Bechtolsheim | Stauffenberg. Folgen | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Bechtolsheim Stauffenberg. Folgen

Zwölf Begegnungen mit der Geschichte

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-451-82246-9
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Nach dem Erfolg ihres Buches "Stauffenberg – mein Großvater war kein Attentäter" erhielt Sophie von Bechtolsheim zahlreiche Briefe und E-Mails, in denen ihr Menschen von sich und ihren Familien erzählten: von den Schuldgefühlen angesichts der eigenen Begeisterung für Hitler, von den Erlebnissen während des Nationalsozialismus und in der Zeit danach und wie diese Zeit bis heute prägende Wirkung in den Familien entfaltet.In ihrem neuen Buch begegnet Sophie von Bechtolsheim Menschen, die ihr von der Prägekraft der Geschichte erzählen und von den Fragen, die uns alle beschäftigen: Aus welchen Motiven handeln wir? Welche äußeren Umstände sind entscheidend? Wie viel Freiheit hat der Einzelne bei der Bestimmung seines Lebens?So entstehen grandiose Familiengeschichten der vergangenen knapp 100 Jahre.
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„Die Geschehnisse wirken weiter.
Es ist nie vorbei“
Niko
Der Rucksack ist nicht nur ein Sinnbild für das persönliche geschichtliche Erbe, sondern manchmal auch ein ganz reales Gepäckstück. So ist es bei Niko. Den Rucksack, mit dem er sich als Neunjähriger auf eine jahrelange Flucht begeben musste, trägt er bis heute.   Niko, heute 85 Jahre alt, ein in seiner Fachrichtung anerkannter Naturwissenschaftler, gibt seinen Rucksack seit Jahrzehnten nicht aus der Hand. Er hatte ihn, grau, zerschlissen, mit dünnen Lederriemen, sein ganzes Leben immer bei sich. Ob in den Ferien, am Schreibtisch oder im Labor, ob europaweit auf wissenschaftlichen Tagungen oder während verschiedenster wissenschaftlicher Vorträge, ob im Restaurant, auf dem Fahrrad, im Konzert, im Supermarkt oder im Krankenhaus. In diesem Rucksack verwahrt Niko alles Wichtige: Lebensmittel, Arzneimittel, Dokumente, Forschungsarbeiten, die Doktorarbeit und die Habilitationsschrift. Niko hatte als Kind erfahren, wie schnell der Mensch auf seine bloße Existenz zurückgeworfen werden kann, dass zum Überleben reichen muss, was man mit sich zu tragen in der Lage ist. Seine Frau kann ihren Mann bis zu einem gewissen Maß verstehen. Sie hatte selbst als Kleinkind im Juli 1945 die Vertreibung aus ihrem Zuhause im nordböhmischen Neugarten erlebt. Sie kann sich an die verstörende Ohnmacht der Erwachsenen an diesem Tag erinnern. Daran, wie sie selbst mit Mutter und Schwester, wie alle sudetendeutschen Bewohner des Ortes unter Gewaltandrohung gezwungen wurden, innerhalb weniger Stunden aufzubrechen. Der erschöpfende Fußmarsch und die Übergriffe der begleitenden Milizen sind ihr bis heute gegenwärtig. Sie besitzt noch das Ausweisungsdekret des tschechischen Nationalausschusses in Neugarten, das die Konfiszierung des gesamten Eigentums und das Datum der Vertreibung dokumentiert. Sie beschreibt dieses Ereignis als „Bruch“, als „Abgrund“, der ihr „böhmisches Lebensstümpfchen“ von ihr selbst und ihrem Leben danach abtrennte. Nachdem sie viele Jahre regelmäßig ihre – wie sie sie nennt – „Kleinkinderheimat“ und die Heimatorte ihrer Vorfahren im heutigen Tschechien besuchte, konnte sich eine Brücke über den empfundenen Abgrund bilden. Sie beschäftigte sich intensiv mit ihrer eigenen Herkunft, ihrer Identität, ebenso mit der Geschichte Böhmens. Die Kindheit, die von der gewaltsamen Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt war, bleibt präsent. In letzter Zeit sprechen Niko und seine Frau viel über die Entwicklungen, die zum NS-Regime führten, über die Zeit des Krieges und die schweren Zeiten danach. Beide haben die grausamen Folgen nationalistischer Ideologie erlebt. Sie sehen mit Besorgnis das Erstarken nationalistischer Tendenzen in Europa und des Rechtsradikalismus in Deutschland und fragen sich immer wieder: „Was hat unsere Gesellschaft eigentlich aus der Geschichte gelernt? Wie werden wir heute unserer Verantwortung gerecht?