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E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Bauer Realitätsverlust

Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen – und die Menschlichkeit bedrohen

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-641-30520-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Nominiert für den NDR-Sachbuchpreis: »Menschen brauchen, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben, die analoge Präsenz anderer Menschen.« JOACHIM BAUERDie Menschlichkeit ist in Gefahr. Künstliche Intelligenz wird unsere Lebenswelt radikal verändern – ob am Arbeitsplatz, in Schulen, in der Medizin oder in vielen anderen Bereichen. Ihre Schöpfer verkaufen KI als dem Menschen ebenbürtig, ja überlegen. Gleichzeitig fliehen wir vor der Realität immer öfter in die virtuellen Welten der sozialen Netzwerke, Apps und Games.In seinem neuen Buch mahnt der Arzt, Neurowissenschaftler und Bestseller-Autor Joachim Bauer: Reale Begegnungen, zwischenmenschliche Resonanz und analoge Präsenz sind für die Entwicklung des menschlichen Selbst, für unsere Gesundheit und den gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar. Ein Plädoyer für ein neues Zeitalter der Aufklärung, für ein Aufbegehren gegen digitale Unmündigkeit.
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2. KAPITEL Menschliche Eigenschaften »Vieles kann der Mensch entbehren,
nur den Menschen nicht.« Carl Ludwig Börne (1786–1837) Die Menschheit ist verunsichert, sie scheint sich ihrer selbst nicht mehr gewiss zu sein. Eine der unbewussten Suggestionen, welche durch die Entwicklung digitaler Maschinen mit Künstlicher Intelligenz (KI) ausgelöst wurden, besteht darin, der Mensch müsse sich von nun an für seine Existenz rechtfertigen. Computer konnten zunächst den weltbesten Schachspieler, dann den weltbesten Go-Spieler schlagen. Generative KIs können aus den gewaltigen Mengen an Material, mit denen wir sie gefüttert haben, Bilder, Filme und Texte produzieren (siehe dazu Kapitel 5). Aus der ständigen Wiederholung eines Vergleichs zwischen Mensch und KI und dem ehrfürchtigen Tenor, mit dem über die zweifellos bewundernswerten Fortschritte der digitalen Welt berichtet wird, spricht die unbewusste Angst, unsere Spezies könnte entsorgt werden. Beruht das Existenzrecht unserer Spezies darauf, dass wir mehr Speicherkapazität oder mehr Rechenleistung als eine digitale, mit Künstlichen Neuronalen Netzen ausgestattete Maschine haben müssten, oder darauf, dass die Besten unter uns sich von Computern im Schach- oder Go-Spiel nicht besiegen lassen dürften? Die Vermutung, wonach diese Angst sich immer mehr verbreitet, entspringt nicht nur einer psychoanalytischen Diagnose. Dass der Mensch als Spezies durch KI-Systeme existenziell infrage gestellt sei, wird von prominenten Wortführern des Transhumanismus seit Jahren ausdrücklich behauptet (siehe Kapitel 4). Wir sollen so denken, wir sollen das glauben. Es ist Teil der digitalen Mystik. Dass von zwei Produkten, die ihrer Art nach gleich sind, das weniger leistungsfähige entsorgt wird, erscheint logisch.8 Dies setzt aber voraus, dass es sich um zwei tatsächlich vergleichbare Produkte handelt. Menschen und Computer mit KI sind aber keine vergleichbaren Produkte, sie werden es auch nicht dadurch, dass sie ständig miteinander verglichen werden. Was Menschen von KI unterscheidet: Intrinsisches Welt-Interesse Der Mensch hat ein intrinsisches – heißt: von innen kommendes, zur eigenen Natur gehörendes –, bereits zum Zeitpunkt der Geburt in ihm angelegtes, spontanes Welt-Interesse, das sich gleichermaßen auf seinesgleichen und auf die