Humanität, das Gute und die Bestimmung des Menschen
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-451-82666-5
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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2. »Social Genomics«: Gene und »gutes Leben«
Für welches Leben sind Menschen bestimmt? Ein seit Darwins Zeiten zwischen Evolutionsbiologie und Wirtschaftswissenschaften wie in einem Ping-Pong-Spiel hin und her gespielter Ball war – und ist – das Dogma, der Mensch sei ein primär auf Egoismus, Wettbewerb und gegenseitige Verdrängung ausgerichtetes Wesen. Wäre dies der Fall, welche Aussicht auf Erfolg hätte dann das Projekt einer »neuen Aufklärung« (siehe Einleitung)? Ein Versuch, den Egoismus in der Biologie insgesamt und speziell auch beim Menschen als das vorherrschende Prinzip darzustellen, war das 1976 von Richard Dawkins veröffentlichte Buch Das egoistische Gen. Das Werk wurde zu einer biologischen Legitimation eines zunehmend entfesselten Kapitalismus. Der Autor hat den Sozialdarwinismus kurzerhand auf die Gene übertragen. Dawkins selbst hat nicht an Genen geforscht, was die unhaltbaren Thesen seines Buches erklären, seine verhängnisvollen Folgen aber nicht aufheben kann. Der Forschung an Genen war ein Teil meines beruflichen Lebens gewidmet. Dawkins’ Behauptung eines »egoistischen« Gens ist absurd. Sie kommt mir vor, als hätte der Inhaber eines Uhrengeschäfts, nachdem er eine Schweizer Uhrenfabrik besucht hat, ein Buch mit dem Titel »Das egoistische Uhrwerkrädchen« geschrieben. Wenn es um die Frage geht, was ein Lebewesen seiner Natur nach sei, dann gelten die Gene als eine Art höchste und letzte Instanz. Gene sind tatsächlich ungeheuer bedeutsam. Daher werde ich zunächst damit beginnen, die Bedeutung der Gene als Kommunikatoren und Kooperatoren aufzuzeigen. Gestützt auf Experimente, die in den letzten Jahren dazu durchgeführt wurden, werde ich dann darlegen, dass der Mensch »aus Sicht der Gene« nicht für ein egoistisches, sondern für ein Sinn-geleitetes, prosoziales Leben bestimmt ist. Menschliche Gene bestehen aus einer Art gedrehtem Doppelfaden. Die Fachleute nennen diesen Doppelfaden »DNA-Doppelhelix«1. Wir haben es bei der DNA mit einer Struktur zu tun, deren Maße um mehr als vier Dimensionen unter der Größenordnung der Strukturen in einem Microchip liegen.2 Sichtbar machen lässt sich die Doppelhelix, also »der Stoff, aus dem die Gene sind«, nur mit dem Elektronenmikroskop. Ein »Gen« ist diejenige Strecke des Doppelfadens, welche die Bauanleitung für ein Eiweiß-Molekül, das heißt für ein Protein enthält. Der Doppelfaden in seiner gesamten Länge einschließlich aller Gene ist das »Genom«, also das, was auch als »Erbgut« bezeichnet wird. Das Genom und seine Gene sitzen in den Zellkernen unserer Körperzellen. Da außerhalb der Zellkerne, also »draußen« im Körper, Eiweiße beziehungsweise Proteine den gesamten Stoffwechsel steuern,3 sind die in den Genen verborgenen Protein-Baupläne von großer Bedeutung. Der Mensch hat etwa 23 000 Gene. Die Zahl der Proteine liegt beim Menschen bei etwas über 30 000. Sie ist höher als die Zahl der Gene, weil eine ganze Reihe von Genen Mehrfach-Baupläne enthalten.4 Unser Erbgut als Klaviatur: Wer greift in die Tasten?
Das menschliche Genom gleicht einem Klavier, das bespielt wird.5 Die Pianistinnen und Pianisten, die an diesem Klavier spielen, sind unsere Lebensstile und die Erfahrungen, die wir im Leben machen. Zum Lebensstil gehört die Art, wie wir uns ernähren, ob und in welchem Umfang wir uns bewegen, welche Gifte oder Strahlungen auf uns einwirken, wie sauber – oder belastet – unsere Umwelt ist, wie viel Stress wir ausgesetzt sind und wie sich unsere zwischenmenschlichen Beziehungen gestalten. Psychische Stressoren und soziale Erfahrungen haben sich in den letzten Jahren als die einflussreichsten auf unsere Biologie einwirkenden Faktoren herausgestellt. Sie bestimmen sogar, wie lange wir leben. Die große Mehrheit aller Erkrankungen ist nicht erblich, sondern wird dadurch verursacht, dass die Klaviatur unserer Gene in einer Art und Weise bespielt wurde, die – um im Bild zu bleiben – zu Missklängen oder zu einer Beschädigung des Klaviers geführt hat. Was die Gesundheit des Menschen schützt, ist eine Lebensweise, die dem Klavier – unserem Körper – eine »Musik« entlockt, mit der sich unser Körper auf Dauer wohlfühlt. Diese Grundregeln der Gesundheit gelten in allen Ethnien. Jedes Gen entspricht einer Klaviertaste: Eine Taste kann unberührt, also still bleiben (in diesem Falle ist das Gen nicht aktiv). Sie kann aber auch leise oder laut angeschlagen werden (das Gen wäre dann schwach oder stark aktiviert). Gene können einzeln oder in unterschiedlichen