Beck / Kühn | Zur Intervention | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

Beck / Kühn Zur Intervention

Afghanistan und die Folgen

E-Book, Deutsch, 168 Seiten

ISBN: 978-3-86854-497-8
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Im Sommer 2021 verließen die NATO-Truppen nach fast zwei Jahrzehnten Afghanistan. Am 15. August desselben Jahres übernahmen die Taliban die Macht. Seitdem wird u¨ber die Frage diskutiert, ob und inwiefern das internationale humanitäre, politische und milita¨rische Engagement in Afghanistan gescheitert ist.

Dieses Buch zieht Bilanz. Es versammelt Beitra¨ge deutschsprachiger Sozial- und Rechtswissenschaftler:innen, die in den letzten zwei Jahrzehnten über und in Afghanistan geforscht haben. Es stellt auf den Pru¨fstand, welches Wissen der Intervention zugrunde lag und welche Vorstellungen gegenwärtige Diskussionen u¨ber deren Scheitern prägen.

Die Beiträge verdeutlichen, mit welch vielfältigen und oft widersprüchlichen Ansprüchen und Motivationen die Interventionsakteure agierten. Sie zeichnen nach, wie Afghaninnen und Afghanen die Entwicklungen erlebten. Und sie heben die Bedeutung der Afghanistan-Einsätze innerhalb der intervenierenden Gesellschaften hervor. So wird deutlich, dass die Frage nach der Bilanz vor allem eine Frage der Perspektive ist und das Vermächtnis der Intervention u¨ber deren militärisches Scheitern hinausgeht.

Mit Beiträgen u. a. von Gerd Hankel, Katja Mielke, Philipp Münch, Conrad Schetter, Florian Weigand
Beck / Kühn Zur Intervention jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


Teresa Koloma Beck und Florian P. Kühn
Was vom Scheitern übrig blieb. Das Ende der Intervention in Afghanistan

Florian P. Kühn
Der Kollaps der Potemkin'schen Staatlichkeit. Wie der Westen das Interesse an Afghanistan verlor

Philipp Münch
Aufstandsbekämpfung, Staatsaufbau und das Scheitern marktorientierter Intervention am Hindukusch

Gerd Hankel
Die gute Idee von einer internationalen Schutzverantwortung, ihr betrüblicher aktueller Stand und ihre dunkle Zukunft

Florian Weigand
Gescheitert – aber womit? Legitimität und Wissen in Afghanistan

Conrad Schetter und Katja Mielke
Die Taliban – Diagnose eines Erfolgs

Teresa Koloma Beck
Paradoxien des Interventionismus. Zur Sozialen Logik der Intervention

Florian P. Kühn und Teresa Koloma Beck
Wer sagt es sei ein Scheitern? Zu den politischen und sozialen Gründen begrenzter Beratungsfähigkeit von Wissenschaft und Politik

Abkürzungsverzeichnis
Autorinnen und Autoren
Lektüreempfehlungen von Autorinnen und Autoren
Literaturverzeichnis
Danksagung


