Amirpur | Iran ohne Islam | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Amirpur Iran ohne Islam

Der Aufstand gegen den Gottesstaat

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-406-80307-9
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Frauen verbrennen ihren Hijab, Mullahs werden die Turbane vom Kopf gerissen. Katajun Amirpur ordnet den Aufstand gegen den Gottesstaat, der seit September 2022 im Gange ist, in eine Entwicklung ein, die vom Westen bisher kaum bemerkt wurde: Nicht nur die iranische Gesellschaft wendet sich zunehmend vom Islam ab, sondern auch das Regime selbst. Nationale Größe hat sogar offiziell Vorrang vor dem Koran. Nicht die Mullahs herrschen, sondern Polizei und Militär. Das aufrüttelnde Buch lässt uns Iran mit anderen Augen sehen.

Der Iran ist seit der Revolution von 1979 ein Gottesstaat: Allah selbst regiert das Land mit Hilfe eines Rechtsgelehrten, der stellvertretend die Staatsgewalt innehat. So jedenfalls die Ideologie, der das westliche Bild vom Staat der Mullahs willig folgt. Doch hinter der Fassade der strikten Gottesherrschaft hat sich längst eine brutale Diktatur der Revolutionsgarden etabliert, der es um Machterhalt und geopolitischen Einfluss geht. Katajun Amirpur beschreibt auf der Grundlage weitgehend unbekannter Quellen, zahlreicher Besuche in Iran, Gesprächen mit Dissidenten sowie Berichten von Zeitzeugen, welche Wandlungen das Regime durchgemacht hat und warum sich immer mehr Menschen vom Islam abwenden: hin zu anderen Religionen, zu einer individuellen Gottgläubigkeit oder zu einer säkularen Haltung. Die Iraner – und besonders die Iranerinnen – haben begonnen, die Fassade des Islamismus niederzureißen. Katajun Amirpurs überraschendes Buch macht eindrucksvoll deutlich, warum sie trotz aller Opfer endlich Erfolg haben könnten.
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Einleitung: Der Aufstand gegen den Gottesstaat
Nach meiner Kindheit in Iran in den siebziger Jahren habe ich das Land 1991 zum ersten Mal wieder besucht. Ich war erstaunt, wie anders Iran ist, als ich angenommen hatte. Zwei Jahre nach dem Tod des Revolutionsführers Khomeini war Iran zwar eine Diktatur, aber eine, in der sich die Menschen erstaunlich viele Freiräume erkämpften. Nie werde ich ein Erlebnis beim Zoll am Teheraner Flughafen nach meiner ersten Einreise vergessen. Mein Koffer war beim Umsteigen verloren gegangen und wurde nachgesendet, und so musste ich nach Mehrabad, um ihn abzuholen. Als ich dort in einer endlos langen Schlange wartete, hörte ich auf einmal eine Frau losbrüllen, die ähnlich entnervt war wie ich: «Rafsandschani», schrie sie, «zieh dir ein paar ordentliche Klamotten an und deinen Turban aus und komm hierher und guck dir an, wie unfähig die hier sind, wie eure miese Verwaltung des Landes uns alle in den Wahnsinn treibt!» Ich befürchtete, man würde sie abführen, doch die Wachposten schauten weg, man meinte gar, ein zustimmendes Nicken zu sehen. Das Beispiel zeigt, wie viel Widerspruch vom Regime hingenommen werden musste und muss, weil man mit der Unterdrückung nicht nachgekommen ist. Dieses Buch will zeigen, wie sich in den neunziger Jahren der Widerstand zu artikulieren begann, sich allmählich Spielräume erarbeitete und von einer intellektuellen Reformbewegung zu einer politischen Bewegung wurde, der viele Menschen vertrauten. Es geht aber auch um das Scheitern der Versuche, die Islamische Republik zu reformieren, sodass sich heute die Frage stellt, ob das Regime sich hält oder fällt – oder besser: wann der Aufstand gegen den selbsterklärten Gottesstaat Erfolg haben wird. Wir sehen