“   Nach Jahrzehnten will Niko zum ersten Mal seine eigene Geschichte schriftlich niederlegen. Während die Coronakrise das Ehepaar in die Abgeschiedenheit bannt, nutzt er die Zeit und diktiert die Fakten in fast atemlosem Stakkato: Die Mutter, seine hochschwangere Cousine, die fünfjährige Schwester und der neunjährige Niko brachen, kurz nach Weihnachten des Jahres 1944, aus dem oberschlesischen Gleiwitz, dem heute polnischen Gliwice, auf. Die russische Front war näher gerückt, und vor allem die Frauen fürchteten die Soldaten, denen ein übler Ruf vorauseilte. Die Mutter hatte vorgesorgt und längst das Nötigste – Personalausweis, Geld, Nahrungsmittel – eingepackt, auch in Nikos Rucksack. Als sich mitten in der Nacht der Schlüssel im Schloss der Haustür drehte, schien der Abschied nur vorübergehend zu sein. Bis zur Rückkehr wollte die Familie bei Verwandten in Böhmen Unterschlupf finden. Was die vier nicht ahnen konnten: Eine jahrelange Odyssee begann. Sie nahm ihren Anfang in einem überladenen, von sowjetischen Stellungen beschossenen Zug. Erste Station war ein abgelegener, mit Flüchtlingen überfüllter Berggasthof im Heuscheuergebirge, dem heutigen Góry Stolowe. Den knappen Proviant ergänzte Niko damals mit drei Forellen, die er verbotenerweise durch ein Eisloch aus einem zugefrorenen Teich gefischt hatte. Es war ein Festessen, „das letzte in Schlesien“, sagt Niko. Die Versorgung „seiner Frauen“ sah er seitdem als eine seiner Aufgaben an. Nach Tagen in den verschneiten Bergen ging es weiter: Kälte, Hunger, Durst, Müdigkeit, Warten und die Angst, die Cousine könnte im Nirgendwo niederkommen. Die nächste Station, der ersehnte Unterschlupf bei den Verwandten im böhmischen Städtchen Deutsch Kralup (Kralupy u Chomutova), schien Sicherheit und ein gewisses Maß an Normalität zu bieten. Hier kam das Kind der Cousine zur Welt. Niko besorgte dem kleinen Neffen täglich frische Ziegenmilch. Hier ging Niko sogar zur Schule, wo er noch in den letzten Wochen vor Kriegsende über Hitlers politischen Aufstieg unterrichtet wurde und vom „siegreichen Deutschen Reich“ hörte. Zur selben Zeit standen Lazarettzüge im Bahnhof, beladen mit verwundeten Soldaten. Die Mutter durfte nicht erfahren, dass sich Niko dort herumtrieb. Er wurde Zeuge, als die Waggons, gekennzeichnet mit großen, weithin sichtbaren roten Kreuzen, von Tieffliegern bombardiert wurden. Die Schreie der Menschen, die aus den verschlossenen Waggons drangen, hat Niko heute noch im Ohr. Mit dem Kriegsende im Mai 1945 wurden die deutschen Verwaltungen durch tschechische Nationalausschüsse ersetzt. Berichte über Gräueltaten, Todesurteile und Vertreibungen der deutschen Bevölkerung machten die Runde. Eines Tages wurde auch Nikos Familie von tschechischen Milizen abgeholt und zur Zwangsarbeit auf ein Landgut im innerböhmischen Kolec verschleppt. Dort wurden die fünf in einer Steinbaracke untergebracht, ausgestattet mit Kohleherd, Tisch, Bank, zwei Stühlen und vier Strohsäcken. Die Cousine hielt die Unterkunft und die Wäsche sauber, sie versorgte ihr Kind und Nikos kleine Schwester. Die Mutter, einst als Direktrice in einem Geschäft für Bekleidung, Stoffe und Modeberatung tätig, musste nun Kühe melken, eine umfangreiche Hühnerschar und eine Schweineherde versorgen. Sie zweigte