Azzam | Wie ein ferner Herzschlag | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 167 Seiten

Reihe: Arabische Welten

Azzam Wie ein ferner Herzschlag

Roman aus Syrien

E-Book, Deutsch, 167 Seiten

Reihe: Arabische Welten

ISBN: 978-3-85787-923-4
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Der aufwühlende Erstling des syrischen Autors beruht auf einer wahren Begebenheit und erinnert in seiner ausweglosen Konsequenz an ein klassisches Drama.
Die schöne, einsame Salma lebt in einem drusischen Dorf im Süden Syriens. Früh schon hatte ihr tyrannischer Onkel sie in eine arrangierte Ehe mit Saîd gezwungen. Als ihr Mann, der sie regelmäßig vergewaltigt, für längere Zeit ins Ausland geht, begegnet sie dem schüchternen jungen Lehrer Abdalkarîm. Erste zarte Bande werden geknüpft. Unterdessen peinigt Saîds Stiefmutter - rasend vor Eifersucht, hatte sie doch einst selbst eine Affäre mit Salmas Ehemann - ihre Schwiegertochter bis zur Erschöpfung. Die Liebe einer verheirateten Frau zu einem anderen Mann ist freilich eine Provokation für die dörfliche Gemeinschaft mit ihren verknöcherten Traditionen, und die scheinheilige Fassade, mit der Salmas mächtiger Onkel seine sexuellen Eskapaden und politischen Karriereträume zu kaschieren weiß, wird brüchig. Am selben Tag, da er nach jahrzehntelangem Intrigieren endlich in die Riege der Oberhäupter des Dschebel al-Durûz aufgenommen werden soll, flieht Salma und vereitelt so all seine Pläne. Mit »Wie ein ferner Herzschlag« liegt erstmals ein Roman Mamdouh Azzams, eines der bedeutendsten syrischen Autoren der Gegenwart, in einer europäischen Sprache vor. Der Roman wurde 1996 in Syrien verfilmt.
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1
Am Morgen erbrach sie Blut. Zum ersten Mal, seit man sie vor einem Monat hierhergebracht und die Tür dieses Raumes abgeschlossen hatte, spürte sie, dass ihr die Beine einknickten. Dass ihr Körper hinfällig geworden war, zu ausgetrocknet, zu leicht, um den schweren, matten Kopf zu tragen. Zum ersten Male auch widerte sie das Essen an. Die breiige Masse auf dem Teller vor ihr schien einen abscheulichen Dunst von rohem Fleisch zu verströmen. Es war der Geruch ihres eigenen Blutes. Sie konnte das Blut nicht sehen. Der Raum lag zu tief. Er war düster, kein Licht fiel herein. Nur ein fahler Schein drang durch die Ritzen der Holzläden vor dem Fenster. Als die Übelkeit sie zu Boden zwang und der Schweiss ihre Kleider mit Feuchtigkeit und ranzigem Geruch tränkte, glaubte sie anfangs, sie habe vielleicht zu lange mit dem Nachtmahl gewartet und das Essen sei verdorben. Sie konnte nicht sehen, ob die Speise verfärbt war. Was sie verzehrte, erkannte sie allein am Geschmack. Sie schob das alles auf die Finsternis. Inzwischen hatte sie vergessen, dass sie ihre Umgebung während der ersten beiden Wochen noch recht gut wahrnehmen konnte, nachdem sich ihre Augen einmal an die Dunkelheit gewöhnt hatten. In der letzten Woche aber hatte ihre Sehkraft stark nachgelassen. Seitdem erblickte sie die Dinge nur noch wie durch einen feinen, von Nebelschwaden durchwehten Schleier. Erscheinungen tauchten vor ihr auf, unwirklich, verzerrt wie im Traum: eine Wolke blasser Vögel, Gebinde aus weissen und schwarzen Blumen, funkelnde Blitze, kräuselnde Rauchsäulen. All das gewann Gestalt vor ihren Augen und zog dahin über eine einförmige, trostlose Mauerkulisse aus geschichteten Steinen von unterschiedlicher Grösse, die manchmal, wenn sie ein schwacher, zitternder Lichtstrahl durch die Ritzen traf, kurz aufleuchteten, um alsbald wieder ins schwärzliche Indigo ihrer stereotypen Muster zu versinken. Der Raum, in den man sie gesperrt hatte, war der einzige Keller im ganzen Dorf. Ihr Urgrossvater hatte ihn einst ausgehoben, als er aus Anatolien zurückgekehrt war. Alle Welt kannte den Grund: Er war aus dem osmanischen Heer desertiert. Beim Bau des Kellers hatte er ein kleines Fenster offen gelassen, das leicht zu tarnen