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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Agena / Hecht / Riese Selbstbestimmt

Für reproduktive Rechte

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4343-3
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Wer soll in unserer Gesellschaft Kinder bekommen und wer nicht? Wie greifen Staat und Religion in das Recht auf den eigenen Körper ein? Und was hat das mit Rassismus und sozialer Ungleichheit zu tun? Reproduktive Rechte sind Menschenrechte, doch sie sind häufig gefährdet.

An zahlreichen Beispielen von Indien über die USA bis Argentinien beschreiben die Autorinnen den feministischen Kampf für körperliche Selbstbestimmung.

Eine Frau entscheidet selbst, ob, wann, wie viele und mit wem sie Kinder bekommen will. Das gilt auf dem Papier – doch es ist noch lange nicht Realität. Jahrhundertelang mussten Frauen für Gott und Vaterland gebären. Und auch heute sind weibliche ebenso wie queere Körper fremdbestimmt und staatlicher, patriarchaler Kontrolle ausgesetzt.

Zwangssterilisationen, Schwangerschaftsabbrüche, Zugang zu Verhütungsmitteln, Müttersterblichkeit unter der Geburt: All das hängt damit zusammen, wie das Recht auf den eigenen Körper ausformuliert und umgesetzt ist. Wessen Kinder erwünscht sind, sogar eingefordert werden, und wessen nicht, sagt viel über den Stand der Menschenrechte in einer Gesellschaft aus. Es ist Wesensmerkmal fundamentalistischer und rechter Regime, reproduktive Rechte zu bekämpfen und zu unterdrücken. Doch selbst in Demokratien sind diese Rechte keineswegs verwirklicht.
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Intro
Frauen in langen roten Gewändern gehen vorsichtig durch die Straßen, ihre Köpfe sind gesenkt, ihre Gesichter von weißen Hauben verborgen. Ihre Identitäten spielen keine Rolle – sie sind Eigentum. Ihre Körper stehen im Dienst des Fortbestands eines totalitären Staates, ihre eigentlichen Namen wurden ersetzt durch den Hinweis darauf, wem sie gehören: Desfred, Desgeorge, Desglen. Sie sind Sklavinnen ihrer männlichen Besitzer, sie sind deren Gefäße, die gebären sollen. Wer nicht gebären kann, ist entbehrlich. Die Welt, die die kanadische Autorin Margaret Atwood 1985 in ihrem Roman Der Report der Magd zeichnet, der seit 2017 als Serie Erfolge feiert, ist eine dystopische Fantasie. Doch Atwood fügt darin Umstände zusammen, unter denen Frauen irgendwo und irgendwann tatsächlich schon leben mussten.1 Denn dass Frauen über ihre Körper nicht selbst bestimmen, sondern ihr Entscheidungsspielraum von politischen oder religiösen Systemen abhängt, ist eine jahrtausendealte historische Erfahrung. Das Wesen dessen, was Atwood beschreibt, prägt global auch aktuell die Leben von Frauen und Queers: der nicht enden wollende Kampf gegen ihre Unterdrückung durch patriarchale Institutionen, für ihre Rechte und um körperliche Selbstbestimmung. Es ist kein Zufall, dass Feminist:innen* in Irland, den USA, Argentinien oder Italien seit einigen Jahren rote Umhänge und weiße Hauben als Zeichen ihres Protests für legale Schwangerschaftsabbrüche tragen. Wir schreiben das 21. Jahrhundert – nie haben Sexualaufklärung, jahrzehntelange Kämpfe um Emanzipation sowie Medizin und Technik in reproduktiver Hinsicht so viele Möglichkeiten eröffnet wie heute. Hierzulande verspricht sichere Verhütung freie Sexualität, und Kinder zu bekommen oder nicht scheint längst keine Frage des Schicksals mehr. Reproduktionstechnologien sollen helfen, falls sich der Kinderwunsch nicht erfüllt, und auch die biologische Uhr scheint der Vergangenheit anzugehören: Eizellen etwa können eingefroren oder von einem Körper in einen anderen verpflanzt werden. Selbst Leihmutterschaft, obschon ethisch hochumstritten, ist medizintechnisch kein Wunderwerk mehr. Politisch gehören wir Autorinnen dieses Buchs wohl zur ersten Generation, die mit der Idee von Geschlechtergerechtigkeit aufgewachsen ist – und mit der Vorstellung, dass die Gleichstellung der Geschlechter auch das