stets etwas von den Kartoffeln des Schweinefutters ab, als Nahrung für sich selbst und ihren Sohn. Nikos Aufgabe war, die Mutter zu unterstützen und die Schweine zu hüten. Er lernte schnell, wo er für seine Familie Essbares auftreiben konnte. Er organisierte Karotten, Futterrüben, Eier und einmal aus der Speisekammer des Bauern sogar eine Speckseite – ein besonders kostbares Nahrungsmittel bei all den kräftezehrenden Entbehrungen. Mut und schlechtes Gewissen hielten sich die Waage. Er fand sich aber doch im Recht dazu und war stolz, einen Beitrag zum Überleben geleistet zu haben. „Nur die Kuhmilch für das Baby war offiziell“, sagt Niko. „Seine Frauen“ waren ohne Zuversicht, von dort fortzukommen. Niko aber fand, dass es ihnen doch ganz gut ging, auch wenn ihn manch ein Junge aus dem Dorf als „deutschen Hund“ beschimpfte und Schläge verpasste. Trotz der Feindseligkeit, mit der viele Tschechen den Deutschen begegneten, gab es in Kolec auch Menschen, die den Zwangsarbeitern gegenüber freundlich und hilfsbereit auftraten. Dazu gehörte das ortsansässige Förster-Ehepaar. Niko durfte aus ihrem Brunnen Wasser schöpfen, eine für ihn ungewohnte Arbeit. „Fließendes Wasser aus der Leitung: Diese Zeiten waren vorbei“, sagt Niko. Mehrmals am Tag senkte er den leeren Zinkeimer in den Brunnen, um den vollen Eimer heimzutragen. „Heim?“, die Frage schwebt im Raum. An Weihnachten des Jahres 1945 beschenkte die Frau des ortsansässigen Försters die Familie mit einem Streuselkuchen. Ein tschechischer Kuchen für eine deutsche Familie, was für eine ungeahnte Freude, die Niko nicht vergisst. Ebenso unvergesslich ist Niko die halbe Gans mit Klößen, die die Nachbarin zum Weihnachtsfest brachte. Das Gericht war Nikos Lohn für sein Schweigen. Er war Zeuge der verbotenen Gans-Beschaffung geworden. Zu Beginn des Jahres 1946 musste die Familie erneut umziehen, diesmal ins Arbeitslager Dubí bei Kladno. In Dubí hatte zwischen 1942 und 1943 ein Außenlager des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Theresienstadt existiert. Dort waren überwiegend jüdische Gefangene untergebracht worden, die im Bergwerk arbeiten mussten. Dubí, wie auch weitere bestehende Konzentrationslager der nationalsozialistischen Besatzer, wurde nach Kriegsende durch die tschechoslowakische Regierung genutzt. Untersuchungshäftlinge, Kriegsgefangene, Flüchtlinge wie Nikos Familie und vor allem Sudetendeutsche, die nach dem Potsdamer Abkommen am 2. August 1945 – in dem die Zwangsumsiedlung von Millionen Deutschen beschlossen wurde – noch im Land waren, wurden in Internierungs-, Sammel- und Arbeitslager gesperrt. Unter katastrophalen hygienischen Bedingungen hausten die Menschen in Baracken; oft besaßen sie nicht mehr als die zerschlissene Kleidung, die sie am Leib trugen. Viele starben an Hunger, Kälte und Krankheiten. Es ist bis heute unklar, wie viele tausend Menschen ihr Leben nach 1945 in den tschechischen Lagern fristeten und wie viele ihr Leben dort verloren. „Die Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen und alle anderen Verbrechen in diesem Zusammenhang stellen ein tragisches Ende dar. Das Ende eines gemeinsamen, jahrhundertelangen Weges zweier Volksgruppen. Sie sind das Schlusskapitel eines langen...


Sophie von Bechtolsheim, geb. 1968, Historikerin und Kommunikationswissenschaftlerin; die Enkelin von Claus Schenk Graf von Stauffenberg lebt und arbeitet als Mediatorin in Oberbayern und setzt sich zudem für den Täter-Opfer-Ausgleich ein. Sie ist verheiratet und hat vier Söhne. Sophie von Bechtolsheim ist stellvertretende Vorsitzende des Kuratoriums der Stiftung 20. Juli 1944.


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