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E-Book, Deutsch, 320 Seiten

Thiel Mariss Jansons

Ein leidenschaftliches Leben für die Musik

E-Book, Deutsch, 320 Seiten

ISBN: 978-3-492-99667-9
Verlag: Piper eBooks
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Er war ein Stardirigent. Dennoch kein abgehobener Maestro, sondern ein Kollege auf Augenhöhe. Ein Workaholic, kompromisslos in seiner Liebe zur Musik, mit enorm hohen Ansprüchen an sich selbst, immer mit größter Genauigkeit und Emotionalität bei der Sache. Mariss Jansons verzehrte sich buchstäblich für seine Arbeit. All das machte ihn zum von allen respektierten und geliebten Künstler. Markus Thiel hat bis zu Jansons Tod am 1.12.2019 viele Gespräche mit ihm geführt und legt mit dieser Biografie ein aktuelles und lebendiges Porträt des überragenden Dirigenten vor. Dabei bringt er uns Jansons nicht nur als Musiker, Kulturpolitiker und Interpret nahe, sondern vor allem auch als Mensch.
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Eine zweite Geburt
Vier Takte sind es nur, kurz nachdem das berühmte Motiv erstmals in den Saal gemeißelt wird. Weil es nicht so recht klappt, wie er es sich vorstellt, singt der junge Mann im dunklen Rollkragenpullover mit den leicht zu Berge gekämmten Haaren die Passage einfach vor: »Ta, ta, ta, taaa – ti, ti, ti, tiii – ta, ta, ta, taaa.« Im Piano wandert das Motiv durch die Violinen, wird später von der Viola übernommen, bevor es zum Tutti-Ausbruch kommt. Als ob die Musiker das nicht kennen würden. Unter vielen Dirigenten haben sie die Takte gespielt, mutmaßlich auch unter ihrem aktuellen Chef Lorin Maazel. Sie haben sie in unzähligen Aufnahmen gehört und womöglich auch während der Ausbildung exerziert. Und jetzt steht da dieser 28-Jährige mit dem ernsten Gesicht, der es bei diesem Schlager tatsächlich auf Grundsätzliches abgesehen hat. »Das ist das Wichtigste«, sagt er mit Nachdruck. »Wenn diese drei Takte zusammen sind, dann ist alles in Ordnung. Bitte alles ganz gleich, nicht schneller. Hören Sie aufeinander.« Mariss Jansons erklärt dem Radio-Symphonieorchester Berlin, dem heutigen Deutschen Symphonieorchester Berlin, den Anfang von Beethovens fünfter Symphonie. Mehr noch: Er fordert Präzision, von teils altgedienten Musikern. »Bitte sehr, noch einmal.« Ein Blick übers Orchester hinweg, schräg nach oben, dann mit entschlossener Miene nochmals ein kurzer, fast ansatzloser Auftakt. »Ta, ta, ta, taaa.« Nachhilfe für ein etabliertes Ensemble, auch wenn es vielleicht nicht ganz mithalten kann mit den Philharmonikern derselben Stadt? Jansons darf das, es wird sogar von ihm erwartet. Im September 1971 nimmt er am Herbert-von-Karajan-Dirigentenwettbewerb teil. Schon länger ruht das Auge des Klassikgottes auf ihm, jetzt soll Jansons in Berlin die beträchtlichen Erwartungen erfüllen. Fünf Runden sind angesetzt, teilweise mit extrem schwierigem Repertoire. Für die ersten Durchgänge wurden die späteren Berliner Symphoniker engagiert. In der Jury sitzen Prominente wie der Brite Walter Legge, mächtiger Produzent des Labels EMI und Gründer des Philharmonia Orchestra London, oder der Österreicher Hans Swarowsky, einer der wichtigsten Dirigierlehrer seiner Zeit. Swarowsky notiert im Prüfungsprotokoll über Jansons und seine Interpretationen von Mozart, Beethoven und Strawinsky: »Jupiter gut, fließend unterteilt, teilweise in Triolen. Eroica sehr gut. Sacre sehr gut. Bartók besonders gut.