Villa / Villa-Braslawsky / Moebius | Soziologie der Geburt | Buch | 978-3-593-39525-8 | sack.de

Buch, Deutsch, 243 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 218 mm, Gewicht: 302 g

Villa / Villa-Braslawsky / Moebius

Soziologie der Geburt

Diskurse, Praktiken und Perspektiven

Buch, Deutsch, 243 Seiten, Format (B × H): 144 mm x 218 mm, Gewicht: 302 g

ISBN: 978-3-593-39525-8
Verlag: Campus Verlag GmbH


Der Vorgang der Geburt ist ebenso wie Sterben und Tod kein bloßes bio-physiologisches Phänomen. Geburt ist aufs Engste mit sozialen, politischen und kulturellen Vorstellungen verknüpft und an vielfältige soziale Praktiken und Rituale gebunden. Diese untersuchen die Autorinnen und Autoren mit Blick auf verschiedene Lebensformen und Milieus. Sie fragen, wie Geburt in der Gesellschaft gegenwärtig diskutiert wird und welche Konfliktlinien sich dabei abzeichnen, etwa im Spannungsfeld zwischen Natur und technischen Möglichkeiten. Ein Befund ist, dass Schwangerschaft und Geburt in den letzten Jahren zunehmend einen projektförmigen Charakter angenommen haben. Mit dem Band liegt die erste Studie zur Geburt aus soziologischer Sicht vor.
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Weitere Infos & Material


Inhalt

Soziologie der Geburt: Diskurse, Praktiken und Perspektiven - Einführung 7
Paula-Irene Villa, Stephan Moebius & Barbara Thiessen

Gesellschaftskonstitution durch Geburt - Gesellschaftskonstruktion der Geburt: Zur Theorietechnik einer Soziologie der Geburt 22
Joachim Fischer

Körperhaftigkeit, Erfahrung und Ritual: Geburtsrituale im interkulturellen Vergleich 39
Maya Nadig

Magie und Technik: Moderne Geburt zwischen biografischem Event und kritischem Ereignis 75
Lotte Rose & Ina Schmied-Knittel

Patientinnenautonomie in der Geburtshilfe 101
Dorothea Tegethoff

Die Geburt im Kontext der Zeit kurz davor und danach -
Eine repräsentative empirische Beschreibung der Situation in Deutschland auf der Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) 129
Anita Kottwitz, C. Katharina Spieß & Gert G. Wagner

Das andere Leben im "toten" Körper - Symbolische
Grenzprobleme und Paradoxien von Leben und Tod am Beispiel "hirntoter" Schwangerer 155
Werner Schneider

"I helped to bring them into this world": Geburt,
Leihmutterschaft und Reproduktionsmedizin in
Frozen Angels (2005) 183
Anja Michaelsen

Die Geburt des ersten Kindes: Vom Willen der
DDR-Bevölkerungspolitik zum ›Bedürfnis‹ der ›jungen Frauen‹ 207
Maximilian Schochow

Akademische Geburtshilfe und ihre Folgen am Beispiel des Marburger Accouchierinstituts 227
Marita Metz-Becker

Autorinnen und Autoren 239


Über Geburt soziologisch - durchaus in einem weiten Sinne - zu reflektieren ist ungewöhnlich. Es existieren zwar eine Reihe an anthropologischen, ethnologischen und kulturgeschichtlichen Texten und Studien zu Geburt, zum Beispiel über ethnomedizinische Perspektiven des Gebärens oder über Frau und Geburt im Kulturvergleich (vgl. u. a. Davis-Floyd/Sargent 1997; Gottschalk-Batschkus/Schievenhövel/Sich 1995; Schlumbohm/ Duden/Gelis 1998). Wirft man aber einen Blick in die Geschichte der Soziologie, so ist erstaunlicherweise festzustellen, dass es allgemein an soziologischer Fachliteratur und soziologischer Forschung zum Thema Geburt mangelt. Der blinde Fleck, den die Geburt in der Soziologie darstellt ist umso erstaunlicher, als doch gerade die Geburt sowohl für die Gesellschaft als auch für das Individuum schlicht existenziell ist. Doch zugleich, so lässt sich etwa aus der Geschichte der Thematisierung von Geschlecht, Körper oder Sexualität in der Soziologie begründet vermuten, dürfte genau diese existenzielle Dimension der Grund dafür sein, dass die Soziologie sich schwer mit dem Phänomen Geburt tut. Denn der Logik der Moderne folgend, gelten gebären und geboren werden auch sozialwissenschaftlich als ›natürliche‹ Prozesse - als ›asozial‹ und ahistorisch. Dieses Buch will dazu beitragen, das Gegenteil zu zeigen: Dass nämlich all das, was mit dem wörtlichen ›zur Welt kommen‹ von Menschen zu tun hat, eine genuin gesellschaftliche Dimension enthält. Auch Geburt ist durchtränkt von sozialer Ungleichheit (von den so genannten ›Komplikationsraten‹ über die Risiken für Mutter und Kind und dem Grad der medizinischen Intervention bis hin zu den bevorzugten Modi der Geburt je nach Milieu), konstituiert durch lebensweltliches und Expertenwissen, wird in raumzeitlich spezifischer Weise tradiert und findet in unterschiedlichen institutionellen Rahmungen statt. Man denke hier nur an die zunehmende Präsenz von Männern in den Kreißsälen der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten - und daran, dass dies in bestimmten Milieus nunmehr zu einem Imperativ geworden ist. Man denke auch an die Klassifizierungen verschiedener Geburten als ›natürliche‹, ›gelungene‹, ›sanfte‹, ›traumatische‹, ›schnelle‹ und so weiter. An diesen zeigen sich gesellschaftliche Wissensbestände beziehungsweise Deutungsmuster, die sich im Geflecht von Medizin, kulturellen Traditionen, sozial- und gesundheitspolitischen Interventionen, leiblichen Erfahrungen und mehr bilden und beständig verändern. Man denke schließlich auch an den Einfluss sozialer Bewegungen, hier vor allem der Frauen- und genauer der Frauengesundheitsbewegungen, die die Erfahrungsmöglichkeiten von Geburt für Frauen (und Männer) wesentlich beeinflusst haben. Es gibt also zahlreiche empirische Indizien dafür, dass auch Geburt ein soziales Phänomen ist. Wir werden nachfolgend einige soziologische Perspektiven skizzieren, die uns geeignet scheinen, sich diesem zu nähern. Ganz sicher sind diese nicht erschöpfend in ihrer Vielfalt, noch sind sie hinreichend diskutiert. Vielmehr sind sie als eine erste Annäherung an ein komplexes Thema zu verstehen, dem sich die Beiträge im Sammelband auf sehr unterschiedliche Weise widmen.