Teresa Koloma Beck und Florian P. Kühn Was vom Scheitern übrig blieb. Das Ende der Intervention in Afghanistan
Im April 2021 kündigte der US-amerikanische Präsident Joe Biden einen Abzug aller US-amerikanischen Streitkräfte aus Afghanistan bis zum September desselben Jahres an. Zu diesem Zeitpunkt war er knapp vier Monate im Amt, und in Afghanistan waren im Rahmen der NATO-Mission Resolute Support noch rund 10 000 ausländische Soldatinnen und Soldaten im Einsatz. Nach den US-Streitkräften stellte die Bundeswehr das zweitgrößte Truppenkontingent. Mit seiner Ankündigung setzte Biden ein Projekt seines Amtsvorgängers Donald Trump fort: Dieser hatte im Februar 2020 das »Agreement for Bringing Peace to Afghanistan« unterzeichnet. Mehr als anderthalb Jahre lang hatte die Regierung Trumps in Doha mit den Taliban über dieses Abkommen verhandelt, von dem die afghanische Regierung ausgeschlossen blieb. Bidens Ankündigung war nicht die erste ihrer Art. Bereits die Obama-Regierung (2009–2017) hatte sich vorgenommen, die Intervention in Afghanistan zu beenden, am Ende setzte sie jedoch nur eine signifikante Verkleinerung der Mission um. Barack Obama entschied sich, entgegen der Auffassung seines damaligen Vizepräsidenten Biden, den Risikoargumenten der militärischen Berater zu folgen und den Abzug nochmals zu vertagen. Eine Übergangsfrist von 2014–2024 sollte den Abzug vorbereiten und Afghanistan militärisch und sicherheitspolitisch auf eigene Füße stellen. Diesen Prozess beschleunigte Trumps Abzugsvereinbarung, und Präsident Biden entschied, sich daran zu halten. Der Abzug der Truppen und die Evakuierung von Botschaftsangehörigen und anderen Zivilistinnen und Zivilisten begann Anfang Mai 2021, drei Wochen nach Bidens Ankündigung; Ende August startete die letzte US-Militärmaschine vom Flughafen Kabul. Für die Bundeswehr war der Einsatz bereits zwei Monate zuvor zu Ende gegangen. Mit den Streitkräften verließen auch die meisten noch verbliebenen zivilen Hilfsorganisationen sowie ein Großteil der internationalen Organisationen das Land. Noch während die Hilfsorganisationen ihren Abzug organisierten, übernahmen die Taliban Mitte August die Regierung in der Hauptstadt Kabul. Präsident Ashraf Ghani, der das Land mit Unterstützung der internationalen Geber geführt hatte, floh. Angesichts dieser Entwicklungen versuchten zahlreiche Afghaninnen und Afghanen, das Land zu verlassen, insbesondere diejenigen, die in zivilgesellschaftlichen Organisationen oder Behörden aktiv an den Versuchen der Demokratisierung des Landes mitgewirkt oder direkt mit den Interventionskräften zusammengearbeitet hatten. Sie wollten nicht nur den bevorstehenden gesellschaftlichen Veränderungen entkommen, sondern fürchteten auch, zum Ziel personalisierter Repressions- und Vergeltungsmaßnahmen zu werden. Während sich die Machtübernahme der Taliban in weiten Teilen des Landes mehr oder weniger geräuschlos vollzog, führten Bilder und Videos von dramatischen Szenen am Flughafen Kabul vor Augen, was der Truppenabzug für jene bedeutete, die ihr berufliches und / oder persönliches Leben in den Dienst des Interventionsprojekts gestellt hatten. Für die breite Öffentlichkeit in Deutschland und andere intervenierende Staaten kam der schnelle Zusammenbruch der afghanischen Republik und die Machtübernahme der Taliban überraschend. Auch im politischen Feld war die Überforderung kaum zu übersehen. Neben strategischen Fragen danach, wie in Zukunft mit einer Taliban-geführten afghanischen Regierung zusammengearbeitet werden könnte und sollte, sorgte zunächst vor allem der Umgang mit sogenannten Ortskräften für Kontroversen und öffentlichen Druck. Nicht nur in Deutschland lösten diese Entwicklungen heftige Diskussionen aus. Dabei standen auch sehr grundsätzliche Fragen im Raum: nach den Prämissen des Einsatzes, nach seiner Bilanz und auch nach der Legitimität und Effektivität humanitärer Interventionspolitik überhaupt. Die Einsicht, dass diese Politik wenig erfolgreich gewesen war, hatte sich bereits in den Jahren zuvor festgesetzt. Doch nun galt der Einsatz in Afghanistan vielen als endgültig gescheitert. Ähnlich wie in anderen Krisenszenarien der Gegenwart zeigte sich dabei einmal mehr eine Distanz zwischen Politik und Forschung. Während in öffentlichen Debatten Rhetoriken der Überraschung und Überwältigung durch unerwartete Ereignisse im Vordergrund standen, sahen Forschende in den Area Studies, der Sozialanthropologie oder der Friedensforschung, in der Politikwissenschaft oder der Soziologie, wie sich vor ihren Augen Entwicklungen entfalteten, auf deren Gefahren sie seit Jahren immer wieder hingewiesen hatten. Das Ende der Intervention in Afghanistan wirft somit nicht nur Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Interventionspolitik auf, sondern auch nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen