Arnold / Kaufmann / Schütz | Michael Kleeberg | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 102 Seiten

Reihe: TEXT + KRITIK

Arnold / Kaufmann / Schütz Michael Kleeberg

E-Book, Deutsch, 102 Seiten

Reihe: TEXT + KRITIK

ISBN: 978-3-96707-658-5
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



"Alles von ihm ist so nah bei uns und ziemlich hiesig. Ein Zeitgenosse schreibt, ein Dichter unserer Zeitläufe, hic et nunc." Jürgen Flimm

Michael Kleeberg ist weit über seine Generation hinaus einer der maßgeblichen Autoren der Gegenwartsliteratur. Eine Literatur, die sich nicht in privaten Befindlichkeiten ergeht, sondern historisch wie international übergreifende Zusammenhange unserer Gegenwart in den Blick nimmt. Seine zahlreichen Erzählungen, Essays und Romane zeigen ihn in einem weiten Spektrum als einen ebenso formbewussten wie streitbaren Autor, dessen Werk in Traditionen modernen Erzahlens wie bei Thomas Mann oder Marcel Proust gründet und sich dabei mit den aktuellen Herausforderungen des Lebens in gegenwärtiger Gesellschaft auseinandersetzt. Insbesondere seine großen Romane sind die eines genuinen Erzählers, eines von tiefer Empathie geleiteten "Verhaltensforschers am modernen Menschen" (Michael Braun). Sein Karlmann-Zyklus liefert, so Burkhard Muller in der 'Süddeutschen Zeitung', "nicht weniger als eine physiognomische Geschichte der Bundesrepublik, psychisch, geistig und sozial, von den frühen Achtzigern bis in die Gegenwart". Sein "Idiot des 21. Jahrhunderts " erweist Kleeberg einmal mehr als einen tief in der Weltliteratur gründenden, ebenso besorgten wie hellwachen Zeitgenossen.
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Weitere Infos & Material


- Michael Kleeberg: Geburtstagsfeier 3
- Jonas Nesselhauf: Vom Spiel mit den Türen. Michael Kleebergs Erzählpoetik in 24 Begriffen
- Lidwine Portes: Kleeberg in Prousts Fußstapfen. Weltliteratur hinter den Kulissen
- Michael Braun: "Besserem Verständnis". Thomas Manns Spuren in Michael Kleebergs "Ein Garten im Norden"
- Erhard Schütz: Beherrschte Verluste. Körper und Gewalt, Poesie und Paris – "Das amerikanische Hospital"
- Kai Kauffmann: Ungleiche Zwillinge. Zu Michael Kleebergs Romanen "Karlmann" und "Vaterjahre"
- Claudia Nitschke: Die Kontroverse um die Frankfurter Poetikvorlesung und "Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan"
- Stephen Brockmann: Utopie und Idylle in Michael Kleebergs Roman "Der Idiot des 21. Jahrhunderts"
- Florian Stühlmeyer: Auswahlbibliografie
- Notizen