Geburt und ihre Rituale

Eine der wenigen soziologischen Ausnahmen von der Blindheit gegenüber der Geburt als sozialem Phänomen stellt der Schüler und Neffe Émile Durkheims, Marcel Mauss, dar, der sich als einer der ersten Soziologen für das Thema Geburt interessiert hat. In seinem bahnbrechenden Aufsatz "Techniken des Körpers" (Mauss 1999 [1934]), zugleich einer der Gründungstexte der Körper- und Techniksoziologie, kommt er - wenn auch nur kurz - auf die je nach sozialem und kulturellen Kontext unterschiedlichen Techniken der Geburt zu sprechen, also beispielsweise unterschiedliche Gebärhaltungen oder Methoden der Geburtshilfe. Von Bedeutung ist hier Mauss' Annahme, dass Geburten nicht einfach biologische Prozesse sind. Sondern sie sind, wie Mauss es mit seinem Konzept des "l'homme totale", also des totalen Menschen, zu fassen versuchte (vgl. Moebius 2006), zugleich und untrennbar miteinander verknüpfte biologische, psychologische, historische und eben wesentlich auch soziale Prozesse, und zwar Prozesse, die in seinen Augen in Form von rituellen körperlichen Praktiken und Erzählungen gestaltet, gedeutet und sozialisiert werden.

Mauss konnte hierbei an die Studien "Über die kollektive Repräsentation des Todes" seines Kollegen Robert Hertz anknüpfen, der noch vor Arnold van Genneps "rites de passage" die dreiphasige Struktur von Übergangsritualen erforscht hat (vgl. Hertz 2007). Es sind nach der Soziologie der Durkheim-Schüler Übergangsrituale, die nicht nur den Tod, sondern eben auch die Geburt rahmen, deuten und damit in einen symbolischen Zusammenhang bringen. Die Menschen formen und beeinflussen das physiologische Geschehen der Geburt durch ritualisierte Handlungen, "sei es, um den körperlichen Prozess zu unterstützen, Ängste zu mindern, Gefahren zu bannen. In der Anordnung, Symbolik und Qualität dieser Rituale", so die Ethnopsychoanalytikerin Maya Nadig in ihrem Beitrag des vorliegenden Bandes, "werden sowohl bio-psycho-soziale Bedeutungen wie geschlechtsspezifische Zuschreibungen bestätigt oder neu konstruiert" (Nadig). Dabei gibt es eine Fülle an je nach Kultur unterschiedlichen Geburtssystemen, unterschiedlich vor allem, was Inhalt und Symbolik betrifft. Aber auch eine Fülle an Unterschieden, was die Konzeptionen von Körper, Frau, Mutter und die Geschlechterbeziehungen angeht.