natürliche Umwelt richtet. Ein Computer hat, auch wenn er mit Künstlichen Neuronalen Netzen ausgestattet ist, kein intrinsisches, kein in seinem Wesen liegendes spontanes Welt-Interesse, schon gar nicht ein Interesse an seinesgleichen. Er wird nur Aufgaben erledigen, für die er trainiert wurde, was er dann allerdings meistens besser kann als der Mensch. Quelle und Ausgangspunkt des Welt-Interesses ist der menschliche Körper. Er beheimatet nicht nur unsere Gefühle, er ist vor allem auch die Basis der Entwicklung von Intelligenz. Der Körper ist die Schnittstelle zwischen dem sich entwickelnden Gehirn, welches Teil des Körpers ist, und der realen Welt. Verstand, Vernunft und Intelligenz gelangen bei jedem einzelnen Menschen nur über die Erfahrungen ins Gehirn, die sein lebender, mit der Realität interagierende Körper in einer realen Umwelt macht. Umgekehrt macht Intelligenz keinen Sinn, wenn sie nicht Teil eines Subjekts ist, das Zugang zur Realität der Welt hat. Dieses Subjekt ist der Körper. KI-Maschinen bestehen aus Schaltkreisen, haben aber keinen lebenden Körper, von dem ein Welt-Interesse ausgeht. Man kann sie mit einem simulierten Körper verbinden, der ihnen aber kein Welt-Interesse einflößt. Vertreter der Digitalkonzerne, die dem sogenannten Transhumanismus anhängen, und eine Reihe von Philosophen verachten den biologischen Körper (siehe dazu Kapitel 4 und 5) und reduzieren den Menschen auf sein Gehirn, welches sie als Biologie-freies Wesen fantasieren. Der biologische Körper diene »nur« den Gefühlen, die ja ohnehin nur Schwierigkeiten machten. Verstand, Vernunft und Intelligenz hätten ihren Sitz doch aber im Gehirn. Der Versuch, den Menschen auf sein Gehirn zu reduzieren, hat unter Digital-Freaks und einigen Philosophen die beliebte und viel diskutierte Vorstellung entstehen lassen, ein Mensch könne als »Brain in the Vat« leben, als ein in einer Nährflüssigkeit in einem Lagertank schwimmendes Gehirn.9 Die Verachtung des natürlichen biologischen Körpers ist ein Wesenselement der digitalen Mystik (siehe Kapitel 1 und 4), die auch in diesem Punkt das Mittelalter wiederholt. Die Aufklärung, vor allem die Renaissance als ihr Vorläufer, war – neben vielem Weiteren – auch die Wiederentdeckung des natürlichen, unverstellten Körpers. Anders als Maschinen mit KI brauchen Menschen, um ihre biologischen Funktionen, auch um ihre Denkfähigkeit zu erhalten, eine kontinuierlich präsente äußere Realität. Demgegenüber können Maschinen jahrelang in fensterlosen dunklen Räumen arbeiten.10 Menschen brauchen, um psychisch und körperlich gesund zu bleiben, die Präsenz anderer Menschen. Ganz anders Computer mit KI: Sie brauchen, um ihren Dienst zu tun, keine anderen KI-Maschinen. Künstliche Intelligenzen brauchen, um ihre Funktionen aufrechtzuerhalten, keine Beachtung oder Wertschätzung. Sie verändern aufgrund der Präsenz anderer KI-Maschinen auch nicht ihren eigenen inneren materiellen Zustand. Menschen dagegen können ohne Mitmenschen nicht existieren, außerdem erleben sie durch die pure Präsenz anderer Menschen messbare Veränderungen von biologischen Funktionen. KI-Maschinen zeigen keine Störung ihrer Funktion, wenn eine andere Maschine die Realität systematisch anders wahrnimmt als sie selbst. Menschen dagegen kann es den Verstand kosten und in den Wahnsinn treiben, wenn Mitmenschen wesentliche Merkmale der Realität fantasieren oder verleugnen. KI-Maschinen können, wenn sie entsprechend programmiert sind, behaupten, sie hätten Gefühle, und als Roboter die entsprechenden körpersprachlichen Zeichen simulieren.11 Sie kennen aber keine intrinsische Einsamkeit, keinen intrinsischen