Andrea | Von Teufeln und Heiligen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Andrea Von Teufeln und Heiligen

Roman

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-641-28298-1
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Prix Goncourt-Preisträger 2023! Ausgezeichnet als » Lieblingsbuch der französischen BuchhändlerInnen«.
»Der Roman strahlt eine unglaubliche Kraft aus. Erzählt über Liebe und Freundschaft. Und weiß um den Trost, den Musik bringen kann.« Christine WestermannWas sucht ein alter Mann wie er dort? Auf Bahnhöfen, am Flughafen? Und spielt dort Klavier? Seine flinken Finger gleiten virtuos über die Tasten. Er spielt Beethoven, wartet auf jemanden, der vielleicht eines Tages aus einem Zug aussteigt. Wartet darauf, dass eine Hand sich auf seine Schulter legt. Es ist eine lange Geschichte. Alles begann vor fünfzig Jahren in einem Waisenhaus in den Pyrenäen. Dort gab es Teufel und Heilige. Und ein Mädchen namens Rose.Voller Wärme und Menschlichkeit erzählt Jean-Baptiste Andrea eine berührende Lebensgeschichte, die vor fünfzig Jahren in einem Waisenhaus in den Pyrenäen beginnt und an einem Klavier in Paris endet. Ein Roman über Liebe und Freundschaft. Über die universelle Kraft der Musik. Über Hoffnung, die nicht stirbt.

Jean-Baptiste Andrea, Jahrgang 1971, ist ein französischer Romanautor und Filmemacher. Er wurde 2023 für den Roman »Veiller sur elle« mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und gilt »in Frankreich als einer der vielversprechendsten Autoren seiner Generation« (DER SPIEGEL). Andrea wuchs in Cannes auf, später zog er nach Paris und machte dort seinen Abschluss in Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Seine beiden Romane »Meine Königin« und »Von Teufeln und Heiligen« wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. »Von Teufeln und Heiligen« »strahlt eine unglaubliche Kraft aus« (Christine Westermann) und war das »Lieblingsbuch der französischen Buchhändler*innen«.
Andrea Von Teufeln und Heiligen jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