seit September 2022 die unbändige, nicht einzudämmende Wut von Zehntausenden jungen Menschen und ein Nein zum islamistischen, vergreisten Regime, das alle Teile der Gesellschaft erfasst. Jeder kann sich anschließen, geht wegen seines eigenen Leids, seiner eigenen Wut, seines eigenen Frusts auf die Straße: die Frauen, die federführend sind, aber auch die ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten sowie ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen – Arbeiter, Angestellte, Lehrer, Studenten, Professoren. Jeder denkt: Was Jina Mahsa Amini passiert ist, als sie am 16. September 2022 im Gewahrsam der Sittenpolizei zu Tode kam, hätte mir, meiner Mutter, meiner Schwester, meiner Cousine auch passieren können, es betrifft uns alle. Das ist anders als bei den bisherigen Protesten, die wir spätestens seit 2009 beobachten. Wir wissen durch Leaks der iranischen Hackergruppe Black Reward, dass das Regime gerade das Schichtenübergreifende des Protests als veritable Gefahr einschätzt. Der Sänger Shervin hat in den ersten Tagen nach Beginn des Aufstands Twitter-Nachrichten der Demonstranten gesammelt und vertont. Die Protesthymne Baraye – auf Deutsch «Dafür», «Wegen» – fasst eindrucksvoll zusammen, worum es den Menschen geht: Der Aufstand richtet sich nicht nur gegen das Kopftuchgebot oder gegen die Misswirtschaft, er kämpft nicht nur für politische Freiheiten. Es ist ein Aufstand gegen den «Gottesstaat» in seiner Gesamtheit. Daher ist es ein feministischer Aufstand, denn dem Feminismus geht es nicht darum, Frauen anstelle von Männern an die Macht zu bringen, sondern um Selbstbestimmung für alle. Der Zwang zum Kopftuch ist für die Aufständischen ein Symbol für die Verweigerung von Selbstbestimmung. Deshalb reißen sich seit September 2022 junge Mädchen ihre Kopftücher herunter. Es geht bei den Protesten nicht nur um das Recht, sich zu kleiden, wie man möchte. Es geht für die 50 Prozent der Iraner, deren Muttersprache nicht Persisch ist, darum, in der Schule in ihrer Muttersprache unterrichtet zu werden. Es geht für Lesben und Schwule darum, ihre sexuelle Orientierung ohne Angst leben zu können. Es geht für die Bahais darum, ihre Religion ausüben zu können. Es geht für die Juden und Christen darum, als Angehörige einer religiösen Minderheit vollkommen gleichberechtigt zu sein – und so weiter. In seinem Song hat Shervin diese Anliegen versammelt: Er singt für das Tanzen auf der Straße, für das Mädchen, das sich wünscht, ein Junge zu sein, für die Freiheit. Deshalb lautet der Slogan des Protests: «Frau, Leben, Freiheit» – Zan, zendegi, azadi. Ohne Frauen kein Leben. Ohne Frauen keine Freiheit. Ein revolutionärer Prozess
Ist der Aufstand bereits eine Revolution? Das wird man erst im Rückblick sagen können. Mit Sicherheit sehen wir hier aber einen revolutionären Prozess. Der hat schon vor ein paar Jahren begonnen, manche meinen 2009, andere 2017 oder 2018/19. 2009 ging der Protest vor allem von der Mittelschicht aus, die sich angesichts einer gefälschten Wahl betrogen sah. 2017 und 2018/19 gingen Menschen aus der Unterschicht zum ersten Mal in größerer Zahl auf die Straße. Sie wandte sich gegen die soziale Ungerechtigkeit, aber damit auch gegen die Islamische Republik als Ganze. Denn immerhin war diese angetreten, um soziale Ungerechtigkeit zu beseitigen. Die Proteste der Unterschicht richteten sich deshalb gegen die Geistlichkeit ebenso wie gegen die Revolutionsgarden, gegen die Radikalen ebenso wie gegen die Reformer. Damit hatte sich die soziale Basis des Regimes gegen das Regime gestellt. Unter Sozialwissenschaftlern ist umstritten, ob