Michael Kleeberg Geburtstagsfeier1
Was also an dieser bunten Gästeschar erweckt den Eindruck von Homogenität, und warum hat Charly den Eindruck, hier »den Ertrag« seines Lebens vor sich zu haben, womit er meint, dass seine Freunde einen Spiegel bilden, der vor allem ihn kenntlich macht? Lass es mich an folgendem Beispiel erklären: Irgendwann im VWL-Studium hatte die Handvoll KPD-MLler, die immer erfolglos versuchte, Marx und Lenin und Mao zu diskutieren statt Adam Smith und Schumpeter, beim Professor durchgesetzt, sich wenigstens mit Bahros Alternative zu beschäftigen, die damals recht frisch erschienen und in aller Munde war. Der Professor drehte den Spieß allerdings um und vergab eine Hausarbeit: »Leiten Sie historisch her, inwieweit Bahro von falschen Prämissen ausgeht und zu falschen Schlüssen kommt.« Damals hat Charly sich mit einer Passage beschäftigt, die hier zupass käme: Bahros Theorie vom ›überschüssigen Bewusstsein‹, das freigesetzt wird, der ›nicht mehr vom Kampf um die Existenzmittel absorbierten psychischen Kapazität, die in Praxis umzusetzen ist‹. Die moderne Produktionsweise, so Bahro, in der die intellektuelle Arbeit zum wesentlichen Faktor wird, erzeuge in den Arbeitenden Fähigkeiten und Wünsche, die in die Praxis umgesetzt werden wollten. So weit so gut. Nur lief es bei Bahro darauf hinaus, dass dieses überschüssige Bewusstsein im Spätkapitalismus nur zu erhöhtem Konsumwunsch führe und erst im wahren Sozialismus ›emanzipatorisch‹ werde und sich in idealeren, wertvolleren Sphären ergehe. Das Wort und der Gedanke, der Bahro gefehlt hat, um meine Gäste zu erfassen, denkt Charly, heißt Hobby. Die Gemeinsamkeit der Anwesenden liegt genau darin, dass sie alle ihr überschüssiges Bewusstsein in ihre Hobbies stecken, für die sie das Geld, die Zeit, die Fähigkeiten und die Leidenschaft mitbringen. Und natürlich die Reife, die dazugehört, um zu wissen, womit man sein Leben bestreitet und womit man seine Freizeit erfüllt. Und da Bahro keinen Begriff von Hobbies hatte, konnte er auch nicht ahnen, dass sich in ihnen das kompensatorische mit dem emanzipatorischen Element aufs Verträglichste vereint. Die 18-jährigen Gitarren- und Klaviervirtuosen, die wussten, dass sie nicht Jimmy Page und Elton John werden würden, zelebrieren Hausmusik oder spielen in Garagenbands die alten Hits nach. Die Sportler, die ahnten, dass es bei ihnen weder zu Boris Becker (es gibt einen Gast, der mal die Nummer 1001 der deutschen Tennisrangliste war) noch zu Dieter Baumann reichen würde, helfen in ihren Tennisclubs mit, bei den Ü-50-Bezirksmeisterschaften die Konkurrenz aus Trittau oder Grande zu besiegen oder bestreiten den Hamburg- oder Boston-Marathon oder irgendwelche Triathlons. Und auch, wenn sich kein Franz von Assisi und keine Mutter Teresa unter ihnen befinden, dann doch viele, die im Ehrenamt sozialen Tätigkeiten nachgehen und sich um Kinder, Kranke und Ausländer kümmern – und reichlich spenden (gegen Quittung). Wahrscheinlich spielen sogar welche in Amateurbühnen Agatha-Christie-Stücke nach oder tanzen argentinischen Tango – mit ihren Ehepartnern! In den Gesprächen nachher wird jeder beim andern faszinierende Entdeckungen machen können in dieser Hinsicht. Charly zum Beispiel hat sich jetzt neben dem Motorradfahren aufs Restaurieren alter Autos geworfen. Er steckt endlos Zeit in die Suche nach Originalteilen seines wunderbaren Pagodendach-280SL, einem W113 von 1970. Ein Grund also für die Homogenität von Charlys Gästen und für den Eindruck, dass sie wie ein erweiterter Zeitkörper seiner selbst wirken, ist, dass sie alle Hobbyisten sind. Was aber eben auch bedeutet: temperierte Menschen, vernünftige Menschen, Protagonisten einer Konformität, gegen die nur diejenigen das Wort erheben, die nicht das Zeug haben, aus eigener Kraft den Normen zu genügen, die die Gesellschaft und das Leben, ja die ganze Existenz zusammenhalten. Diese Konformität steht – wie Charly empfindet – nicht nur nicht im Gegensatz zur Individualität, sondern ist vielmehr die einzige Basis, auf der Individualismus sich entfalten kann, ohne abseitig, schädlich und parasitär zu werden. Diese Konformität hat auch etwas zu tun mit einer gewissen Familienähnlichkeit aller Anwesenden – Ähnlichkeit bei größtmöglichen individuellen Unterschieden. Diese Ähnlichkeit beruht auf dem Alter. Gemeint im umfassendsten Sinne: dem physischen Alter eines jeden, dem Zeitalter und einer gemeinsamen Art, in diesem Zeitalter zu altern. Das verlangt nach Erklärung. Nehmen wir so gänzlich verschiedene Physiognomien wie die von Meret, Charlys alter vormaliger Schul- und Bettfreundin, von Kai, seinem Studien- und Golffreund und von Ines, der Lebenszeugin seit fast einem halben Jahrhundert. Jeder von ihnen hat sich, seit Charly sie kennenlernte, physisch gewaltig verändert, was aber dem, der sich zu­­gleich mit ihnen verändert hat, genauso wenig auffällt oder ihn schockiert, wie ihnen selbst. Denn das Entscheidende hat sich nicht verändert: der Habitus, die Art zu sprechen, die Gestik, die sich so oder so äußernde Natur, der Blick, das Lächeln oder Lachen, die Art zu argumentieren oder sich zurückzunehmen. Vor allem anderen: die Stimme, ihr Klang, ihre Intonation. Man könnte, wollte man einen so veralteten wie vagen Begriff