war, indem man Mist und Dung vor die Läden häufelte. Der Zugang selbst war freilich unauffindbar, denn es gab nur eine Luke von einem Dreiviertelmeter im Quadrat, gut versteckt in der abgelegensten Ecke des Vorratsspeichers. Den Raum darunter nannte man, warum auch immer, das »Pferdehaus«. Die alten Frauen, die ihre Gefangenschaft überwachten, hatten schon vorher allen Schmutz und Unrat unter dem Fenster beseitigt. Sie hatten die Stelle gründlich gefegt, den Erdboden gelockert und Pfefferminze angepflanzt, die sie täglich gossen. Sie wollten nicht, dass sie allzu schnell starb. Eine von ihnen machte sich sogar daran, mit einem Messer, das sie ihren beiden älteren Schwestern heimlich entwendet hatte, eine Ritze im Fensterladen zu erweitern. Den ganzen Tag war sie damit beschäftigt gewesen und glaubte noch, eine gute Tat vollbracht zu haben. Sobald man Salma hereingeführt hatte, war mit ihnen eine verblüffende Wandlung vor sich gegangen. Plötzlich entstiegen sie den Todessümpfen, in denen sie begraben gelegen hatten, ihrem endlosen altjüngferlichen Dasein, und sie durchliefen eine Serie ungeheurer Metamorphosen. Das Leben durchströmte, durchpulste sie wieder, wie Löwinnen stürmten sie los, hinaus in die Welt. Sie spülten den Moder der Lethargie von sich ab, sie lausten einander wie Äffinnen und kämmten ihr Haar. Danach kleideten sie sich in ihre besten Gewänder, die sie seit ewigen Zeiten aufbewahrt hatten. Die Pflege des bepflanzten Beetes vor dem Kellerfenster war ein ritueller Bestandteil ihres strahlenden Aufbruchs. Das Fenster zeigte gen Westen, hinüber zum Schafpferch, der auf einem Felsen hoch über dem winterlichen Wadi errichtet war. Mit seinen ragenden Hürden und starken Wänden erschien er von weitem wie eine Zitadelle. Salma hatte denn auch niemals versucht, zum Fenster zu gelangen und um Hilfe zu rufen. Seit sie das Blöken der Schafe und das Muhen der grossen Damaszenerkuh gehört hatte, war sie überzeugt, dass niemand sie finden würde. Sie kannte ihren Kerker. In den ersten Tagen hatte sie ihre Hoffnung auf die Falltür gesetzt. Ein paarmal war sie die Mauer hinaufgeklettert und hatte mit der Faust gegen das dicke schwarze Holz getrommelt. Die alten Frauen mussten es mitbekommen haben. Ihr Bruder stand auch dabei, er nickte ihnen zu. Sie wussten ohnehin, was zu tun war. Wie oft hatten sie zugesehen, was ihre Mutter unternommen hatte, um den Vater zu verstecken, wenn von weit her das Waffengeklirr der osmanischen Soldaten oder hernach die Gewehrschüsse der französischen Söldner zu ihnen schallten.1 Sie füllten zwei Hanfsäcke mit Weizen, zerrten sie auf die Luke und deckten eine grobe Matte aus Ziegenhaar darüber. Ihnen war bewusst, dass sie Salmas verzweifeltes Klopfen jetzt nicht mehr hören würden. Aber wenn sie allein im Haus waren, schlichen sie trotzdem heran und spitzten die Ohren. Wie ein ferner Herzschlag drang es aus der Tiefe zu ihnen herauf und weckte in ihren verdorrten Leibern eine unbändige Gier nach Leben. Später, als das unterirdische Pochen verstummte, liessen sie davon ab. Nach und nach befiel sie eine zermürbende Traurigkeit. Sie spürten, dass ihr Dasein wieder in die Gräben tödlicher Langeweile zu entgleiten drohte. Die einzige Abwechslung, die ihnen blieb, war, für Salma ein Fladenbrot zu backen und ihr die Nahrung hinabzuwerfen. Es war, als vermöchte allein der Rhythmus von Salmas Jammerlauten aus dem Keller unter ihnen ihren trägen Puls zu beschleunigen. Doch Salmas Entschlossenheit war erschlafft. Noch am ersten Tag der dritten Woche hatte sie versucht, die Steine zu erklimmen und die Falltür zu erreichen. Es war ihr nicht gelungen. Sie verzichtete auf einen neuen Versuch, sie fühlte, dass sie nicht mehr wollte. Plötzlich hatte sie nach Luft gerungen, sie glaubte ersticken zu müssen. So zog sie sich an den vorspringenden Steinschichten auf der Fensterseite empor, um durch die Risse und engen Spalte etwas frische Luft zu schöpfen. Der