Ähnlich hingegen sind sich die besagten Geburtsrituale in ihrer Struktur als Übergangsrituale. Wie Robert Hertz, und nach ihm Arnold van Gennep und einige Jahre später der Ethnologe Victor Turner hervorgehoben haben, werden die unterschiedlich erlebbaren und interpretierten körperlichen Prozesse und Veränderungen im Lebenslauf wie Geburt, Pubertät, Menopause oder Tod in jeder Kultur durch Rituale strukturiert (vgl. zum Folgenden Nadig in diesem Band). Eine zentrale Rolle spielen dabei Bezugspersonen und VermittlerInnen wie HeilerInnen, SchamanInnen oder Hebammen, die durch die Übergangsrituale führen und sowohl die körperlichen, seelischen wie sozialen Zustandsänderungen begleiten. Übergangsrituale bestehen dabei nach Hertz und van Gennep aus drei Abschnitten: 1. aus Abtrennungsritualen, die einen aus dem früheren Leben und Zugehörigkeitsgruppen wegführen. Beispielsweise die Wahl eines bestimmten, vom normalen Leben abgesonderter Ort, Reinigungsriten oder zum Beispiel in der Schwangerschaft Tabus, die Ernährung, Sexualität oder Lebensführung betreffen. Darauf folgen 2. Schwellen- oder Umwandlungsrituale, die die so genannte liminale Phase, also etwa die Geburt, rahmen. Wie insbesondere Victor Turner (2005) gezeigt hat, ist diese liminale Phase von einer Anti-Struktur und Ambiguität geprägt, das heißt, die alten Rollen gelten nicht mehr und neue sind noch nicht gefunden, die Betroffenen sind Grenzgänger zwischen den Welten, sie befinden sich in einer unbestimmten Situation, die als sakral, das heißt als abgetrennt von der profanen Welt, als anziehend, faszinierend, aber auch als gefährlich erachtet wird. Vor allem kommt es nach Turner zu Erlebnissen der communitas, zu einem Aufgehen in Gemeinschaft, beispielswiese in der gemeinsamen Glückserfahrung beim Anblick des Neugeborenen oder in der inneren Verbundenheit aller Beteiligten am Geschehen, es kommt also zu
Erfahrungen des Ergriffen-Seins. Auf die Schwellenrituale, die diese Erfahrungen rahmen, folgen schließlich 3. Angliederungsrituale, die in das Neue integrieren und die gesellschaftliche und symbolische Ordnung wiederherstellen - etwa Waschungsrituale, Nahrungstabus oder die Wochenbettzeit. Bezogen auf das Neugeborene etwa Empfangs- oder Taufrituale. Zu den Ritualen gehören auch Erzählungen, Mythen und Bilder, die die Bedeutung haben, die Übergänge in einem größeren kollektiven und zeitlichen Zusammenhang zu verorten, ihnen eine Sprache für die unaussprechlichen Empfindungen zu geben und die Akteure wieder in eine soziale, symbolische und im Falle der Geburt auch in eine genealogisch-familiale Ordnung einzufügen, also den Zustandsänderungen allgemein Sinn zu verleihen. Zuweilen kann es aber auch vorkommen, dass die alte Ordnung nicht durch die Übergangsrituale reproduziert wird, sondern sich nicht nur die Akteure nach diesem Übergang, sondern die gesamte soziale und symbolische Ordnung verändern.

Wichtig ist dabei, dass an die Wirksamkeit und die Richtigkeit der Rituale geglaubt wird. Die Bereitschaft, an diese Wirksamkeit zu glauben, kann dann wiederum erst bestimmte Erfahrungen und Emotionen ermöglichen. So hat die Durkheim-Schule anhand der Erfahrungen kollektiver Ekstase gezeigt, dass diese Erfahrungen des Über-sich-selbst Hinausgerissen-Seins, der "Selbsttranszendenz" (Joas 1997) oder des Ergriffen-Seins nicht nur zu sozialer Kohäsion, communitas, führen, sondern auch neue Deutungsmuster, Kategorien, Werte, Emotionsnormen, Klassifikationen, Narrationen und Imaginationen erzeugen.

Vor dem Hintergrund der an der klassischen Soziologie der Durkheim-Schule angelehnten Überlegungen ist zunächst festzuhalten, dass Geburt eine den ganzen Menschen betreffende bio-physio-soziale außeralltäglich-sakrale Erfahrung der Selbsttranszendenz ist, - und zwar eine Erfahrung der Selbsttranszendenz die jeweils mit speziellen Übergangsriten und Normen gerahmt, sozio-kulturell interpretiert sowie auf spezifische Weise artikuliert und reflektiert wird, zum Beispiel religiös, esoterisch oder säkularistisch (d. h. als bloß biologischer Prozess). Folgt man dieser an Durkheim orientierten Perspektive, so lässt sich übrigens etwa das rituelle Feiern des Geburtstags als Erinnerung und Verdichtung dieser Erfahrungen der Selbsttranszendenz bei der Geburt verstehen, mit dem Sinn, das genealogische, symbolische und soziale Band rhythmisch zu erneuern.


Moebius, Stephan
Stephan Moebius ist Professor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Graz.

Thiessen, Barbara
Barbara Thiessen ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Beratung unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse an der Universität Bielefeld.

Villa-Braslawsky, Paula-Irene
Paula-Irene Villa Braslavsky ist Professorin für Soziologie/Gender Studies an der LMU München.

Paula-Irene Villa Braslavsky ist Professorin für Soziologie/Gender Studies an der LMU München.
Stephan Moebius ist Professor für Soziologische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Graz.
Barbara Thiessen ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Beratung unter besonderer Berücksichtigung der Geschlechterverhältnisse an der Universität Bielefeld.


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