« Sein Gesamturteil: »ursprünglicher Musiker«. Für eine der ersten Runden hat Jansons einen Ausschnitt aus Ravels Daphnis und Chloé vorgeschlagen, womit er aber auf Bedenken stößt: Ein solch heikles Stück sei dafür weniger geeignet, man empfehle daher Beethovens Fünfte. Als eine Art Kompromiss darf Jansons den Ravel im Schlusskonzert des Wettbewerbs dirigieren. Filmaufnahmen vom Herbst 1971 zeigen Jansons nicht nur beim Proben, sondern auch im Konzert. Den kniffligen Übergang vom dritten zum vierten Satz im Beethoven-Opus bewältigt er mit großer Klarheit und höchster Konzentration. Immer wieder kontrollierende Blicke ins Orchester, kein bloßes Taktieren, eine fühlbare Wachheit auf beiden Seiten, ein ständiges Regulieren. Im Schlusskonzert dann Daphnis und Chloé. »Ich war sehr nervös«, erinnerte sich Mariss Jansons später. »Karajan saß im Saal, und ich war mit dem musikalischen Ergebnis meines Dirigats nicht zufrieden. Das, was ich aus dem Werk herausholen wollte, konnte ich nicht zeigen.« Es hat nicht ganz gereicht. Den ersten Platz erringt der polnisch-israelische Dirigent Gabriel Chmura, den zweiten Preis teilen sich Mariss Jansons und der Pole Antoni Wit, Rang drei belegt der Bulgare Emil Tschakarow. Doch das eigentliche, von vielen Wettbewerbsbesuchern und von den Medien wahrgenommene Ereignis ist Jansons. Er gibt zahlreiche Interviews und erhält wohlwollende Kritiken. Er habe den reifsten Eindruck gemacht, heißt es vielfach. »Der Russe Mariss Jansons konnte auch im Konzert mit Beethovens fünfter Symphonie und Daphnis und Chloé brillant bestehen«, hebt ein Fernsehbeitrag hervor. »Ein junger Kenner der Partituren und des Dirigierhandwerks.« Das Berliner Publikum reagiert auf seine Weise, ein Zuhörer spricht in die Kamera: »Der Russe war kolossal.« Bei der Preisverleihung schreitet Herbert von Karajan nochmals aufs Podium, drückt die Schultern seines Eleven mit gönnerhafter Miene. Man ahnt, wer sein eigentlicher Favorit war. Auch für den Hoffnungsträger bedeutet die Geste mehr als eine Silbermedaille, sie kommt einer zweiten Geburt gleich: »Ich war nicht mehr der Sohn von Arvids Jansons«, sagte er später. »Ich war nun Mariss Jansons.« Die erste Geburt ereignet sich 28 Jahre zuvor im lettischen Winter des Jahres 1943. Allerdings nicht wohlbehütet und mit entsprechender medizinischer Versorgung, sondern unter Todesgefahr. Iraida Jansone, Angehörige einer jüdischen Familie, hält sich in Riga versteckt, die Stadt ist von den Deutschen besetzt. Ihr Bruder und ihr Vater wurden bereits von der SS ermordet. Auch sie fürchtet, verhaftet und deportiert zu werden. Am 14. Januar 1943 bringt sie ihren Mariss zur Welt – in einem Land, das kaum mehr existiert. Seit 1941 steht Lettland unter deutscher Besatzung. Doch war das Land bereits vor dem Einmarsch der Wehrmacht vollkommen traumatisiert von einem Jahr sowjetischer Besatzung. Zigtausende Letten wurden nach Sibirien gebracht, es herrschte ein Terrorregime. Die Deutschen werden von vielen als Befreier begrüßt. Manche sehen sie als das kleinere Übel, andere als Verheißung. Die Invasoren aus dem Westen können auch auf Kollaborateure vertrauen. Ob importiert oder im Land schon längst unterschwellig präsent: Ein verheerender Antisemitismus bricht sich Bahn, der für die jüdische Bevölkerung einem Todesurteil gleichkommt. Bis zum Spätherbst 1941 ist die jüdische Gemeinde nahezu ausgelöscht, bei den Massakern im Wald von Rumbula etwa werden fast 30 000 Juden ermordet. Kurz zuvor entsteht in Riga, der sogenannten »Moskauer Vorstadt«, ein Getto, in dem Tausende Juden zusammengepfercht werden. Da auch Deportierte aus dem Westen hier hausen müssen, verschlimmern sich die Wohnverhältnisse drastisch. Das Zusammenleben wird unerträglich. Viele werden daraufhin aus der Stadt in die lettischen Wälder transportiert und getötet. Im Juni 1943, wenige Monate nach Mariss Jansons’ Geburt, verfügt der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, dass auch in Lettland Konzentrationslager entstehen sollen. Das Getto von Riga wird schrittweise aufgelöst. Nur ein kleiner Teil der lettischen Juden kann dem Grauen entkommen, versteckt, geduldet, unterstützt von wohlwollenden Landsleuten. Iraida Jansone und ihr einziges Kind