versuchen die Autorinnen und Autoren dieses Buches, aus sozialwissenschaftlicher Perspektive Bilanz zu ziehen. Ausgangspunkt ist das Motiv des Scheiterns, das die öffentlichen Debatten seit der erneuten Machtübernahme der Taliban beherrscht. Die Beiträge gehen der Frage nach, wer hier eigentlich gescheitert ist und womit, sie rekonstruieren, wie es dazu kam. Doch nehmen sie die Rhetorik des Scheiterns auch kritisch in den Blick und zeichnen produktive Dynamiken nach, die durch sie allzu leicht verdeckt werden. Dabei schauen die Forschenden aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven: Politikwissenschaft, Area Studies, Sozialanthropologie, Rechtswissenschaft und Soziologie. Die Beitragenden haben über viele Jahre hinweg intensiv zu und auch in Afghanistan geforscht. Diese multidisziplinäre, in Feldforschung gründende Perspektive erlaubt es, neben den politischen Kalkülen der Intervention auch ihre normativen Grundlagen und ihre soziale Dynamik in den Blick zu nehmen. Zwischen Humanitarismus und Sicherheitspolitik: internationale militärische Interventionen
Der militärisch abgesicherte Interventionismus wurde nach dem Ende des Kalten Krieges zum internationalen politischen Kriseninstrument. Normativ folgte die Idee, Gräueltaten mit militärischen Mitteln zu verhindern, einer Verpflichtung auf Menschenrechte und das Völkerrecht – zu dem sie aber gleichzeitig auch im Widerspruch stand, weil militärisches Intervenieren der Souveränität und zumindest auch im Prinzip dem Gewaltverbot zuwiderläuft. Politisch war es deshalb entscheidend, diese Missionen vom UN-Sicherheitsrat mandatieren zu lassen. Die Zahl der in diesem Gremium diesbezüglich verabschiedeten Resolutionen stieg ab 1990 massiv an, nicht zuletzt deshalb, weil solche Mandate nicht mehr durch ein Veto der Sowjetunion verhindert wurden. Gleichwohl zeigte spätestens die Intervention im Kosovo 1999, bei der die NATO – zunächst ohne UN-Mandat – Serbien unter Slobodan Miloševic am Völkermord zu hindern versprach, dass solche Interventionen eigenen Interessen folgten. Russland, das sich als Schutzmacht Serbiens verstand, ermöglichte zwar die nachträgliche Mandatierung der Kosovomission, verstand aber die Politik des Interventionismus als vorwiegend machtpolitisches Instrument, um eigene Vorstellungen der internationalen Ordnung durchzusetzen. Ab 2001 trugen die terroristischen Anschläge auf die USA dazu bei, dass diese Praxis weiter eskalierte. Die USA beriefen sich auf das Selbstverteidigungsrecht, und ihre NATO-Partnerländer riefen das erste Mal in der Geschichte den Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags aus, in dem die politische Beistandspflicht festgehalten ist. Die Intervention in Afghanistan wurde also primär als sicherheitspolitische Intervention begonnen, die das Ziel hatte, die Hinterleute der Anschläge zu fassen oder zu töten und die Taliban, die ohnehin als illegitime Regierung galten und sich geweigert hatten, Osama Bin Laden auszuliefern, von der Macht zu vertreiben. Aus einer Reihe von humanitär begründeten Interventionen (Somalia, Ruanda, Balkankriege insbesondere Bosnien und Herzegowina und Kosovo) fällt also Afghanistan insofern heraus, als zu Beginn der Mission humanitäre Gründe explizit nicht genannt wurden. Der Eindruck von 9/11 war so stark, dass niemand der sicherheitspolitischen Notwendigkeit widersprach, das politisch wie sozial, ökonomisch wie militärisch im internationalen Vergleich weit abgeschlagene Afghanistan anzugreifen. Im Lauf der Intervention wurde dann die Annahme, dass Sicherheit und Entwicklung einander bedingen, leitend: Um stabile Verhältnisse nach der Verfolgung von Terroristen und Taliban zu ermöglichen, müsste eine Regierung auf Basis einer Verfassung etabliert werden, die Gewaltenteilung und individuelle Rechte garantierte. Sich dann einstellende Wohlfahrtsgewinne wie bessere Ausbildung, Gesundheitsversorgung und eine aktive Regierung würden dann deren Legitimität unterstützen. Diese Vorstellung war schon in Bosnien und Herzegowina leitend gewesen, erschien aber noch zwingender für Afghanistan, weil der Eindruck vermieden werden sollte, die...


Teresa Koloma Beck ist Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Gesellschaftsanalyse und sozialer Wandel an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Sie ist externes Mitglied der Forschungsgruppe Makrogewalt des Hamburger Instituts für Sozialforschung.
Florian Kühn lehrt an der School of Global Studies, Universität Göteborg, und ist wissenschaftlicher Koordinator des BMBF-geförderten Netzwerks bayerischer Friedensforschung »Deutungskämpfe im Übergang« an der Universität Bayreuth. Von 2013 bis 2022 war er Co-Herausgeber des Journal of Intervention and Statebuilding.


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.