. Das reichte mir für die nächsten Jahre. Jetzt konnte auch ich damit angeben, dass ich alle Wünsche erfüllt bekommen hatte. Ich war eben ein kleiner Junge. Kurz vor Abschluss der Grundschule machten wir einen Klassenausflug zur Carlo-Schmid-Oberschule. Alle sechsten Klassen Spandaus waren zu einer Anne-Frank-Ausstellung, die in dieser Schule stattfand, eingeladen. Unsere Klassenlehrerin bereitete uns am Tag vorher auf die Ausstellung vor. Sie erzählte uns, dass die Ausstellung von einem jüdischen Mädchen handelte, das mit seiner Familie zur Zeit des Holocaust Zuflucht im Hinterhaus der Firma ihres Vaters Otto Frank gefunden hatte, und dass Anne Frank ein Tagebuch geschrieben hatte, in dem sie ihr Leben im Versteck beschrieb. Kurz vor Ende der Naziherrschaft wurde sie dann von den Nazis entdeckt und ermordet. Ich war zwölf Jahre alt und ein fanatischer Fußballspieler, der absolut keine Lust hatte, auf irgendwelchen Ausstellungen abzuhängen. Ganz bestimmt war ich nicht begeistert vom Besuch in geschlossenen Räumen an einem netten Sommertag, an dem man ein noch viel netteres Fußballspiel hätte haben können. Auf der Ausstellung lungerte ich mit Tim und Erdal in einer Ecke herum. Es wurde ein Diafilm abgespielt und überall in der Schule waren Bilder und Gegenstände aus der Zeit des Holocaust ausgestellt, die in Verbindung zu Anne Frank standen. Den Film sah ich mir erst gar nicht an und die Bilder nur ganz flüchtig. Betroffen oder angesprochen vom Schicksal der Anne Frank fühlte ich mich nicht. Warum sollte ich als Deutsch-Perser mich dafür interessieren, was in irgendeinem schlimmen Krieg einem Volk widerfahren war, das sich Juden nannte. Das Programm ging bis in den Nachmittag hinein. Das haben Tim, Erdal und ich allerdings erst am nächsten Tag von unserer Lehrerin erfahren. Wir hatten uns nämlich schon gegen Mittag aus dem Staub gemacht, um das Wetter zum Fußballspielen zu nutzen. Unsere Lehrerin war sehr verärgert, dass wir früher als alle anderen die Ausstellung verlassen hatten und so wenig Interesse zeigten. Dass uns ein ganz normales Fußballspiel am Nachmittag wichtiger war als das Schicksal einer Person, die weltweit bekannt wurde mit ihrem Tagebuch. Nach der Standpauke verließen wir ihr Büro und lachten darüber. Was will die Alte überhaupt von uns? Meint die etwa, wir hängen da den ganzen Tag rum und langweilen uns. »Was interessieren uns irgendwelche Juden?« Nach der Grundschule wechselte ich auf das Carl-Friedrich-von-Siemens-Gymnasium in Siemensstadt, das zwischen Spandau und Charlottenburg liegt. Morgens setzte ich mich in die U-Bahn und fuhr die sieben U-Bahn-Stationen zur Schule und am Nachmittag fuhr ich dieselben sieben Stationen wieder zurück, ohne irgendetwas Interessantes gelernt zu haben. Danach ging ich Fußball spielen und am Abend guckte ich Fernsehen. Das ging eine Weile gut, bis dann etwa eine Woche vor Abschluss der 7. Klasse ein blauer Brief bei mir zu Hause auf dem Tisch lag. Darin wurde mit mehr oder weniger netten Worten erklärt, dass mein Notendurchschnitt nicht ausreichte und ich deshalb das Jahr zu wiederholen hätte. Das zweite Mal in der 7. Klasse fühlte ich mich zwar älter und cooler als die »Oberschul-Neulinge«, doch die Noten sahen immer noch schlecht aus. Außerdem stand ich mit meinem frechen Benehmen bei einigen Lehrern auf der Abschussliste. Eine Lehrerin hatte es besonders auf mich abgesehen. Wie schon in der ersten 7. Klasse hatte ich auch in der zweiten die Fächer Erdkunde und Geschichte bei ihr. Und wie schon ein Jahr zuvor wollte sie mir im...


Shalicar, Arye Sharuz
Arye Sharuz Shalicar, geboren 1977 in Göttingen, ist ein deutsch-persisch-israelischer Politologe und Schriftsteller. Als Jugendlicher gründete er im Berliner Wedding Deutschlands berüchtigtste Graffiti-Gang Berlin Crime. Nach dem Abitur machte er seine Grundausbildung bei der Bundeswehr, 2001 wanderte er nach Israel aus. 2002 nahm er an der Hebräischen Universität Jerusalem das Studium für Internationale Beziehungen, Nahostgeschichte und Politik auf, das er 2006 (BA) und 2009 (MA) mit Auszeichnung abschloss. Danach diente er als offizieller Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte und bekleidete zuletzt den Rang eines Majors. Seit Anfang 2017 ist er in leitender Funktion in der israelischen Regierung tätig und schreibt Kolumnen für mehrere Zeitungen. 2018 veröffentlichte Shalicar ›Der neu-deutsche Antisemit – Gehören Juden heute zu Deutschland?‹ Im Mai 2021 wird sein neues Buch ›100 Weisheiten, um das Leben zu meistern, selbst wenn man aus dem Ghetto stammt‹ erscheinen.

Arye Sharuz Shalicar, geboren 1977 in Göttingen, ist ein deutsch-persisch-israelischer Politologe und Schriftsteller. Als Jugendlicher gründete er im Berliner Wedding Deutschlands berüchtigtste Graffiti-Gang Berlin Crime. Nach dem Abitur machte er seine Grundausbildung bei der Bundeswehr, 2001 wanderte er nach Israel aus. 2002 nahm er an der Hebräischen Universität Jerusalem das Studium für Internationale Beziehungen, Nahostgeschichte und Politik auf, das er 2006 (BA) und 2009 (MA) mit Auszeichnung abschloss. Danach diente er als offizieller Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte und bekleidete zuletzt den Rang eines Majors. Seit Anfang 2017 ist er in leitender Funktion in der israelischen Regierung tätig und schreibt Kolumnen für mehrere Zeitungen. 2018 veröffentlichte Shalicar ›Der neu-deutsche Antisemit – Gehören Juden heute zu Deutschland?‹ Im Mai 2021 ist sein neues Buch ›100 Weisheiten, um das Leben zu meistern, selbst wenn man aus dem Ghetto stammt‹ erschienen.


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