ZWEI DINGE BRAUCHT DER MENSCH, sagte mein Vater immer, ohne die kann er nicht leben: eine gute Matratze und ein gutes Paar Schuhe. Er verkaufte beides. Natürlich nicht zusammen. Die Matratzenfabrik hatte er von seiner Mutter geerbt, einer Engländerin wie aus dem Bilderbuch, oder fast, denn bei einem Frankreichurlaub kurz vor dem Krieg war sie schwanger geworden und geblieben. Die Schuhe kamen später. Als mein Vater, eine elegante Erscheinung, vom drohenden Bankrott seines bevorzugten Schuhfabrikanten erfuhr, kaufte er ihm den Betrieb kurzerhand ab. Mein Vater glänzte in allem. Musik. Gartenarbeit. Sport. Er hätte Arzt oder Architekt werden können. Oder Priester, Rabbi, nur glaubte er nicht an Gott, und Jude war er auch nicht. Zumindest nicht ganz: Seine Mutter war keine Jüdin, er damit ebenfalls nicht und ich noch weniger. Seiner Meinung nach umso besser. Seine Lieferanten, gute Katholiken, warfen ihm schon vor, zu unnachgiebig bei den Preisen zu sein. Er wollte nicht, dass man ihn obendrein beschuldigte, ihren Heiland gemetzelt zu haben, zumal vor dem Hintergrund einer anschwellenden Konkurrenz aus Amerika. Als meine Mutter meinte, es sei vielleicht an der Zeit, mich mit diesem Teil meiner Geschichte vertraut zu machen, dass ich nämlich zu einem Viertel Jude war, reagierte er wütend. Wir sprachen nie wieder davon. Für meine Eltern war ich ein Projekt, sie erzogen mich mit diktatorischem Eifer. Ihre Liebe zu mir entsprach der Hingabe zu einem Fünfjahresplan. Aber sie liebten mich. Ich war ihr Fünfjahresplan. Nur meine unausstehliche Schwester entkam der Tyrannei, denn sie war erst vier. Von ihren stolzen übertausend Tagen herab dachte Inès, sie könne sich alles erlauben. Sie durchwühlte mein Zimmer, ging an meine Schallplatten. Wenn ich sie anbrüllte, heulte sie Rotz und Wasser, und ich war mal wieder schuld. Unausstehlich. Ein paar Tage vor meiner Krankheit, diesem Leiden, das wir alle unbewusst in uns trugen, rief mein Vater mich in sein Arbeitszimmer. »Ich hatte Rothenberg am Apparat. Er sagt, dass dein letzter Unterricht ein unerfreuliches Ende genommen hat. Dass du faul wirst. Dass du mit der Musik nicht weiterkommst. Er denkt, du lässt dein Talent verkümmern. Hast du eine Erklärung?« Die hatte ich. Statt Tonleitern zu üben, hatte ich mit meinem besten Freund Henri hinter dem Anwesen seiner Eltern Waldreben geraucht. »Nein. Das verstehe ich nicht. Ich übe doch so viel.« »Offenbar nicht genug. Dann fliegen deine Mutter, deine Schwester und ich am Wochenende ohne dich nach Rom. Du kannst derweil darüber nachdenken, was du mit deinem Leben anfangen willst.« Ich flehte meinen Vater an. Flehte meine Mutter an, aber die stellte sich taub. Sie brummte mir sogar noch Hausaufgaben in Geschichte auf, dafür war sie Lehrerin am Gymnasium. Heute denke ich voller Zärtlichkeit an sie zurück, wegen dem, was danach passiert ist. Jahre des schwarzen Regens, der mir das Mark in den Knochen gefrieren ließ. Aber an diesem Tag konnte von Zärtlichkeit keine Rede sein. Ich habe meine Eltern gehasst. Wir wohnten im Großraum Paris. Ich wurde bald sechzehn, und mir fehlte es an nichts. Mein Leben roch nach Leder und Orchideen, nach Parfüm von Dior, es war ein behütetes Leben in den Grenzen der Backsteinmauern unseres Grundstücks. Wenn es Nacht wurde, stellte ich mir vor, ich würde davonlaufen und die Welt verändern. Würde, Baskenmütze auf dem Kopf und Zigarre im Mund, meinen treuen Guerilleros lauthals Befehle auf Spanisch erteilen. Natürlich müsste ich erst Spanisch lernen. Also später, irgendwann. Und so erstarben meine revolutionären Träume mit jedem Frühstück, das man mir ans Bett brachte. Anders gesagt, ich war ein ganz normaler Junge. Ein wohlerzogener Jugendlicher, ein liebenswürdiger Trottel. Dennoch bin ich nicht der Meinung, dass ich meine Krankheit verdient habe. »Der Rhythmus!«, schimpfte Rothenberg. »Der Rhythmus!« Der alte Rothenberg gab mir Klavierunterricht. Er war zerknittert wie Papier, das Gesicht, der Hals, die Hände. Eine Blindenschrift aus Falten, dass einem schwindlig wurde. Wann immer ich ihn sah, hätte ich ihn am liebsten gebügelt. Aber wenn er spielte. Wenn er spielte, machten sich Weise aus dem Morgenland auf den Weg. Exotische Prinzessinnen vergingen vor Sehnsucht in ihren Palästen aus Sand. Selbst Madame Rothenberg, ein verblasster Schatten mit dem Duft von Blütenblättern und Mottenkugeln, wurde wieder zu jener Königin des Südens, die er sechzig Jahre zuvor unter einem blühenden Nussbaum verführt hatte. Rothenberg unterrichtete nur Beethoven. In einer fernen Vergangenheit, über die er selten sprach, hatte ihm der große Meister – den er ausschließlich beim Vornamen nannte – das Leben gerettet. Ohne Instrument hatte Rothenberg Tag für Tag seine zweiunddreißig Klaviersonaten gespielt. Die Finger in der Luft, die Füße in Polens Staub. Er hatte gespielt, um nicht verrückt zu werden. Einmal fragte ich ihn, ob wir nicht etwas anderes lernen könnten, und sofort brauste er auf. »Du lernst längst etwas anderes, Dummkopf. Bei Ludwig gibt es alles. Das Vorher und das Nachher. Da ist Bach, ist Schubert. Ist Gabrieli, Mozart, Bruckner, und fast wäre da auch Varèse. Was willst du mehr?