Recht auf den eigenen Körper umfasst. Trotz aller Möglichkeiten: Bis heute existieren zahlreiche rechtliche, politische und gesellschaftliche Hürden und Einschränkungen, wenn es um Frauenkörper und um Entscheidungen geht, die damit zusammenhängen. Wie sehr weibliche und queere Körper noch immer fremdbestimmt und staatlicher oder patriarchaler Kontrolle ausgesetzt sind und wie wenig reproduktive Rechte ihnen zugestanden werden, zeigt sich in nahezu allen Aspekten, die mit der Möglichkeit zu tun haben, schwanger zu werden – oder dem Versuch, genau das zu unterbinden. Reproduktive Rechte, oder genauer »sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte«,2 sind Rechte, die »alle Aspekte reproduktiver Gesundheit und das sexuelle Selbstbestimmungsrecht« betreffen:3 die freie Entscheidung für Elternschaft oder dagegen, das Recht, sowohl über die Anzahl als auch den Zeitpunkt der Geburt von Kindern zu entscheiden sowie das Recht, über die dafür nötigen Informationen, Kenntnisse und Mittel zu verfügen.4 Letztlich geht es also um alle Bereiche im Lauf eines Lebens, die die Fortpflanzung betreffen – von der Verhütung bis zur Geburt. Diese Rechte über den eigenen Körper sind als Menschenrechte in verschiedenen völkerrechtlichen Dokumenten verbindlich verankert. Staaten sind dazu verpflichtet, sie zu achten und die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Trotzdem mangelt es, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung, global an ihrer Ausgestaltung und Umsetzung. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn Menschen zwangssterilisiert werden – bis in die 1990er Jahre hinein zulässige Praxis im heutigen EU-Land Tschechien, um Romn:ja an der Fortpflanzung zu hindern. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn Polen ein nahezu totales Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen beschließt, laut dem sogar Föten ausgetragen werden müssen, die keine Überlebenschancen haben. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn Frauen keine Wahl haben, wie sie verhüten möchten, wenn etwa in Uganda Frauen langfristig wirkende Hormonimplantate eingesetzt werden, obwohl sie lieber eine temporär wirksame Spritze gehabt hätten. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn Frauen in der Ukraine als günstige Leihmütter arbeiten, damit sich wohlhabende Paare aus aller Welt den Traum von einer Familie erfüllen können. Reproduktive Rechte werden gebrochen, wenn in Deutschland Krankenhäuser Schwangere in den Wehen abweisen oder wenn Frauen weltweit unter der Geburt sterben, weil die medizinischen Bedingungen miserabel sind. Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist um seiner selbst willen unabdingbar: Eine Person, die nicht über ihren Körper und die eigene Fortpflanzung bestimmen kann, leidet unter konkreten Zwängen. Diese können unmittelbar bedeuten, kein Kind bekommen zu können oder ein Kind austragen zu müssen, das nicht gewollt ist. Sie können auch bedeuten, ein Kind unter Verhältnissen zur Welt bringen zu müssen, die erniedrigend oder nicht sicher sind. Fehlende Verhütungsmittel können zu unsicheren Schwangerschaftsabbrüchen führen, die 47 000 Frauen jährlich das Leben kosten. Frauen sterben auch an den Folgen von Schwangerschaft und Geburt – 295 000 sind es derzeit jedes Jahr. Darüber hinaus wirkt sich die Frage, ob Frauen und Queers selbst über ihre Körper bestimmen, auf viele weitere Aspekte ihrer Leben aus. Ob eine Person Zugang zu Verhütungsmitteln hat, entscheidet darüber, ob sie ungewollt schwanger wird und – falls sie das Kind austrägt – möglicherweise nicht mehr zur Schule gehen, studieren, arbeiten oder sich überhaupt frei entfalten kann. Wer sich wie lange um wie viele Kinder kümmert, prägt den beruflichen wie privaten Werdegang bis ins hohe Alter. Damit einher gehen materielle Lebensbedingungen wie gleicher oder vielmehr ungleicher Lohn und ungleiche Rente. Reproduktive Rechte weisen also weit über sich selbst hinaus und sind deshalb heftig umkämpft. Für