Arquint | Plädoyer für eine gelebte Mehrsprachigkeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Gewicht: 1 g

Arquint Plädoyer für eine gelebte Mehrsprachigkeit

Die Sprachen im Räderwerk der Politik in der mehrsprachigen Schweiz und im europäischen Ausland

E-Book, Deutsch, 160 Seiten, Gewicht: 1 g

ISBN: 978-3-03810-041-6
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Mit dem Aufkommen der Nationalstaaten gelangten die Sprachen in den Fokus der Politik. Die neu sich bildenden Staaten mussten eine emotional positive kollektive Bindung zu den Bürgern schaffen. Die Nationalsprachen waren ein Mittel dafür. Diese verloren dabei ihre politische Unschuld. Mit dem Territorialitätsprinzip sicherte sich der Staat das Monopol über die Sprache, alle anderen auf dem Staatsgebiet benutzten Sprachen wurden mehr oder weniger diskriminiert. Die Schweiz ist zwar als Staat in exemplarischer Weise mehrsprachig, die Kantone mit ihrer Hoheit über die Sprachen haben jedoch das Modell der Nationalstaaten übernommen. Angesichts der gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen gilt es heute, das Prinzip des Grundrechts auf Sprachenfreiheit aus der Territorialitätsfalle zu befreien und es kantonsübergreifend und öffentlich zur Geltung zu bringen. Für die Bildung bedeutet dies: Mehrsprachigkeit wird zum Normalfall.
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1.  Mehrsprachigkeit – kein Problem im Ancien Régime Die Sprachen waren in der Feudalzeit eines der Merkmale sozialer Differenzierung und in geringem Masse ein Instrument politischer Machtausübung. In der katholischen Kirche herrschte das Lateinische vor, in Adelskreisen trendmässig eine der europäischen Kultursprachen mit einer Vorliebe für das Französische, in den Wissenschaften kämpften die Kultursprachen mit dem Lateinischen um die Vorherrschaft, während im Volk eine Vielfalt an Dialekten gesprochen wurde. Lehnwörter und Mischformen zeigen einen wertfreien und politisch unbelasteten Umgang der Menschen mit den Sprachen auf. Die Sprachen waren nicht mit territorialen Ansprüchen, welche die politischen Herrschaftsstrukturen durchzusetzen versuchten, verbunden.16 Die Lingua franca des Mittelalters war das Lateinische, das in verschiedenen Klangfarben und dialektalen Varietäten in Kanzleistuben, Universitäten und Klöstern verwendet wurde. Es waren zwei zeitgleich erfolgte Entwicklungen, welche die abendländische Welt revolutionierten und die Sprachen nachhaltig beeinflussen sollten. Zunächst betrafen diese die Kirche. Die Reformation hatte sich zwar schon angekündigt, konnte jedoch mit Gewalt, wie etwa beim Verrat und bei der Hinrichtung des tschechischen Reformators Jan Hus im 15. Jahrhundert, um 100 Jahre aufgehalten werden. Das Ausbleiben kirchlicher Reformen öffnete den Weg für die Reformation in Deutschland, in Genf und in Zürich. Die Reformation hatte einen starken aufklärerischen Impetus, galt es doch, nicht einzig einer bestimmten Elite, sondern dem Volk das «wahre» Evangelium und damit die Missstände der katholischen Kirche vor Augen zu führen. Die persönliche Beschäftigung mit dem Glauben wurde wichtig, und dazu musste man die biblischen Texte lesen und verstehen können. Die technische Voraussetzung für die Verbreitung der religiösen Schriften war Ende des 15. Jahrhunderts mit der Erfindung des Buchdrucks geschaffen worden. Das Buch wurde zur Handelsware und ermöglichte die Popularisierung und die Verbreitung der religiösen Literatur in der Sprache des Volkes. Die Volkssprache wurde zur eigentlichen Waffe einer religiösen Bewegung, die weite Teile Europas und mit einer Verspätung auch die katholische Kirche erfasste. Ein Beispiel für die rasante Verbreitung der Reformation und der Volkssprachen bis in die