« In dieser Woche, der Woche, als ich krank wurde, der Woche, als er meinen Vater anrief, hatte ich ihn zur Verzweiflung gebracht. Ich malträtierte den Rhythmus, und Rothenberg rang mit der Welt, raufte sich die Haare. Jedenfalls die paar wenigen, die ihm in dem rot gefärbten Kranz um seine gefleckte Schädelhaut geblieben waren. Der Kopf erinnerte an einen Leoparden in Flammen. »Im Andante der Nr. 15 kommt es auf den Rhythmus an. Siehst du, wie die Sonate heißt?« Ich beugte mich über die Noten. »Äh, ›Pastorale‹.« »Und worum geht’s?« »Wälder, Bäche …?« »Schmegegge! Wälder, Bäche, papperlapapp! Hörst du das Pulsieren der linken Hand? Da steigt jemand hinweg über deine Wälder. Klettert Bach auf die Schulter, um über die Wipfel der Bäume zu sehen. Und du spielst das wie ein schmock, der im Gras liegt und schläft, nachdem er sich den Bauch vollgeschlagen hat. Wie ein Trunkenbold, der sich im Bois de Boulogne eine Frau sucht! Meine Güte, rutsch mal, ich zeig’s dir.« »Beruhige dich, Alon«, rief Madame Rothenberg aus der Küche. »Was hat dir der Arzt gesagt?« Er fiel über das Klavier her, ohne sich auch nur zu setzen. Und ich sah Dinge, die ich erst später verstand. Sah Riesen, die einen Tanz vollführten. Sah einen Adler herabstoßen und über dem Spiegel eines Sees einen blauen Saum weben. Als er fertig war, schrie ich, solche Angst hatte ich gehabt. Angst, ich würde zerquetscht. Angst, ich würde fortgerissen. »Was bringt das? So werde ich nie spielen! Ich werde niemals so spielen wie Sie!« Rothenberg schloss den Deckel des Klaviers. Und breitete ein Makramee-Deckchen darüber, drehte sich langsam zu mir um. Ich dachte, er würde mich ohrfeigen, aber seine papierne Hand legte sich sanft auf meine Wange. »Nein, wie ich niemals, mein Junge. Aber wenn du so weitermachst, droht dir Schlimmeres. Du wirst niemals so spielen wie du.« Ich ging hinaus, gepackt von einer Wut, wie sie der Jugend zufliegt, die Fäuste voller Blitze, geschleudert ohne Sinn und Verstand. Dabei wusste ich nicht, dass ich Alon Rothenberg nie wiedersehen würde. Wäre ich zu Hause geblieben, wäre nichts passiert. Kaum waren meine Eltern zu ihrem blöden Rom-Wochenende aufgebrochen, kaum war das Taxi am Ende der Allee verschwunden, flitzte ich zu Henri. Henri Fournier war mein bester Freund – das hatten wir uns geschworen. Die Fourniers waren reich, noch reicher als wir. Auch er hatte eine unausstehliche Schwester, nur älter, was gewisse Vorteile bot, wenn sie sich duschte und vergessen hatte, die Tür abzuschließen. Der Vater hatte ein Vermögen mit Schrauben gemacht, Holzschrauben, Blechschrauben, Zugschrauben, Gewindeschrauben, Schrauben aller Art, die er aus Asien importierte. Henri und ich hörten oft Musik, unsere Eltern bezeichneten sie als »gestört«. An diesem Tag eine nagelneue LP, Henri hatte sie gerade erst aus Paris mitgebracht, von den Rolling Stones. Der Mann im Plattenladen hatte für ihre absolute Gestörtheit die Hand ins Feuer gelegt, und das stimmte. Wir hüpften und sprangen auf Henris Bett und schüttelten unsere imaginären Mähnen. Platte umgedreht. Der Diamant senkte sich. Knatterlaute, Stammestrommeln, wild hervorgestoßene Schreie, Frauenlachen, Klavier! Please allow me to introduce myself. Ich hüpfte nicht länger. I’m a man of wealth and taste. Rothenberg hatte recht. Der Rhythmus. Diese Typen hatten ihn gefunden. Ein Rhythmus, der es schaffte, uns ans Ende der Welt mitzunehmen. Uns im Meer zu ertränken, eine ganze Generation, wenn ihnen danach zumute war. In der Diele brüllte jemand. Spring!, rief Henri. Höher! Ich war erstarrt. Woo-woo, diese Wilden riefen jetzt ihren Gott an, woo-woo! Und in der Diele immer noch Gebrüll. »Henri. In der Diele schreit jemand.« Henri hob den Tonarm an. Sein Vater kam gleichzeitig mit uns zur Haustür gerannt. Auf der Schwelle erwehrte sich Madame Fournier unter einer Wolke von Speicheltröpfchen eines Mannes, der in einer zu großen Jacke versank, unterm Arm eine Zeichenmappe. »Was soll der Quatsch?«, fragte Monsieur Fournier. »Kann man in diesem Haus nicht mal in Ruhe Zeitung lesen?« »Ich komme vom Herz-Jesu-Heim«, trug der Besucher vor. »Wir helfen bei der...


Andrea, Jean-Baptiste
Jean-Baptiste Andrea, Jahrgang 1971, ist ein französischer Romanautor und Filmemacher. Er wurde 2023 für den Roman »Veiller sur elle« mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet und gilt »in Frankreich als einer der vielversprechendsten Autoren seiner Generation« (DER SPIEGEL). Andrea wuchs in Cannes auf, später zog er nach Paris und machte dort seinen Abschluss in Politik- und Wirtschaftswissenschaften. Seine beiden Romane »Meine Königin« und »Von Teufeln und Heiligen« wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. »Von Teufeln und Heiligen« »strahlt eine unglaubliche Kraft aus« (Christine Westermann) und war das »Lieblingsbuch der französischen Buchhändler*innen«.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.