es sich bei diesen vorangegangenen Protestwellen um verzweifelte Formen der Unmutsäußerung oder bereits um politische Massenbewegungen handelte. Der in den Niederlanden lehrende Asef Bayat sieht die früheren Proteste als Bewegungen der Armen, die eigentlich eine Form von «Nichtbewegung» sei. «Non-movement» nennt er diese kollektive Aktion städtischer Unterschichten, des Volkszorns: eine kollektive Aktion nichtkollektiver Aktivisten. In dem Sinne sind die Proteste, so Bayat, das Ergebnis des Sozialverhaltens einer großen Zahl gewöhnlicher Menschen. Deren verstreute, aber einheitliche Aktionen können theoretisch weitreichende soziale Veränderungen bewirken, selbst wenn sie keiner Ideologie, Führung und Organisation unterliegen. Während Studenten oder Arbeiter ihre Forderungen im Rahmen einer Universität oder Gewerkschaft erheben können, sei für Arbeitslose, Hausfrauen und andere nichtorganisierte Gruppen die Straße die politische Arena, in der sie Forderungen artikulieren können. 2022 und 2023 sehen wir all das zusammenkommen: Wir sehen die Straße als Arena, aber ebenso die Universität, die Schule und den Bazar. Die Proteste sind nicht neu und werden immer häufiger und intensiver. Das iranische Innenministerium selbst nennt unglaubliche Zahlen: In den ersten vier Jahren der Präsidentschaft von Hasan Rohani, das heißt seit August 2013, so ein Sprecher im Januar 2018, habe es 43.000 genehmigte und nicht genehmigte Kundgebungen gegeben. Das wären 30 pro Tag. Bei einem Treffen der Revolutionsgarden wurde im November 2021 aus einem Protokoll zitiert, demzufolge Protestversammlungen 2021 im Vergleich zum Vorjahr um 48 Prozent zugenommen hatten, die Zahl der Demonstranten war in diesem Zeitraum um 98 Prozent gestiegen. Die Wut der Jugend wurde zudem durch ein Jahrzehnt voller Wirtschaftskrisen angeheizt. Gut ausgebildete Iraner warten nach dem Hochschulabschluss im Schnitt zweieinhalb Jahre auf ihren ersten Job. 2021 waren fast die Hälfte aller Frauen zwischen 20 und 30 Jahren mit einem Bachelorabschluss und ein Viertel ihrer männlichen Altersgenossen arbeitslos. Entscheidender noch als die Zahl der Protestversammlungen und ihrer Teilnehmer ist deren berufliche und soziale Zusammensetzung. Von 2015 bis 2020 wurden laut der iranischen Nachrichtenagentur IRNA 57 Prozent der Proteste von Arbeitern getragen. Sie seien bedarfsorientiert und gewerkschaftlicher sowie politischer Natur gewesen. 717.000 Lehrer der 110.000 Schulen des Landes waren an diesen Protesten beteiligt. Sollte es in Iran zu Veränderungen kommen, so hängen sie von diesen beiden Gruppen ab: Die Arbeiter sind die größte soziale Gruppe, und die Lehrer sind gut vernetzt und organisiert. Hinzu kommen die Frauen. Sie stellen die Mehrheit der Gesellschaft – und sie bekommen internationale Unterstützung für ihre Anliegen. Letzteres liegt maßgeblich an Masih Alinejad. Die in Iran aufgewachsene Journalistin, die heute in den USA lebt, hob 2014 die Facebook-Kampagne My Stealthy Freedom, «Meine heimliche Freiheit», aus der Taufe. Frauen posteten auf ihre Anregung hin Bilder von sich ohne Kopftuch. Damit beförderten sie im Internet das Aufbegehren gegen den Hidschab-Zwang. Hinzu kam die Aktion «Weißer Mittwoch», die sie ebenfalls...


Katajun Amirpur ist Professorin für Iranistik an der Universität zu Köln und schreibt regelmäßig für große Zeitungen und Zeitschriften. Zuletzt erschienen von ihr bei C.H.Beck "Khomeini. Der Revolutionär des Islams" (2021) sowie "Reformislam. Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte" (3. Aufl. 2018).


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