benutzen, sagen, dass in der Stimme die unveränderliche Seele aus einer veränderten Physiognomie he­­rausschaut und sie so sehr überstrahlt, dass sie sie quasi unsichtbar macht. Dabei ist Merets Gesicht verschrumpelt wie ein Apfel, der zu lange an der Luft gelegen hat und aus dessen Schale mit der Feuchtigkeit alle Spannung verschwunden ist. Als hätte jemand mit dem Kajalstift nachgeholfen, ziehen sich die tiefen Runzeln sternförmig vom Mund weg, dessen Lippen, was der fast orangerote Lippenstift noch unterstreicht, kaum dicker sind als sie. Diese Runzeln strahlen hinauf auf die Wangen, verlaufen entlang der Nase, über den Kiefer, und multiplizieren sich über das gesamte Gesicht hin in einem feinen, aber keinen Flecken aussparenden Myzel von Linien und Falten, mit dem Ergebnis, dass Merets Gesicht erschreckend an einen an einer Hüttenwand aufgehängten Schrumpfkopf erinnert, einschließlich der halb ledrig, halb pergamenten wirkenden Konsistenz der Gesichtshaut, die Charly aus Forscherdrang gerne einmal berühren würde, bestünde nicht die Gefahr, dass der Schrumpfkopf plötzlich zum Leben erwachte und sich das halb wissenschaftliche, halb angeekelte, in jedem Falle aber unzärtliche und unerotische Tasten und Tatschen verbäte – oder noch schlimmer: als Aufforderung zu weitergehenden Intimitäten verstünde und begrüßte. Kai, der getreue Lebensbegleiter und Schatten und – in grauer Vorzeit – Konkurrent; dein Alter Ego also, nett gesagt, trug vor unvordenklicher Zeit das flaumige Blondhaar in einer Frisur, die um 1964 als gewagt gegolten hätte, hat nun aber auch schon, so lange Charly denken kann, eine spiegel­blanke Glatze, Konsequenz, zu der er sich, jeglicher Halbheiten abhold, irgendwann durchgerungen hat. Im Laufe der Jahre ist aber, trotz Radfahren und Golfspielen, nicht nur sein Körper, ohne geradezu fett genannt werden zu können, massiger geworden – er wiegt seine runden 110 kg – auch der Schädel scheint zugenommen zu haben und beinahe – ohne dass sich die Züge darin ebenfalls vergrößert hätten – angeschwollen wie ein Blutmond, sodass jedermann, der den Film kennt, bei seinem Anblick unweigerlich Colonel Kurtz vor sich sieht, oder besser den ungesund teigigen Mondschädel des alten und übergewichtigen Marlon Brando. Nur dass Kai dann nicht, wenn er von seiner Frau genug hat oder ihm ein Putt danebengeht, »The horror, the horror« murmelt, sondern wenn Charly sich bei ihm für eine Gefälligkeit bedankt, mit derselben jungenhaften Stimme wie einst im Wiwi-Bunker und in liebevollem Missingsch entgegnet: »Da nich’ für, mein Schietbüdel.« Ines, auch schon mehrfache Großmutter, deren Sommersprossen rund um die Nase zu braunen Altersflecken verlaufen und verblasst sind, hat sich zu einer Matrone gewandelt, deren tonnenförmiger, von einem geblümten Sommerkleid umhängter Körper neben den knochig und klapprig gewordenen ihres sehr alten Mannes zusätzlich an Imposanz und Verdrängung gewinnt. Nach einem Schlaganfall vor einigen Jahren, von dem er sich recht gut erholt hat – lediglich auf einen Stock ist er beim Gehen angewiesen –, kommen Edschmidts Worte etwas verschliert und verschliffen heraus. Er stakst an ihrem Arm auf das Geburtstagskind zu, das er natürlich immer noch siezt und sagt: »Meie allerhääsch Lüggwüüsch, Ha-Enn«, worauf Ines, die so stabil wirkt, als könne sie ihn auch wie einen Lumpensack über der Schulter tragen, erklärend hinzufügt: »Volker gratuliert dir herzlich.« Offenbar ist sie es mittlerweile gewohnt, ihn zu übersetzen, selbst wenn es wirklich klar ist, was er sagen wollte. Danach bugsiert sie ihn nach drinnen zu den anderen Greisen und kommt dann, sich das Kleid glattstreichend, wieder heraus, wobei es ein wenig aussieht, als rolle sie auf Rädern und Schienen: Ihr Körper hat etwas entschieden Lokomotivenhaftes. Hals und Taille sind vollkommen verschwunden, der Hinterkopf liegt auf einem Wulst von Nackenspeck auf, und um diesen massiven Hals ist ein zu enges Platincollier geschnürt wie ein Kälberstrick. Ihr kehliges Lachen ist aber hell und blechern wie ehedem, und an ihm hört man, dass aus dem massigen Torso wie aus einer klobigen und unförmigen Pietà Rondanini die frühe, die eigentliche und ewige Ines herausgemeißelt werden könnte. All diese...


Kauffmann, Kai
Kai Kauffmann ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte sind Literaturgeschichte des 18.–21. Jahrhunderts, Literatur und Kultur um 1800 und um 1900, Zeitschriftenforschung, Feuilletonistik und Essayistik.

Schütz, Erhard
Erhard Schütz war bis 2011 Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin, zuvor und seither Literaturkritiker. Veröffentlichungen zur Literatur- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, zur Sachbuch- und Feuilletonforschung.

Kai Kauffmann ist Professor für Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte sind Literaturgeschichte des 18.–21. Jahrhunderts, Literatur und Kultur um 1800 und um 1900, Zeitschriftenforschung, Feuilletonistik und Essayistik.
Erhard Schütz war bis 2011 Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin, zuvor und seither Literaturkritiker. Veröffentlichungen zur Literatur- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, zur Sachbuch- und Feuilletonforschung.


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