hintersten Bergtäler der Schweiz bietet das Engadin. Im Jahr 1560 gab der Oberengadiner Jurist Jachiam Bifrun eine rätoromanische Ausgabe des Neuen Testaments heraus. Das Oberengadin liegt weitab von den städtischen Zentren der Gelehrsamkeit, das «Puter», die Oberengadiner Variante des Rätoromanischen, wurde auch nur von einigen wenigen Tausend Menschen gesprochen. Der Chronist Aegidius Tschudi hatte zu derselben Zeit die Gründe dargelegt, weshalb «man Churwelsch nit schryben kann. Diese Rhetisch sprach ist nicht gericht, dass man sie schryben kann. Es ist ouch nit wunder das die sitten und spraach by jnen ergrobet dann als sie anfangs lange zyt allein die rühesten und obersten wildinen besessen». Der Jurist Bifrun fügte seiner Ausgabe des Neuen Testaments eine Sprachfibel, die Taevletta bei, um auch der einfachen Bevölkerung den Zugang zum Lesen und Schreiben zu ermöglichen. In seiner Einleitung weist er darauf hin, dass es in diesen wilden Tälern immer auch «lieud humaingia e cun schervellas» (humanistisch gesinnte Menschen mit Gehirn) gegeben habe. Bifruns Neues Testament wird in Basel gedruckt, doch zu gleicher Zeit wird auch schon in Poschiavo die Landolfsche Typographie gedruckt, und kaum 100 Jahre später findet man kleinere Druckereien im Unterengadin und im Bergell.17 Während im Mittelalter das Latein als Schriftsprache und die Volkssprachen vorwiegend als gesprochene Sprachen existierten, haben bis 1750 geschriebene Volkssprachen18 auch ausserhalb der kirchlichen und religiösen Welt an Terrain gewonnen. An der Buchmesse in Frankfurt 1650 wurden noch zwei Drittel der ausgestellten Bücher in lateinischer Sprache angeboten, 1770 waren es nur noch 38 Prozent. Ab etwa 1750 fanden die Volkssprachen Europas in Recht und Verwaltung, Literatur, Schule und Universität Eingang. Am schnellsten avancierten die Volkssprachen zur Sprache der naturwissenschaftlich orientierten scientific community. Natürlich erfolgte der Trend hin zu den Volkssprachen nicht einheitlich; so hielt sich das Latein hartnäckig im Einflussbereich der katholischen Kirche und bei der humanistisch geprägten Gelehrtenzunft. Das tiefe soziale Integrationsniveau der vorindustriellen Gesellschaften manifestierte sich auch als sprachliche Vielfalt, als Nebeneinander lokal und regional verankerter Mundarten und als Übereinander hierarchisch geordneter Idiome und Sprachen. Ein faszinierendes Bild gelebter Mehrsprachigkeit bietet Norbert Furrer mit seiner Dokumentation «Die vierzigsprachige Schweiz». Es ist eine der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die dem Phänomen des Sprachgebrauchs im Alltag der «Alten Eidgenossenschaft» nachgeht. Mit seinem Buch möchte Furrer «dem Leser, falls nötig, den Glauben an die ‹ursprüngliche› sprachliche Homogenität früherer Gesellschaften nehmen und ihn davon überzeugen, dass ‹Interkulturalität› keine postindustrielle Errungenschaft, sondern eine von den nationalistischen Monokulturen des 19. und 20. Jahrhunderts überlagerte und verdrängte Realität ist».19 Furrer beschäftigt sich eingehend mit der französischsprachigen Waadt, einem Untertanenland Deutsch-Berns, und schreibt: «Wie alle staatlichen oder vom Staat kontrollierten Institutionen waren die Bernischen vertikal und horizontal strukturiert: Doppelsprachigkeit, Schriftsprache und Dialekte, Landessprachen gegen Latein, eine mit ‹verdeutschten› lateinischen Wörtern durchmischte Fachsprache, manchmal finden sich in den Protokollen deutsche und lateinische Passagen usw.»20 Für das Ancien Régime waren sozial unterschiedliche Formen der Mehrsprachigkeit selbstverständlich, diese reichten bis in den Alltag des gemeinen Volkes. Kurz: «Für die gesellschaftliche Zuordnung der Sprachen im Ancien Régime lassen sich drei Merkmale