Duft der Pfefferminze belebte sie ein wenig. Lange konnte sie sich freilich nicht dort oben halten. Ihre Hände ermatteten, sie ahnte, dass sie fallen würde. Dann stürzte sie zu Boden. Von diesem Moment an war sie ständig müde. Eigentlich schlief sie nicht. Es war eine Art Betäubung, die sie erfasste und wie in Ekstase zwischen vagen Phantasiegebilden umherirren liess – Visionen von Sternen, jubilierenden Vogelchören, gleitenden Fischen in Fluten elfenbeinfarbenen Wassers. Das Einzige, was ihr blieb, war ihr Gedächtnis. Jeden Augenblick lagen die Pfade der Erinnerung hell und strahlend vor ihr, nichts konnte die Bilder ihrer schönen Tage trüben. Lange verweilte sie in den Gärten der Vergangenheit, durchstreifte die heiteren Gefilde ihres entschwundenen Glücks, versenkte sich in die selige Tiefe schattiger Stunden, gleichgültig gegen die Zeit, die darüber verstrich. Bald bewegte sie sich nur noch, um die Lage ihres ausgestreckten Körpers auf den zerschlissenen Baumwollmatratzen zu verändern. Seit einigen Tagen vertrödelte sie das Essen. Meistens bestand ihre Mahlzeit aus einem grossen Fladenbrot mit ein paar Oliven oder einem Stück Käse. Ihre Tanten warfen alles in einem Stoffbündel zu ihr herunter. Salma wusste nicht, dass es Fetzen von ihren Kleidern waren, zwei hatten sie schon zerrissen. In diese Lappen wickelten sie die Wegzehrung des Todes und liessen sie vor Mitternacht durch die Luke fallen. Keine von ihnen mochte ihr ins Gesicht blicken, sie fürchteten, von Mitleid überwältigt zu werden. Trotzdem konnten sie nicht verhindern, dass ihnen Floskeln des Mitgefühls und Bedauerns entschlüpften, sooft sie ihr, einander abwechselnd, die Speise zuwarfen. Salma hörte sie, aufrichtig bekümmert stiessen sie ihre Seufzer aus. Weiter gingen sie allerdings nicht. Niemals kam ihnen der Gedanke, sie den Klauen des nahenden Todes zu entreissen. Im Gegenteil, sie verfeinerten ihren mörderischen Proviant, indem sie jedes Mal eine noch originellere, noch kuriosere Rezeptur erfanden. Diese Aufgabe beflügelte sie in ihrer Arbeit und entschädigte sie für all die banalen Tage, die leeren Jahre ihres Daseins. Seit Salma zu klopfen aufgehört hatte und der Rhythmus des Lebens abgebrochen war, der sie unverhofft wachgerüttelt hatte, nahm die Zubereitung der Speisen ihre ganze Zeit in Anspruch. Mal streuten sie ein paar Löffel Zucker über den Fladen, mal legten sie einen Würfel Lokum mit Mastix dazu, bisweilen auch einen halben Hefekuchen, ein Schüsselchen Reis mit Linsen oder eine Tomate. Als aber Umm Mutaab vorbeikam und ein Stück Halâwa mit Dattelhonig und Sesampaste brachte, sagten sie ihr kein Sterbenswörtchen, und obwohl sie wussten, dass es für Salma bestimmt war, assen sie alles auf. Anschliessend gingen sie mit enthusiastischer Entdeckerfreude daran, selbst eine Halâwa zu backen. Am Abend schickten sie Salma eine Riesenportion ihrer Todeshalâwa hinunter, von der sogar eine Kuh satt geworden wäre. So etwas betrachteten sie stets als ein hochwichtiges Ereignis, über das sie ausgiebig berieten und diskutierten, ja miteinander stritten. Doch am Ende hatten sie sich noch jedes Mal auf eine neue Idee geeinigt – um die Tragweite ihrer Vorschläge wissend, in schweigender, rechtfertigender Übereinkunft. Ihnen war durchaus klar, dass sie Salmas Leben verlängerten. Aber sie hatten alle drei nur einen einzigen Gedanken: Was würde ihnen nach Salmas Tod bleiben ausser der fauligen Leere eines nebelverhangenen Daseins? Ihre letzte Nacht schien sich...


Mamdouh Azzam wurde 1950 in eine drusische Familie in einem Dorf bei Suwaida geboren. Nach dem Studium der arabischen Literatur und Sprache an der Universität Damaskus arbeitete er als Lehrer. Seit 1995 ist er freier Schriftsteller. Er veröffentlichte fünf Romane und zwei Erzählbände und gehört zu den bekanntesten Vertretern des zeitgenössischen syrischen Romans. Azzam lebt in Suwaida.


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