Mariss gehören dazu. Die damals Verfolgte ist mit dem Dirigenten Arvids Jansons verheiratet. Eine Musikerbeziehung: er der geachtete Mann am Dirigentenpult und frühere Geiger im Opernorchester und sie die Mezzosopranistin. Als der Krieg endlich vorüber, jedoch noch längst nicht psychisch bewältigt ist, sind beide am Opernhaus ihrer Heimatstadt Riga engagiert. Einen Babysitter kann und will sich das Paar nicht leisten, allerhöchstens eine Putzfrau, um die Wohnung in Ordnung zu halten. Und so wird der kleine Mariss fast täglich in den Musentempel mitgenommen – was ihm nicht allzu viel auszumachen scheint. Er erforscht die geheimnisvollen dunklen Gänge hinter der Bühne und Garderoben und ist ständig von singenden, tanzenden, spielenden Menschen umgeben. Das Grauen der deutschen Besatzung mag überwunden sein, doch nun führt die Familie ein Leben unter dem Sowjetsystem – und wird bedroht. Mariss erfährt dies bereits im Alter von vier Jahren. Ein KGB-Offizier taucht plötzlich auf, um seine Tante mitzunehmen. »Warum?«, fragt der Junge. Da antwortet der Uniformierte: »Wir gehen ein bisschen spazieren, dann kommt sie zurück.« Die Tante wird nach Sibirien deportiert. Umso mehr bietet die Oper einen Schutzraum, auch eine Flucht aus der Realität. Mariss nimmt die dort aufgeführten Werke in sich auf, anfangs unbewusst, später mit immer größerer Faszination. Wird für Tschaikowskys Schwanensee oder Don Quichotte auf eine Musik von Ludwig Minkus geprobt, tanzt Mariss das Beobachtete später der Putzfrau in der elterlichen Küche vor. Nicht immer zur Begeisterung des Einfraupublikums, Pfannen und Töpfe fallen zu Boden, Teller gehen zu Bruch. Sehr bald schon darf Mariss auch die Aufführungen verfolgen, wobei ihm die Trennung von Fiktion und Realität nicht immer leichtfällt. An einem Abend sitzt der Fünfjährige wieder einmal in der Loge rechts über dem Orchestergraben. Wie so oft steht seine Mutter auf der Bühne, diesmal als Carmen. Wie im Stück vorgesehen, stürzt sich im letzten Akt der Tenor auf sie, es ist Don José in seinem finalen Eifersuchtsanfall mit tödlichen Folgen. »Bitte nicht meine Mutter berühren!«, gellt es plötzlich aus der Loge. Arvids Jansons bringt seinen Sohn weg. Zwischen Mutter und Sohn entwickelt sich – auch weil der Vater durch den Beruf stark gefordert ist – eine besonders innige Beziehung. Die Unterdrückung und Auslöschung der jüdischen Bevölkerung ist kaum ein Thema in der Familie. Noch immer, auch später, grassiert in der Sowjetunion ein schleichender Antisemitismus, manchmal tritt er offen zutage. Empathie, humanitäre Prinzipien, auch religiöse Grundsätze, all das lehrt Iraida Jansone den kleinen Mariss und lebt es ihm vor. Auch strenge Manieren, wie sie im Lettland der damaligen Zeit und in dieser Gesellschaftsschicht üblich waren. In der Schule setzt sich diese Erziehung für das Kind fort. »Wir hatten dort sehr eiserne Regeln, was den mitmenschlichen Umgang betraf«, erinnerte sich Jansons. »Wenn der Lehrer einen etwas fragte,...


Thiel, Markus

Markus Thiel, geboren 1965, ist Musikredakteur beim "Münchner Merkur". Er arbeitet darüber hinaus als Autor für das Magazin "Opernwelt" und ist Jury-Mitglied beim "Preis der deutschen Schallplattenkritik". Mariss Jansons kennt er seit 2003. Er begleitet ihn regelmäßig auch auf Orchestertourneen und hat ihn und seine Arbeit durch viele persönliche Gespräche sehr gut kennengelernt.

Markus Thiel, geboren 1965, ist Musikredakteur beim "Münchner Merkur". Er arbeitet darüber hinaus als Autor für das Magazin "Opernwelt" und ist Jury-Mitglied beim "Preis der deutschen Schallplattenkritik". Mariss Jansons kennt er seit 2003. Er begleitet ihn regelmäßig auch auf Orchestertourneen und hat ihn und seine Arbeit durch viele persönliche Gespräche sehr gut kennengelernt.


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