Gruppen, schwach oder stark aktiviert werden. Die Klaviatur der Gene zu spielen, bedeutet konkret: Gene in einer gesundheitsdienlichen Weise zu aktivieren (»Aufregulation« der Genaktivität) oder zu inaktivieren (»Herabregulation« oder »Stummschaltung« der Genaktivität).6 Fazit: Entscheidend für Gesundheit und Krankheit des Menschen ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht die Frage, ob jemand »gute« oder »schlechte« Gene geerbt hat, sondern wie Gene im Leben eines einzelnen Menschen in ihrer Aktivität reguliert werden. Darauf kann jeder Mensch selbst Einfluss nehmen.7 Unser Erbgut ist ein überaus lebendiges, ständig in Bewegung befindliches System. Es nimmt »von außen« eintreffende Signale wahr und kann diese mit eigenen Reaktionen beantworten.8 Gene sind Kommunikatoren: Das Erbgut richtet die Aktivität seiner Gene fortlaufend danach aus, welche Signale – aus der Sicht der Gene – »von außen« (von außerhalb der Zelle) eintreffen. Gene sind jedoch nicht nur Kommunikatoren. Sie sind auch Kooperatoren: Damit der Bauplan eines Gens abgelesen werden und zur Entstehung eines Proteins führen kann, müssen Dutzende von Molekülen zusammenarbeiten und beim Ablesen des Gens Hilfe leisten. Diese Helfermoleküle müssen ihrerseits von Genen hergestellt werden. Nur etwa zwei bis drei Prozent des gesamten Erbgutes bestehen aus den »eigentlichen« Genen, also aus Genen, die Baupläne für die Herstellung von Proteinen enthalten. Etwa 80 Prozent des Erbgutes besteht aus Genen, die – salopp ausgedrückt – für die Logistik zuständig sind.9 Für die »Lieferkette«, also für die Anlieferung von Rohstoffen (Molekül-Bausteinen), für die Steuerung des Produktionsprozesses, für den geregelten Abtransport sowie für die korrekte Zustellung von Proteinen an die richtige »Lieferadresse«.10 Viele Zellen unseres Körpers erneuern sich durch Zellteilung, auch dafür bedarf es einer komplexen Steuerung, Kommunikation und Kooperation durch Gene. In den Kinderjahren der Erbgutforschung, als man von der Regulation der Genaktivität noch nichts wusste, war man überzeugt, Gesundheit und Krankheiten würden in einer binären Weise gesteuert (»An« oder »Aus«, »gutes« Gen oder »schlechtes« Gen). Man betrachtete Krankheiten wie die Farben der Erbsenpflanzen, an denen der tschechisch-österreichische Augustinermönch Gregor Mendel vor knapp zweihundert Jahren die Grundlagen der Vererbung erforscht hatte. Die vereinfachte Lehre von den angeblich »guten« und »schlechten« Genen hatte, da man alle Mängel auf Vererbung zurückführte, die Eugenik, den Rassismus und die verbrecherische »Vernichtung lebensunwerten Lebens«11 zur Folge. Dafür ist der verdienstvolle Gregor Mendel natürlich nicht haftbar zu machen, er hätte diese unmenschliche Entwicklung als Christ entschieden abgelehnt. Psychosozial und psycho-somatisch bedingte Störungen wie Suchtkrankheiten, Verhaltensstörungen bei Kindern sowie sämtliche psychischen Erkrankungen wurden bis vor gar nicht so langer Zeit zu Erbkrankheiten erklärt, ebenso wie viele körperliche Erkrankungen (Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes, Herzkrankheiten, Anfälligkeit für Infektionen unter anderen). Von allen diesen Erkrankungen wissen wir heute, dass sie ihre Ursachen überwiegend in den Lebensumständen haben, die einem Menschen zugefügt (oder von ihm gewählt) wurden. Zu den verheerenden Irrtümern des Rassismus gehört auch, dass den Ethnien dieser Welt (Afrikanern, indigenen Amerikanern, Asiaten, Kaukasiern12) Genome unterschiedlicher Wertigkeit unterstellt wurden. Leider stand auch der große Charles Darwin für diese Irrtümer, die allerdings weit vor seine Zeit zurückreichen, Pate. Die wissenschaftlich unhaltbaren Ansichten des Rassismus wurden wie eine Wissenschaft gehandelt. Sie wurden über mehr als hundert Jahre – bis in die jüngste Zeit hinein – in die Köpfe eingetrichtert und sind bis heute der Nährboden für Ausgrenzung, Hass und Kriege. Was hier alleine helfen kann, ist Aufklärung (im Rahmen der eingangs geforderten »neuen Aufklärung«) und bessere Bildung für alle Kinder. Wie soziale Erfahrungen den Weg zu den Genen finden
Bevor wir Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen einer Sinn-geleiteten, prosozialen Lebenseinstellung und Veränderungen im Genaktivitätsmuster näher unter die Lupe nehmen, sollten wir uns an einem gut erforschten Beispiel anschauen, wie es sein kann, dass nichtstoffliche soziale Erfahrungen wie beispielsweise seelischer Stress den Weg in den Körper, in die Körperzellen und bis hinein zu den Genen finden. Der Köper besitzt die Fähigkeit, auf soziale Erfahrungen mit biologischen Veränderungen zu reagieren oder, anders ausgedrückt, Psychologie in Biologie zu...