Frauen und gebärfähige Personen sind sie die Grundlage für Selbstbestimmung – für viele andere ein Instrument der Macht. Das zeigt sich etwa an historisch gewachsenen Geschlechterrollen, auf denen westliche Gesellschaften aufgebaut sind und die zum Teil auf religiösen Vorstellungen beruhen. Im Mittelalter verfolgt die katholische Kirche Frauen als Hexen, die Wissen über den weiblichen Körper besitzen. Martin Luther sieht in Mutterschaft den »eigentlichen ›Gottesdienst‹«:5 Während der Reformation wird die Frau auf Mutterrolle und Haus reduziert. Die Herausbildung der Kernfamilie im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts verstärkt diese Ideen. Der Mann, der sich um das Geld kümmert, die Frau als Mutter: Dieses mächtige Ideal prägt Kultur und Politik noch immer. Bis heute zementieren rechtliche Regelungen und ökonomische Bedingungen diese Ungleichheit: in Deutschland etwa das Ehegattensplitting, das massive Anreize für verheiratete Frauen schafft, nicht oder nur wenig erwerbstätig zu sein, Minijobs, die vor allem Frauen in die Rentenarmut treiben, und ein eklatanter Mangel an Kitaplätzen. Dass anstelle der Mütter die Väter zu Hause bleiben und deutlich weniger verdienen, kommt in verschwindend geringem Maß vor. Über die Jahrhunderte hinweg werden zudem zentrale Gesetze geschaffen, die Frauen das Recht entziehen, über den eigenen Körper zu entscheiden, wie die Sanktionierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Bis heute sind Abbrüche auch hierzulande illegal und nur unter bestimmten Bedingungen straffrei. Gesetze wie dieses dienen auch dazu, die Größe und Zusammensetzung von Bevölkerung zu beeinflussen. Nationalstaaten, ob religiös oder säkular geprägt, haben ein Interesse daran, ihre Bevölkerungen zu regulieren,6 damit diese wahlweise wächst oder schrumpft. Und die Größe von Bevölkerung kann am einfachsten über den Zugriff auf Frauenkörper beeinflusst werden. Dieser Zugriff basiert auf einem ungleichen Zugang zu Macht und Rechten, den er gleichzeitig prägt. Er zementiert Abhängigkeiten und einen grundlegenden Unterschied zwischen den Geschlechtern. Wer die Funktion von Frauen vor allem darin sieht, zu gebären und Mutter zu sein, misst Verhütung oder legalen und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen kaum Wert zu. Der Kampf um körperliche Selbstbestimmung ist ein feministischer. Wer soll Kinder bekommen – und wer nicht?
Mit den Vorstellungen darüber, wie Bevölkerung wachsen oder schrumpfen soll, sind häufig Ideen verknüpft, wer Kinder bekommen soll und wer nicht. Staaten und Religionen schränken dafür körperliche Rechte verschiedener Gruppen ein. Manchen potenziell Schwangeren ist der Zugang zu reproduktiven Rechten noch drastischer versperrt als anderen, vor allem denjenigen, die von Rassismus, Klassismus, Behinderten- oder Queerfeindlichkeit betroffen sind.** Während weiße*** Frauen seit den 1970er Jahren um ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung kämpfen – und dabei vor allem auf das Recht auf Schwangerschaftsabbruch fokussieren –, kämpfen Schwarze Frauen und queere Menschen oft um ihr Recht, überhaupt schwanger werden zu dürfen und während der Schwangerschaft ausreichend medizinisch versorgt zu werden. Anders als weiße sind Schwarze Frauen und...


Gesine Agena, Politikwissenschaftlerin, arbeitet in der Amadeu Antonio Stiftung. Bis 2019 war sie stellvertretende Bundesvorsitzende und frauenpolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen.
Patricia Hecht ist Redakteurin für Geschlechterpolitik der Taz. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind Antifeminismus und reproduktive Rechte im inner- und außerparlamentarischen Spektrum.
Dinah Riese ist Redakteurin für Migration und Einwanderungsgesellschaft im Inlandsressort der Taz. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit sind reproduktive Rechte. Für ihre Recherchen zum Abtreibungsparagrafen 219a wurde sie mehrfach ausgezeichnet.


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