herausschälen: die Kleinräumigkeit der mundartlichen Sprachterritorien, die sprachliche Mehrschichtigkeit der Gesellschaft und die starke Durchlässigkeit der horizontalen und vertikalen Sprachgrenzen.»21 Furrer korrigiert damit die naive Vorstellung, dass wir uns von einer «seit jeher» mono-sprachlichen zu einer postindustriellen multi-sprachlichen Gesellschaft entwickelt hätten. Das Gegenteil ist der Fall. Aus allen Herren Ländern begegnete man Hausierern und Fahrenden, die Kleinhandel betrieben; in Rechts- und Strafsachen kam das gemeine Volk mit den Sprachen der Herrschenden in Berührung, Auswanderung und Verfolgungen lösten sich ab, Söldner kehrten in die Heimat zurück, irgendwie musste und konnte man sich auch verständigen. Im gemeinen Volk herrschte eine natürliche und wenig strukturierte Mehrsprachigkeit vor. Furrer stellt uns den Korbmacher Peter Nicolet aus Murten vor, 35 Jahre alt, 5 Schuh, 11 Zoll hoch, er sprach Französisch, Deutsch, Holländisch, Italienisch und das Freyburger Patois. Aus der Fülle der untersuchten Dokumente schliesst Furrer: «Kaum bestreiten lässt sich, dass Mehrsprachigkeit kein exklusives Privileg der Eliten war, sondern auch im ‹Volk› vorkam.»22 Erst recht gilt dies für die allerdings dünne Schicht der Intellektuellen, Pfarrer und Juristen, deren Mehrsprachigkeit oft ein beachtliches Niveau erreichte. Johann Conradin Bonorand, Pfarrer in einer Engadiner Berggemeinde, weist sich als gebildeter Polyglott aus; stolz «summarisiert» er 1686 eine Leichenpredigt in einer «achtzüngigen Prosopopaeia» und einem Klag-Echo. Dass die Menschen unverkrampft mit den Sprachen umgingen, zeigt sich auch im selbstverständlichen Gebrauch von fremdsprachigen Ausdrücken, Lehnwörtern und Sprichwörtern. Auch wechselte man lustvoll von der einen zur anderen Sprache.23 So bemühten sich die Engadiner Auswanderer, die rätoromanische «Bauernsprache» durch Italianismen und Lehnwörter aus dem Französischen zu «annöblieren». «Die im Anfang des 16. Jahrhunderts willkürlich angenommene Orthografie, die sich von Zeit zu Zeit ändernde Aussprache, der Umgang mit den benachbarten Deutschen und Italienern, die häufigen Reisen in fremde Länder, um Kaufmannschaft zu treiben, und der Kriegsdienst bei fremden Potentaten haben zu einer Anreicherung des Rätoromanischen durch Lehnwörter geführt. Daher kommt es, dass man so viele eigentlich deutsche, italienische und besonders im Oberen Engadin französische Wörter in der Sprache antrifft, doch geschieht dies weit häufiger im Reden als in Schriften.»24 Nicht selten kam es bei ihnen auch zu italianisierten Namensänderungen wie Betschla zu Bezzola, Gianzun zu Ganzoni usw. Die politischen Verhältnisse im dreisprachigen Freistaat Graubünden werden von einem Zeitgenossen folgendermassen beschrieben: «Wollte man den auffallenden Kontrast zwischen den Edelleuten und den vornehmeren und aufgeklärteren Bauern sehen, den Unterscheid (sic!) zwischen einem halb gebildeten Bürger und einem rohen Landmann bemerken, so müsste man Chur zur Zeit eines Bundstages besuchen … Der gemeine Mann hingegen, ohne Erziehung und Kenntnisse, ohne Geschmack und Gefühl, petitmässig, besieht sich im Spiegel, rupft an den grossen Manschetten und der breiten Halskrause, schlägt den silbernen Degen an die Waden, spricht Italienisch, wenn er aus einer...


Romedi Arquint (* 1943), Theologiestudium und Pfarrer in Bivio 1967–1971, Gymnasiallehrer, Wissenschaftlicher Adjunkt im Bundesamt für Kultur 1983–1991, Präsident der Lia Rumantscha und der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen, Mitglied der Stiftungen CONVIVENZA und BABYLONIA, Bündner Grossrat 1995–2010. Als Rätoromane ein Prototyp europäischer Mehrsprachigkeit.


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