Schmerz, kein Weinen, keine intrinsische Freude und keine intrinsische Angst.12 Menschen dagegen werden mit allen genannten Gefühlen bereits geboren, sie bringen sie mit, ohne dass sie ihnen antrainiert werden mussten.13 Der Körper als sozialer Akteur: Neuronale Resonanz und biologische Selbstveränderung Das Welt-Interesse des Menschen ist auf eine Kontaktaufnahme zwischen Körper und äußerer Realität gerichtet. Die Kontaktaufnahme zwischen Körper und äußerer Realität unterscheidet sich wesentlich von den Interaktionen zwischen einer Maschine und ihrer Umgebung. »Die Realität« am Beginn des menschlichen Lebens sind die Bezugspersonen. Auf diese ist das intrinsische, spontane Welt-Interesse des Säuglings zunächst ganz ausgerichtet. Der Säugling weitet dieses Interesse etwas später auf andere Menschen und auf die natürliche Umwelt aus. Welt-Interesse begleitet den Menschen lebenslang. Das Erlöschen von Welt-Interesse ist ein Krankheitszeichen oder ein Vorzeichen des Todes. Bei der Kontaktaufnahme zwischen dem Körper des Kindes und seiner Bezugsperson kommt es zwischen beiden zu ständig wiederholten, sich spontan einstellenden und sich nach kurzer Zeit ebenso spontan wieder auflösenden neuronalen Resonanzen, ohne dass die Beteiligten dies beabsichtigen. Dieses zur intrinsischen Ausstattung des Menschen gehörende Phänomen der Resonanzfähigkeit können Computer nur simulieren, allerdings auch das nur, wenn sie entsprechend programmiert oder trainiert wurden. Eine weitere Besonderheit der Begegnung zwischen dem Körper des Kindes und seiner Bezugsperson ist, dass die Eindrücke, die mit jeder zwischenmenschlichen Kontaktaufnahme verbundenen sind, den materiellen, biologischen Zustand des Kindes verändern, einschließlich der Aktivitäten von Genen. Auch dies geschieht ohne jede Intention. Neuronale Resonanz und biologische Selbstveränderung durch soziale Erfahrungen begleiten den Menschen lebenslang. Beim Kind spielen beide Phänomene eine besondere Rolle, da sie seine körperliche und kognitive Entwicklung beeinflussen. Mitmenschen bleiben lebenslang der wichtigste Aspekt der »äußeren Realität« des Menschen. Auch die Natur kann im Menschen Resonanzen und biologische Selbstveränderungen auslösen.14 Beide Potenziale, die Fähigkeit zur Resonanz und zur biologischen Selbstveränderung, sind im Menschen natürlich angelegt. Computer können diese Phänomene höchstens mit entsprechenden Programmen oder Trainings simulieren. Körper und Gehirn sind der Sitz der Gefühle und des Verstandes. Gefühle sind spontan auftretende Indikatoren unserer körperlichen Befindlichkeit. Beim Menschen bildet sich jedes Gefühl, wie auch bildgebende Verfahren zeigen können, im gesamten Körper ab.15 Gefühle sind also nicht nur »Kopfsache«, sondern finden immer in beiden statt, im Gehirn und im Körper. Gefühle spiegeln nicht nur wider, was uns widerfahren ist, sie können ihrerseits auf unseren Körper zurückwirken. Gefühle sind Ausdruck der...


Bauer, Joachim
Prof. Dr. med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt und Psychotherapeut. Nach erfolgreichen Jahren an der Universität Freiburg lehrt und arbeitet er heute in Berlin. Für seine Forschungsarbeiten erhielt er den renommierten Organon-Preis. Er veröffentlichte zahlreiche Sachbücher, u. a. »Warum ich fühle, was du fühlst«. Zuletzt erschienen bei Blessing/Heyne der SPIEGEL-Bestseller »Selbststeuerung – Die Wiederentdeckung des freien Willens« (2015), »Wie wir werden, wer wir sind – Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz« (2019) und »Fühlen, was die Welt fühlt« (2020).


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